28. Dezember 2017

King of the Cs

Wolf C. Hartwig 1919 / 2017 

Fünf Lieblingsproduktionen:

• Grenzbereiche der Wissenschaft: »Die Nackte und der Satan« (Victor Vicas, 1959)

• Hafen im Nebel: »Der Satan lockt mit Liebe« (Rudolf Jugert, 1960)

• Geheimnisse Ostasiens: »Weiße Fracht für Hongkong« (Helmuth Ashley, 1964)

• Es war einmal in Hamburg: »Zinksärge für die Goldjungen« (Jürgen Roland, 1973)

• Der unheimliche Ort Berlin: »Kalt wie Eis« (Carl Schenkel, 1981)

3. Dezember 2017

Schwarz sehen (4)

BRD noir – drei Filme aus der frühen Bundesrepublik

Das bundesdeutsche Nachkriegskino kannte keinen Film noir im Hollywoodschen Sinne, gleichwohl gab es Bezüge, Verwandtschaften, Einflüsse. Remigranten wie Peter Lorre (»Der Verlorene«, 1951), Robert Siodmak (»Nachts, wenn der Teufel kam«, 1957) oder Fritz Lang (»Die 1000 Augen des Dr. Mabuse«, 1960) nahmen Bezug auf im Exil geschaffene Werke (die wiederum an ihre in der alten Heimat entstandenen Arbeiten anknüpften), Daheimgebliebene wie Helmut Käutner (»Epilog«, 1950), Rudolf Jugert (»Nachts auf den Straßen«, 1952) oder Alfred Weidenmann (»Alibi«, 1955) verwiesen auf amerikanische Vorbilder. Das bundesdeutsche Noir-Kino (falls es etwas Derartiges je gegeben haben sollte) kam indes ohne Gangster, Detektive und fatale Frauen aus – bemerkenswert ist vielmehr seine Nähe zum Problemfilm, dem neben dem Heimatfilm vielleicht charakteristischsten Genre der 1950er Jahre.


1954 | »Angst« von Roberto Rossellini

»Ich kann so nicht mehr weiter.« Ingrid Bergman spielt Irene Wagner: Direktorin eines Pharmaunternehmens, das sie geschickt durch Krieg und Nachkrieg führte, Gattin des gesetzten Chemikers Albert (ungerührt: Mathias Wieman), Mutter zweier Kinder, Geliebte eines blonden Komponisten (aalglatt: Kurt Kreuger) … Rossellini beginnt seine Adaption der Novelle von Stefan Zweig mit der langen Fahrt eines Mercedes-Cabriolets durch das abendliche München: Marienplatz und Kaufingerstraße, Asphalt und Neonschriften, Menschenmengen und Straßenbahnen – die Geschäftigkeit des Wirtschaftswunders wird von der thrilleresk erregten Musik unheilvoll aufgeladen. Es folgen ein Zank zwischen Irene und ihrem vorwurfsvollen Liebhaber und kurz darauf, vor dem stattlichen Anwesen der Fabrikantin, der unvermittelte Auftritt einer jungen Frau (offensiv: Renate Mannhardt), die Irene beschuldigt, ihr den Freund abspenstig gemacht zu haben, und sie, unter der Androhung, die Affäre auffliegen zu lassen, im weiteren Verlauf der Erzählung um immer größere Summen erpreßt. Rossellini beobachtet die scheinbar unausweichlich fortschreitende Verstrickung seiner Protagonistin (und Noch-Ehefrau) in ein Gespinst aus Schuld und Lüge, ihre zunehmende Nervosität, ihre sich zur Panik steigernde Angst, ihre suizidale Verzweiflung mit derselben stoischen Nüchternheit, die Albert (der stets »an den Grund der Dinge gehen« will), den mit allerlei giftigen Substanzen behandelten Versuchstieren im Laboratorium angedeihen läßt. Ein Film wie ein riskantes wissenschaftliches Experiment – akademisch-kühl und spannungsreich-provokant zugleich.

1954 | »Die goldene Pest« von John Brahm

Ein Dorf in »stampfender, rollender Zeit«: Dossental (realiter: Baumholder bei Kaiserslautern) erlebt infolge des Ausbaus einer US-Army-Garnison Modernisierung, Kapitalisierung, Amerikanisierung im Schweinsgalopp. Die Felder der Umgebung werden zum Truppenübungsplatz, Wohnblocks für die Besatzungssoldaten schießen wie Pilze aus dem Boden, erlebnishungrige GIs bevölkern die Gemeinde, windige Geschäftemacher versprechen der besorgt-begierigen Bevölkerung allgemeinen Aufschwung und hohen Gewinn. Eine alte Dame (»Wir arbeiten hier alle wie narrisch«) verwandelt ihr Kolonialwarengeschäft in eine Souvenirbude, in Bauernhäusern etablieren sich Stundenhotels, alkoholische Mixgetränke und Coca Cola fließen in Strömen, ein mysteriöser Unternehmer mit Pelzkragen, Menjoubärtchen und Sonnenbrille (»Nennen Sie mich nicht Chef.« – »Jawohl, Herr Direktor.«) läßt mitten im Ort ein Zelt aufstellen, wo allabendlich Travestie, Schlammcatchen und »Dschäß« (»Suddenly, I feel so happy.«) auf dem Programm stehen. Die radikalen gesellschaftlichen Veränderungen werden mit den Augen eines Heimkehrers (unbestechlich: Ivan Desny) gesehen, der die Heimat nicht wiedererkennt: Korruption und Nepp sind die neuen Herren, der vormals beste Freund (fiebrig: Karlheinz Böhm) ist in Schiebereien und Drogenhandel verwickelt, nur die große Liebe von damals (lammfromm: Gertrud Kückelmann) erinnert noch an gute alten Zeiten. Regisseur John Brahm – aus Deutschland gebürtig, im Hollywooder Exil zum Spezialisten des Gothic Noir gereift – macht nicht begehrliche Nutznießer oder willige Mitläufer sondern anonyme Mächte für die Wohlstandsverwahrlosung verantwortlich. Schon der Titel des Films apostrophiert den Boom als eingeschleppte Krankheit (die mit einem reinigenden Feuer auszumerzen sei) – so bleibt die Analyse der Verhältnisse, bei aller Unterhaltsamkeit der Erzählung, entsprechend oberflächlich.

1957 | »Der gläserne Turm« von Harald Braun

»Merkwürdig, diese Mischung von Erfolg und Untergang.« Sie bilden ein explosives (oder eher implosives) Dreieck: der herrische Unternehmer Robert Fleming (O. E. Hasse), ein Mann, der hält, was er hat, seine hochsensible Gattin Katja (Lilli Palmer), eine Theaterschauspielerin, die dem Rampenlicht (nicht ganz freiwillig) den Rücken kehrte, der forsche Dramatiker John Lawrence (Peter van Eyck), der die labil-begnadete Aktrice aus dem komfortablen Ruhestand (≈ einem goldenen Käfig im obersten Stockwerk des höchsten Hauses von Berlin) zurück auf die Bühne (≈ in die Freiheit) locken will. Was wie ein fashionables Melodram beginnt, wandelt sich peu à peu zur dunklen Sittenbild mit abschließendem Gerichtsverfahren – zur Verhandlung bringen Harald Braun und seine Autoren (darunter Wolfgang Koeppen, einer der bedeutendsten bundesdeutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit) neben einem vermeintlichen Giftmordfall auch die Überholtheit gesellschaftlich zugeschriebener Geschlechterrollen, die Geistlosigkeit eines selbstbesoffenen Aufsteigertums, die (vage) Chance auf Emanzipation. Hauptschauplatz des Stückes um Macht und Schwäche, um Kunst und Konjunktur (aber auch um Liebe und Hoffnung) ist eine luxuriös ausstaffierte Dachetage, ein Exzeß aus Glas und Stuck, Marmor und Fell, Kunststoff und Velours, ein (von Walter Haag entworfener) faszinierender Alptraum des Gelsenkirchener Eklektizismus, wo die Spiegelung eines lodernden Kaminfeuers als eifersüchtig brennendes Herz erscheint. Wird die beschädigte Heldin imstande sein, dieses überspannt-menschenfeindliche Ambiente, halb Treibhaus, halb Kühlhalle, hinter sich zu lassen? »Wo soll sie hin: vorwärts oder zurück?« – die über allem schwebende, alles grundierende Frage findet schließlich eine recht mutlose Antwort: Katja Fleming nimmt einmal mehr den ihr zugewiesenen Platz ein.

5. November 2017

Schwarz sehen (3)

Drei Films noirs von John Brahm

John Brahm (eigentlich Hans Julius Abrahamson) wurde 1893 in Hamburg geboren. Seit Vater war Schauspieler, sein Onkel Otto Brahm leitete (als Vorgänger von Max Reinhardt) das Deutsche Theater in Berlin. John Brahm inszenierte in den 1920er Jahren an deutschen und österreichischen Bühnen, bevor er als Assistent zum Film wechselte. 1933 emigrierte er mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Dolly Haas, über Frankreich nach England, wo er als Filmregisseur debütierte. 1937 ging Brahm in die USA. In Hollywood arbeitete er zunächst erfolgreich für Columbia, später für 20th Century-Fox. Mit dem Niedergang des Studiosystems geriet Brahms Karriere ins Stocken. Er kehrte vorübergehend nach Europa zurück und wechselte Mitte der 1950er Jahre zum Fernsehen. Brahm, der als Spezialist für Mystery- und Thriller-Stoffe galt, drehte bis 1967 etwa 170 Serienepidosen, unter anderem für »The Twilight Zone«, »Alfred Hitchcock Presents«, »Naked City« und »The Man from U.N.C.L.E.«. Er starb 1982 in Malibu.


1944 | »The Lodger« (»Scotland Yard greift ein«)

»Mine, too, are the problems of life and death.« Seit dem Herbst des Jahres 1888, als bei Nacht und Nebel in kurzer Abfolge etwa ein halbes Dutzend Prostituierte aufgeschlitzt wurden, fasziniert der Fall des Londoner Serienmörders ›Jack the Ripper‹ Kriminologen ebensosehr wie Historiker, Künstler und nicht zuletzt eine lustvoll schaudernde weltweite Öffentlichkeit – zumal die nie geklärte Identität des Killers bis heute Anlaß zu immer neuen Spekulationen gibt. Nachdem bereits Alfred Hitchcock, noch zu Stummfilmzeiten, den um diese mythische Figur der Moderne kreisenden Roman »The Lodger« der britischen Autorin Marie Belloc Lowndes auf die Leinwand gebracht hatte, liefert auch John Brahm seine kinematographische Fantasie über die historischen Vorfälle. In der Verkörperung durch Laird Cregar erscheint der legendäre Gewaltverbrecher als kultivierter Koloß mit traurigen Augen und sanfter Stimme, der davon besessen ist, das Böse aus der Schönheit herauszuschneiden, und mit seinen blutigen Taten den unverwundenen Tod des innigst geliebten Bruders rächt. »It’s such lovely women as you who drag men down!« sagt Mr. Slade, wie sich der Ripper bei seiner gutmütigen Vermieterin vorgestellt hat, zu deren Nichte Kitty, einer attraktiven Sängerin (Merle Oberon), die den geheimnisvollen Hausgenossen mit ihren Reizen bestrickt. Brahms Version des Geschehens, von Lucien Ballard in expressivem Helldunkel fotografiert, bereichert die mit Motiven des Horrorfilms ausgestaltete Thrillerhandlung um eine melancholische Reflexion über die unstillbare Sehnsucht nach Reinheit und Frieden: »Have you ever held your face close to the water? Deep water is dark and restful and ... full of peace.«

1945 | »Hangover Square« (»Scotland Yards seltsamster Fall«)

»You must hear the concerto to the end.« Eine Geschichte von Musik und Feuer, das Schicksal einer gespaltenen Persönlichkeit: Wenn er dissonante Töne hört, wird der begabte junge Komponist George Harvey Bone (voluminös: Laird Cregar) zum absenten Killer. »All my life I’ve had black little moods«, bekennt Bone, in der unheimlichen Ahnung befangen, ein horrendes Doppelleben zu führen. »The mind is a delicate mechanism«, erklärt ihm der von George Sanders gespielte (überraschend einfühlsame) Polizeiarzt, »if a man upsets the normal balance between work and play ... the mind may rebel.« Hin und hergerissen zwischen der fordernd-fördernden (blonden) Tochter seines Mentors, die ihn mit sanftem Druck zur Fertigstellung eines Klavierkonzerts bewegt, und der berechnend-fatalen (brünetten) Tingeltangeldiseuse Netta (Linda Darnell), die ihm fortwährend sentimentale Songs ablistet, während sie anderen Männern nachsteigt, geht der schizophrene Musiker schließlich seiner selbst verloren ... Die von der Vorlage, einem Roman des Londoner Schriftstellers Patrick Hamilton, deutlich abweichende Adaption verlegt das Geschehen von »Hangover Square« aus der bedrückenden Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die pittoreske Welt der Jahrhundertwende. Vermittelst des kraftvollen Ausmalens viktorianischer Atmosphäre – Kutschen und Gaslicht, Vornehmheit und Getümmel, Abendgesellschaften und Volksvergnügen – wie auch durch die Besetzung desselben Darstellers in der (Haupt-)Rolle eines geisteskranken Serienmörders knüpft John Brahm unverblümt an den Vorgängerfilm »The Lodger« an. Vor allem dank Joseph LaShelles delikater Chiaroscuro-Bilder, in denen beständig die Flammen des Wahnsinns auflodern, und Bernard Herrmanns furiosem »Concerto Macabre«, das die Psychose des Protagonisten klanglich erfahrbar macht, verschmelzen Melodram und Psychothriller zu einer aufregend-bewegenden Einheit.

1947 | »The Brasher Doubloon«

Philip Marlowe wird nach Pasadena in das Haus der reichen Witwe Murdock gerufen und beauftragt, eine gestohlene Goldmünze wiederzubeschaffen. Die Suche nach der ›Brasher Doubloon‹, einem ebenso seltenen wie wertvollen Stück aus der Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, das seinen zahlreichen Besitzern nichts anderes als Unglück brachte, konfrontiert den hartgesottenen Privatdetektiv, wie auch in anderen Raymond-Chandler-Erzählungen, mit einer Vielzahl zwielichtiger Existenzen, deren Handlungsmotive bis zur Auflösung der verwickelten Intrige weitgehend im Dunkeln liegen ... George Montgomery spielt den Protagonisten mit (ziemlich unpassendem) Menjoubärtchen und der (nicht unsympathischen) ironischen Lässigkeit eines Taschenspielers, der die Schwächen seiner Mitmenschen kennt und ertragreich auszunutzen weiß. John Brahm inszeniert die leichenreiche Familiensache um Schulden, Erpressung und Mord routiniert, jedoch ohne das visuelle und psychologische Furore seiner period noirs. Für schauspielerische Glanzpunkte sorgt immerhin Florence Bates als herrische alte Dame, die es mühelos mit der abgefeimtesten Hitchcock-Matrone aufnehmen könnte.

29. Oktober 2017

Standbild (17)

Unterwelt 

Innen. Keller. Nacht. Links neben der Eingangstür des Raums ist mit Kreide ein Muster in der Art einer Schießscheibe an die einfarbig getünchte Wand gezeichnet. Zahlreiche Einschußlöcher übersäen den Putz im Bereich der vier konzentrischen Kreise, die genau in der Mitte ein Kreuz durchzieht. Die äußeren Kreideringe schneiden linksseitig ein schmales Hakenbord, an dem ein stark verschmutztes kariertes Handtuch hängt, sowie untenhin einen an der Wand verschraubten Ausguß mit geschweifter Rückenplatte und rundem Becken, dessen weiß emaillierte Oberfläche etliche Beschädigungen aufweist. Rechts neben der Tür trennt eine zaunartige Begrenzung aus Holzbrettern den Raum vom Nachbarkeller. An der Lattenwand, durch deren Spalte schwache Lichtstreifen fallen, lehnt ein etwa zwei Meter hohes Regal mit offener Rückseite. Im oberen Fach befinden sich eine Schreibmaschine, eine Pappkiste mit Deckel und zwei Schmalfilmkameras, das untere Fach beinhaltet ein Rundfunkgerät, eine Figurenuhr, eine bauchige chinesische Vase, einen Handkoffer und mehrere verschlossene Holzkästen. In das rechte Seitenteil der Stellage ist ein Nagel geschlagen, der einem hellen Regenmantel als Aufhängung dient. Die der Tür gegenüberliegende Wand des Kellerraums ist unverputzt. Zwei tiefe Rücksprünge im grob gekalkten Mauerwerk bilden Nischen mit hohen Brüstungen und doppelflügeligen Sprossenfenstern, die jeweils auf enge Lichtschächte hinausgehen, wobei hölzerne Blenden die Öffnungen der senkrechten Hohlräume versperren. Ein am Pfeiler zwischen den Fensternischen befestigter, vollständig entfalteter Plan zeigt das Zentrum der in vier Sektoren geteilten Stadt Berlin. Vor der Karte hängt eine schwarze Industrielampe, die einen darunter stehenden klobigen Holztisch bescheint. Gegenüber dem rechten Fenster, dessen Scheiben teilweise zersprungen sind, steht ein etwa achtzehnjähriger Mann in einem karierten Hemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. In der Hand seines ausgestreckten rechten Arms hält er eine Pistole, mit der durch eines der oberen Felder des Fensters schießt. Neben dem jungen Mann hockt eine Frau mittleren Alters, deren mittelblondes Haar zu einer sogenannten Entwarnungsfrisur hochgesteckt ist. Ihr Gesichtsausdruck zeigt nervöse Anspannung, über der Nasenwurzel graben sich zwei scharfe Falten in die Stirn. Sie trägt eine kurzärmlige dunkle Wollbluse mit spitzen Aufschlägen und stoffumnähten Knöpfen. Im Halsausschnitt des Kleidungsstücks blitzt ein kleines silbernes Kreuz. Die hockende Frau ist die Mutter des schießenden jungen Mannes. Sie reicht ihrem Sohn, dem Anführer einer berüchtigten Bande von zumeist jugendlichen Verbrechern, die über Monate hinweg in den Trümmern der kriegszerstörten ehemaligen Reichshauptstadt ihr Unwesen trieben, eine nachgeladene Waffe, damit er sich gegen den Angriff der vor dem Haus aufmarschierten Polizei verteidige. Nichtsdestotrotz werden in wenigen Augenblicken die Sicherheitskräfte den Keller stürmen und den jungen Mann verhaften. Nach einem spektakulären Prozeß wird der noch nicht volljährige Delinquent, wegen Mordes, Mordversuchs und Raubes zum Tode verurteilt, unter dem Fallbeil sein Leben lassen.

20. Oktober 2017

Schwarz sehen (2)

Vier Films noirs von Joseph H. Lewis

Joseph H. Lewis wurde 1907 in New York geboren. Mitte der 1920er Jahre folgte er seinem älteren Bruder nach Hollywood, wo er als Kameraassistent und Cutter arbeitete. 1937 bekam Lewis die Gelegenheit, erstmals Regie zu führen. Bis Ende der 1950er Jahre inszenierte er für diverse Studios und unabhängige Produzenten knapp 40 Low-Budget-Filme unterschiedlicher Genres, in erster Linie Western, Melodramen und Gangsterfilme. Peter Bogdanovich nannte diese Werke »lauter individualistische Genrefilme mit einem besonderen atmosphärischen Touch«. Ab 1958 arbeitete Lewis für das Fernsehen (unter anderem drehte er rund 50 Episoden für die Westernserie »The Rifleman«), bevor er sich Mitte der 1960er Jahre zur Ruhe setzte. Er starb im Jahr 2000 im kalifornischen Marina del Rey. 


1945 | »My Name is Julia Ross« (»Mein Name ist Julia Ross«)

»Please, listen to me!« Nach längerer Erwerbslosigkeit ist Julia Ross (Nina Foch) glücklich, eine Stellung als Sekretärin bei einer reizenden älteren Dame (Dame May Witty – die altjüngferliche Geheimagentin aus Alfred Hitchcocks »The Lady Vanishes«) zu finden, und akzeptiert dankbar die Bedingung, umgehend in das Londoner Haus ihrer neuen Arbeitgeberin zu ziehen. Doch am folgenden Morgen findet sie sich in einer einsamen Villa an der Küste Cornwalls wieder, als Gefangene eben jener reizenden älteren Dame und ihres latent aggressiven Sohnes, vor Nachbarn und Dienerschaft als dessen verrückte Ehefrau ausgegeben ... Die B-Variation des in den 1940er Jahren beliebten »paranoid woman’s film« (à la »Rebecca« und »Gaslight«), ein kleiner, feiner gothic thriller, ein elegantes Schauerstück über Persönlichkeitsverlust und (beinahe) tödliche Einsamkeit: Julias Fluchtversuche bleiben ebenso erfolglos wie ihre verzweifelten Anstrengungen, mögliche Helfer von ihrer wahren Identität zu überzeugen. Immer enger zieht sich das Netz der Intrige, immer wieder schließt Regisseur Lewis vor der Protagonistin Türen und Tore, vergittert Ausblicke und Auswege, zeigt lächelnde Niedertracht oder verderbliches Mitleid in den Mienen ihrer Mitmenschen, und noch das Streifenmuster ihres Kleides scheint den Kerker zu symbolisieren, aus dem die bedrohte Heldin erst in letzter Minuten (und nicht ohne männliche Hilfe) entkommen kann.

1946 | »So Dark the Night«

»I don't know, which way to turn.« Henri Cassin, bester Mann der Pariser Sûreté, macht, von elf Jahren erfolgreicher Ermittlungsarbeit nervlich erschöpft, Urlaub auf dem Lande. Der Film beginnt possierlich-idyllisch, mit einem morgendlichen Abschiedsbummel durch die Metropole, gefolgt von einer leicht amüsierten Betrachtung des pittoresken Dorfes Ste. Margot, wo sich der brave Kriminalbeamte in Nanette, die hübsche Tochter des örtlichen Gastwirts, verguckt und seiner Flamme, ungeachtet ihrer Verlobung mit einem eifersüchtigen Landwirt, nachdrücklich den Hof macht. Doch unversehens verwandelt Joseph H. Lewis (der eher mittelmäßige Darstellerleistungen souverän durch visuelle Stringenz ausgleicht) die friedvollen Ferien des Monsieur Cassin in einen düsteren Alptraum: Nanette wird erwürgt aufgefunden, kurz darauf auch ihr dringend tatverdächtiger Verlobter, es folgen krakelige Drohbriefe (»You will die next.«) und ein weiterer Mord. Der Kommissar aus der Hauptstadt, der natürlich umgehend die Suche nach dem Täter übernimmt, steht vor einem Rätsel: »The murderer is as elusive as my own shadow.« Bald offenbart sich, daß der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der französischen Provinz eine Wiederholung findet: »So Dark the Night« schildert das Schicksal eines zerrütteten Geistes, das Drama einer gespaltenen Persönlichkeit, die der ungläubig-entsetzten Mitwelt ihr eigenes Unglück überstülpt. Zuletzt gleicht die Mörderjagd (auch bildlich) einer erschütternden Selbstbegegnung: »Henri Cassin is no more. I caught him. I killed him.«

1950 | »Gun Crazy« (»Gefährliche Leidenschaft«)

Die rasante Geschichte eines explosiven amour fou: ein Mann und eine Frau finden zusammen wie Waffe und Munition ... Bereits als kleiner Junge hegt Bart ein krankhaft gesteigertes Verlangen nach Gewehren und Pistolen, Schießen ist seine Leidenschaft, die einzige Tätigkeit, die er wirklich beherrscht – auch wenn es ihm nach dem traumatischen Abschuß eines Kükens unmöglich ist, auf lebende Wesen zu feuern. Nach langen Jahren in Erziehungsanstalt und Armee, trifft er Annie, die sich auf dem Rummelplatz als Scharfschützin verdingt. Schon die erste Begegnung des Paares, ein Wettschießen auf offener Bühne, gleicht einem fetischistischen Geschlechtsakt, und nur wenig später driften die beiden (»like a couple of wild animals«: Peggy Cummins und John Dahl) wie weiland Bonnie Parker und Clyde Barrow gesetzbrecherisch durch die amerikanische Provinz. Geschickt kontrastiert Lewis Barts liebestrunkene Skrupulosität mit Annies, an Lady Macbeth erinnernde, fatale Zielstrebigkeit (»I want a lot of things – big things!«) – ein spannungsvoller Gegensatz, der sich auf inszenatorischer Ebene in der irritierenden Mischung aus kühlem On-location-Realismus (ein Banküberfall, als Plansequenz in Echtzeit und am Originalschauplatz, von der Rückbank des Fluchtfahrzeugs aus gedreht) und spätexpressionistischer Kulissenhaftigkeit (Barts Einbruch in ein Waffengeschäft zu Beginn des Films oder die finale Menschenjagd durch nebliges Sumpfgelände) wiederfindet. »Gun Crazy« – ein liebeswahnsinniger Gangsterfilm über Verführung und Bereitschaft: »Let’s finish it the way we started it: on the level.«

1955 | »The Big Combo« (»Geheimring 99«)

»Hate! Hate is the word.« Lieutenant Diamond (»a righteous man«: Cornel Wilde) setzt alles daran, den berüchtigten Gangsterboß Mr. Brown (»a very influential citizen«: Richard Conte) zu Fall zu bringen. Trotz des Einsatzes beträchtlicher finanzieller Mittel und regelmäßiger umfangreicher Razzien bleiben seine Bemühungen erfolglos: Dem selbstüberzeugt-rücksichtslosen Schurken (»First is first, and second is nobody.«), der stets ein infames Grinsen zur Schau trägt, ist mit herkömmlicher Polizeiarbeit nicht beizukommen. Diamond nimmt Browns blonde Geliebte Susan Lowell (»a wayward girl«: Jean Wallace), der er selbst mit Haut und Haaren verfallen ist, ins Visier, um auf diesem Wege justiziable Informationen zu gewinnen ... Lewis entwickelt aus der brisanten Dreieckskonstallation ein finsteres Melodram, in dem alles (zumeist gewalttätige) Handeln triebgesteuert, zwanghaft, alternativlos erscheint: »I live in a maze, Mr. Diamond«, bekennt Susan, »a strange, blind and backward maze, and all the little twisting paths lead back to Mr. Brown.« Plastisch gezeichnete Nebenfiguren (ein entthronter Bandenchef, der seinem Nachfolger Handlangerdienste leisten muß; zwei Killer, die einander in liebevoller Freundschaft verbunden sind; eine abgelegte Ehefrau, die sich aus Angst in den Wahnsinn flüchtet), dazu David Raksins jazzig-urbaner Score und Philip Yordans pointierte Hard-boiled-Dialoge, vor allem aber John Altons virtuose Schwarzweißkamera, die in extrem reduzierten Szenerien mittels harter Schlaglichter und tiefer Schatten, scharfer Konturen und diffuser Nebelschleier einen (beinahe) unentrinnbaren Gefühls-und Großstadtdschungel erschafft, heben »The Big Combo« in den Rang eines schwarzen Meisterwerks.

19. Oktober 2017

DD

Danielle Darrieux 1917 / 2017

Fünf Lieblingsrollen:

• als diebische Gräfin Anna Staviska in Joseph L. Mankiewiczs »5 Fingers« (1952)

• als ehebrecherische Generalsgattin Louise de ... in Max Ophüls »Madame de ...« (1953)

• als Yvonne Garnier, Mutter von Zwillingen, in Jacques Demys »Les demoiselles de Rochefort« (1967)

• als besorgte Konzernchefin Suzanne Pasquier in Claude Sautets »Quelques jours avec moi« (1988)

• als abgründiges Stiefmütterchen Mamy in François Ozons »8 femmes« (2001)

2. August 2017

Elle

Zwei Filme von Tony Richardson mit Jeanne Moreau

Détruire, dit-elle: »Mademoiselle« (1966)

»Pauvre fille, elle mène une drôle de vie.« Mademoiselle öffnet ein Wehr, um das Dorf zu überschwemmen. Mademoiselle zerquetscht in der Hand das Gelege eines Rebhuhns. Mademoiselle legt Feuer in einem Stall. Mademoiselle versengt mit brennender Zigarette die Blüten eines Apfelbaums. Mademoiselle vergiftet das Brunnenwasser. Bevor Mademoiselle, die zugereiste Lehrerin einer kleinen Ortschaft in der tiefsten französischen Provinz, das Zimmer verläßt, um ihr Zerstörungswerk zu verrichten, wählt sie das passende Kleid, schminkt sich sorgfältig, steigt in hochhackige Schuhe, streift schwarze Netzhandschuhe über. Keiner der Dorfbewohner hat Mademoiselle im Verdacht. Der allgemeine Argwohn richtet sich gegen den italienischen Waldarbeiter Manou (Ettore Manni), dessen offensive Virilität den Männern Unbehagen bereitet und die Frauen – auch Mademoiselle – in den Bann schlägt ... Tony Richardson formt Jean Genets Reflexion über das Böse und die Einsamkeit, über Frustration und Sadismus, über Lust und Eifersucht zu einem unheimlich frostigen, dabei hochgradig sinnlichen Film. Statt Musik wirken die Geräusche, rauschendes Wasser und knisternde Flammen, Spechtklopfen und Vogelstimmen, krachende Axthiebe und lärmende Motorsägen, Donner und Glockengeläut; in David Watkins statischen Panavision-Bildern der arkadisch-archaischen Landschaft werden die Menschen häufig marginalisiert, zu winzigen Details verkleinert oder an den Rand gedrängt. Überlebensgroß erscheint indes Jeanne Moreau als »Mademoiselle«, in ihrer Grausamkeit, in ihrer Unergründlichkeit, in ihrem Verlangen, wenn sie Manous Sohn Bruno (der, in die Lehrerin heimlich verliebt, als einziger ihr Geheimnis ahnt) wiederholt vor versammelter Klasse demütigt, wenn sie den Schülern mit kalter Begeisterung von den Untaten Gilles de Rais’ erzählt, wenn sie das Objekt ihrer gnadenlosen Begierde dem Zorn der Menge ausliefert: »Mademoiselle, c’était lui?« – »Oui!«

Un chant d’amour: »The Sailor from Gibraltar« (1967)

»What do you do when you don’t know what you want.« Alan, in seinem Behördenjob gelangweilt, von seiner putzmunteren Freundin Sheila (Vanessa Redgrave) angeödet, mit seinem Leben generell unzufrieden, begegnet während eines Italienurlaubs der schönen, reichen Anna (Jeanne Moreau), die, auf der Suche nach einem verlorenen Geliebten, mit ihrer Segelyacht die Weltmeere durchkreuzt. Alan nutzt die sich ihm unverhofft bietende Chance und begleitet Anna, ihrerseits erotischen Eskapaden durchaus nicht abgeneigt, auf große Fahrt. In Athen, in Alexandria, in Äthiopien verfolgen sie vage Spuren des Verschwundenen, gehen Auskünften nach, die ihnen von mehr oder weniger zuverlässigen Informanten (darunter Orson Welles mit Fez und Kaftan als »Louis of Mozambique«) zugetragen werden. Tony Richardsons Adaption eines frühen Romans von Marguerite Duras läßt bewußt offen, ob es den Matrosen von Gibraltar (angeblich ein aus der Fremdenlegion geflohener Mörder) tatsächlich gab, oder ob er Annas Phantasie entsprungen ist, ein romantisches Ideal, Wunschbild der absoluten Liebe, Symbol für Geheimnis, Abenteuer, Freiheit, Unschuld. Auch wenn Ian Bannen in der (einigermaßen undankbaren) Rolle des mürrischen Alan kaum greifbare Präsenz entwickelt, gelingt Richardson, insbesondere dank Moreaus enigmatischer Strahlkraft, Raoul Coutards dokumentarisch-einfühlsamer Kamera und Antoine Duhamels mediterran-melancholischem Score, eine streckenweise reizvolle Reiseerzählung über Sehnsucht und Vorstellungen von Glück, über Illusionen und unbekannte Ziele: »It would be terrible if sailors didn’t exist.« – »We would have to invent them.«

31. Juli 2017

Le vrai scandale c'est la mort

Jeanne Moreau 1928 / 2017

Sieben Lieblingsrollen:

• als gutbürgerliche Drifterin Lidia in Michelangelo Antonionis »La notte« (1960)

• als platinblonde Glücksspielerin Jackie Demaistre in Jacques Demys »La baie des Anges« (1962)

• als illusionsloses Zimmermädchen Célestine in Luis Buñuels »Le journal d'une femme de chambre« (1964)

• als revolutionäre Tingeltangelkünstlerin Maria II in Louis Malles »Viva Maria!« (1965)

• als rächende Witwe Julie Kohler in François Truffauts »La mariée était en noir« (1967)

• als singende Puffmutter Lysiane in Rainer Werner Fassbinders »Querelle« (1982)

• als geheimdienstliche Stilberaterin Armande in Luc Bessons »Nikita« (1990)

27. Juli 2017

Shades of red

Fünf Filme von Nicolas Roeg

1970 | »Performance« (mit Donald Cammell)

»It’s time for a change.« Chas (James Fox), ein gewalttätiger Narziß mit verschwommener sexueller Vergangenheit, im Syndikat eines East-End-Gangsters zuständig für Inkasso und Einschüchterung, doch nach der tödlich endenden Auseinandersetzung (»I am a bullet.«) mit einem Kollegen und vermutlichen Exlover beim Boß in Ungnade gefallen, sucht Zuflucht im Domizil des retirierten Popstars Turner (!) (Mick Jagger) und seiner beiden Freundinnen. Durch die psychedelisch-arabesken, labyrinthisch-tageslichtlosen Interieurs des Hauses lassen die Koregisseure Nicolas Roeg (auch Kamera) und Donald Cammell (auch Drehbuch) einen wimmernder Nachhall des kulturrevolutionären Swinging London wehen. Vor Spiegelwänden zersplittern in drogengeschwängerter Atmosphäre Gewißheiten und Regeln (»Nothing is true. Everything is permitted.«), verwischen vorgebliche Identitäten (»I know who I am.« – »Of course you do.«) ... Am Beispiel der sonderbaren (wiederum tödlich endenden) Begegnung von Kunstwelt und Unterwelt offenbart sich die Illusion von Normalität – Persönlichkeit wird zum Image, Geschlecht zur Variablen, Leben zum (bisweilen blutigen) Rollenspiel: »Well, I perform.« – »I bet you do.«

1971 | »Walkabout«

»Well, where are we now?« Die Antwort auf die Frage, wo wir sind, kann auch Aufschluß darüber geben, wer wir sind. Ein halbwüchsiges weißes Mädchen und ihr kleiner Bruder in einer Schule in Sydney, im Park der Stadt, im Pool des Apartmenthauses, sind andere als dieselben weißen Mittelklassekinder unterwegs im australischen Outback. Nachdem ihr Vater, auf einem Ausflug in die Wildnis von einem unerklärlichen Wahn ergriffen, zunächst versuchte, die Kinder zu erschießen, dann sich selbst tötete, sind die Geschwister plötzlich ganz auf sich gestellt: Sand und Felsen, Reptilien und Geier, tags die unerbittliche Sonne, nachts der gleichgültige Mond. Zivilisatorische Errungenschaften – Sprachfertigkeit, soziale Normen, Manieren – helfen in der Natur nicht weiter; ein junger Aborigine auf dem »Walkabout« (einem rituellen Initiationsgang durch das Buschland) rettet den planlos Umherirrenden das Leben. Anhand dieser Begegnung und der folgenden gemeinsamen Wanderung verhandelt Nicolas Roeg – kaum in Dialogen, vielmehr in ebenso überwältigenden wie verstörenden Bildern – Fragen von Identität und Kolonisierung, Harmonie und Destruktion, Erziehung und Entfaltung. Den Film, eine schillernde Mischung aus Coming-of-age-Story, anthropologischer Studie, Abenteuergeschichte und Culture-Clash-Drama durchzieht bei allem visuellen Fieber ein kühler Pessimismus. »Faites vos jeux, Messieurs dames«, gebietet zu Beginn eine Stimme aus dem Off. Immer wieder ins Bild gerückte Mauern lassen ein mögliches Glück von vorneherein als verlorenes Paradies erscheinen: »Rien ne va plus.«

1973 | »Don’t Look Now« (»Wenn die Gondeln Trauer tragen«)

»Nothing is what it seems.« Ein Kind ertrinkt beim Spielen. Der Tod der Tochter läßt die Eltern traumatisiert zurück. Im spätherbstlichen Venedig suchen Jack und Laura Baxter (Donald Sutherland und Julie Christie) nach einer Möglichkeit, ihren Schmerz zu bewältigen – doch aus den Kanälen der Lagunenstadt steigt die Erinnerung wie verhängnisvoller Nebel, durch den das gestorbene Mädchen zu spuken scheint … Nicolas Roeg löst die Geschichte des im Unglück verbundenen Ehepaares konsequent aus der chronologischen Ordnung: Die Zeit erweist sich als Irrgarten, gleich der Topographie des morbiden Schauplatzes, an dem sich Diesseits und Jenseits überschneiden. Wiederkehrende Motive, allesamt symbolisch aufgeladen – zerspringendes Glas, Spiegelungen im Wasser, Stürze und Ohnmachten, leuchtendes Rot –, schaffen Bezüge zwischen den Ebenen. In Venedig, wo Jack im Auftrag des Bischofs eine mittelalterliche Kirche restauriert, macht Laura die Bekanntschaft zweier sonderbarer Schwestern, deren eine – blind – mit dem zweiten Gesicht begabt (oder: bestraft) ist. Während Laura, fasziniert und unbefangen, den Kontakt zur anderen Seite sucht, reagiert Jack feindselig – vielleicht, weil er sich als Vernunftmensch die eigene Anlage zur außersinnlichen Wahrnehmung nicht eingestehen will … Ein parapsychologisches Melodram, ein metaphysischer Thriller über Ahnungen und Bedrohungen, über Warnungen und Täuschungen, ein experimenteller Genrefilm, der wie in Trance von Augenschein und Skepsis erzählt: »Seeing is believing.«

1976 | »The Man Who Fell to Earth« (»Der Mann, der vom Himmel fiel«)

»I’m just visiting.« – »Oh, a traveler!« Ein Außerirdischer landet auf der Erde. Unter dem Namen Thomas Jerome Newton verschafft sich der rothaarige Besucher Bargeld und baut mittels einiger bahnbrechender Patente einen der größten Konzerne der Vereinigten Staaten auf – es sind weder Macht noch Reichtum, die ihn dabei interessieren, ihm geht es einzig um die Mittel, seinen verdurstenden Heimatplaneten (auf dem er Frau und Kinder zurückließ) mit Wasser zu versorgen. Die Science-Fiction-Erzählung bildet den Rahmen, um aus der Sicht eines Fremden auf Bekanntes – oder: für bekannt Gehaltenes – zu blicken, auf Talmiglanz und Elend der westlichen Zivilisation, auf ihre Gesetze des Marktes und der Stärkeren. In kühnen Ellipsen, in fragmentierten Szenen, in Bildern von halluzinatorischer Qualität verschmilzt Nicolas Roeg hochartifizielle Gesellschaftskritik und rigorose Genredekonstruktion zu einer sarkastische Dystopie, die nicht als Zukunftsvision daherkommt, sondern, vermittelt durch die Perspektive eines Alien, als beklemmendes Zeitbild. David Bowie, der als Popstar zuvor selbst mit außerirdischen Identitäten jonglierte, spielt Newton, den genialischen Magnaten und einzelgängerischen Exzentriker, Simplicissimus, Messias, Ikarus, Freak, ultimativer »stranger in a strange land«. Mit seltsam aufgekratzter Ungerührtheit zeigt Roeg, wie sich »The Man Who Fell to Earth« in eine problematische Beziehung verwickelt, wie er dem Alkohol und hemmungslosem Fernsehkonsum verfällt, wie er sein großes Ziel allmählich aus den Augen verliert – ein fataler Prozeß der Entfremdung (und zugleich Menschwerdung), der in stiller Melancholie endet. »I may not stay sober anymore. But, I still have money.«

1980 | »Bad Timing« (»Blackout – Anatomie einer Leidenschaft«)

»They’re happy.« – »That’s because they don’t know each other well enough yet.« Gemälde von Gustav Klimt und Egon Schiele. »Der Kuß« und »Der Tod und das Mädchen«. Ein Mann, eine Frau, versunken in die Betrachtung der Bilder. Tom Waits singt: » Well, it's just an invitation to the blues.« Ein Rettungswagen rast durch das nächtliche Wien. Eine Frau, bewußtlos, ein Mann, sprachlos. Milena (Theresa Russell) hat einen Selbstmordversuch unternommen, ihr Freund Alex (Art Garfunkel) hast sie gefunden. Ein Inspektor (Harvey Keitel) untersucht Milenas Fall, um Widersprüche in Alex’ Aussagen aufzuklären. Noch radikaler als in seinen vorhergehenden Werken hebt Nicolas Roeg in »Bad Timing« die Chronologie die Ereignisse auf. Zeitschichten existieren im Universum des Films parallel, Gestern und Heute (und Morgen) bilden das Mosaik eines erotischen Melodramas, eines psychologischen Thrillers, einer unsentimentalen Beziehungsstudie. »If we don’t meet, there could always be the possibility that it would have been perfect.« Das Verhältnis zwischen dem kontrollierten Intellektuellen (der am Geburtsort der Psychoanalyse die Geheimnisse der Seele erforscht) und der impulsiven Hedonistin (die Symptome einer bipolaren Störung zeigt) entwickelt die hohe Gefühlsamplitude eines amour fou – einerseits Überschwang bis zur Hysterie, andererseits Depression bis zur (Selbst-)Zerstörung. »Leave and you kill me, leave and I’m dead.« Alex’ beharrliches Dominanzstreben, seine obsessive Eifersucht, Milenas unstillbarer Liebeshunger, ihre aggressive Freizügigkeit lassen die Affäre schließlich in ein Debakel münden. Ein Koma, eine Vergewaltigung, eine Nacht im Krankenhaus. Ein stummes Wiedersehen, nach Jahren, in einer anderen Stadt. Eine Narbe. Ein Fluß, über den keine Brücke führt. Billie Holiday singt: » The same old story. It's as old as the stars above.«

5. Juli 2017

Standbild (16)

Abfall 

Außen. Müllhalde. Tag. Die Deponie erinnert an eine hügelige Winterlandschaft. Zwei zerklüftete, leicht verschneite Erhebungen aus Holzresten und Plastik, Schrott und Schutt umgeben eine Art flaches Tal. Auf der linken Anhöhe steht ein hölzerner Bauwagen, dessen quadratisches Fenster mit einer grauen Platte verschlossen ist. Zu beiden Seiten der unebenen Senke brennen offene Feuer. Der wolkig aufsteigende Qualm verdüstert den milchigen Himmel über der Halde. Die Schwaden umwehen auch einen stämmigen, unrasierten Mann von etwa sechzig Jahren, der sich in der breiten Mulde zwischen den Müllbergen aufhält. Er trägt eine speckige hellgraue Schiebermütze, einen verfilzten karierten Schal, einen staubgrauen Wollmantel, eine weite Hose mit ausgefransten Umschlägen und derbes Schuhwerk. Der Mann stochert mit einer dünnen Eisenstange im Unrat, offenbar in der Absicht, verwertbare Gegenstände aufzuspüren, die er in einem mitgeführten Leiterwagen sammelt. Während die Augen des Mannes auf den Boden gerichtet sind, geht der aufmerksame Blick seines Hundes, einer schwarzweiß gefleckten Dogge, zur Seite. Das Tier betrachtet mit gespitzten Ohren einen scheinbar weiblichen Unterarm, der, teilweise von einem Ärmel aus in Schlaufen gelegten schwarzen Schnüren bedeckt, auf dem hochgewölbten Rand einer grau-beige-rot gestreiften Matratze ruht. Bei dem abgenutzten Schlafpolster handelt es sich laut seitlich aufgenähtem Etikett um ein Fabrikat der Marke »Komtur«. Die spitz gefeilten Nägel der gepflegten feingliedrigen Hand sind rosa lackiert, am kleinen Finger prangt ein Brillantring. Unterhalb der Hand liegen auf schwärzlich schmutziger Erde ein Ohrring, bestehend aus zwei diamantgefaßten Saphiren, sowie eine flache goldene Damenhandtasche in Trapezform mit schuppenartig glitzernder Oberfläche und Clipverschluß, daneben eine hellblaue Dose, die wie eine dunkelblaue Schrift verrät, in Bühl/Baden hergestellt wurde, und eine zerknautschte Tüte aus braunem Packpapier mit dem Aufdruck »Sonnenqualität«. Rechts oberhalb dieser Anordnung von Körperteilen und Gegenständen bilden die grau-beige-rote und eine darübergebogene blaugestreifte Matratze mit der Seitenkante eines verkehrt herum liegenden breiten Sitzmöbels einen Hohlraum, der von Kopf und Brustkorb des zu Hand und Arm gehörenden Leibes ausgefüllt wird. Dichtes, kinnlanges, leicht gewelltes Blondhaar rahmt das junge, vermeintlich weibliche Gesicht. Das Gegenstück des am Boden liegenden Ohrrings befindet sich noch an seinem angestammten Platz, die vollen, blaßgeschminkten Lippen sind leicht geöffnet, die von künstlichen Wimpern gerahmten, weit aufgerissenen dunklen Augen starren ins Nichts, das aus den Nasenlöchern getretene Blut ist eingetrocknet. Ein eng um den Hals geschlungener Nylonstrumpf wurde rechts zu einem festen Knoten geschnürt. Der verrutschte Ausschnitt des schwarzen Oberteils läßt den Ansatz einer prallen Brust erkennen. Nachdem der Lumpensammler die aufgefundenen Wertsachen eingeheimst hat, wird der hinzugekommene Polizeikommissar feststellen, das es sich bei dem Leichnam nicht um eine Frau sondern um einen jungen Mann handelt, genauer gesagt um einen Transvestiten, der, wie der Kriminalbeamte zu berichten weiß, mit dem schönsten Paraffinbusen von Nordeuropa ausgestattet war. Der gewaltsame Tod des Transvestiten wird umfangreiche Ermittlungen in Gang setzen, in deren Verlauf die Verbindungen zwischen Unterwelt und sogenannter guter Gesellschaft der Stadt offengelegt werden.

22. Juni 2017

Schwarz sehen (1)

Drei Filme von Alain Corneau

Alain Corneau wurde 1943 in Meung-sur-Loire, einer Kleinstadt in der Nähe von Orléans, geboren. In seiner Jugend spielte er Schlagzeug in diversen Jazzformationen, später absolvierte er ein Studium an der Pariser Filmschule IDHEC. Nach einer Zeit als Regieassistent (unter anderem bei Costa-Gavras und Nadine Trintignant), debütierte Corneau 1974 mit dem gesellschaftskritischen Science-Fiction-Film »France Société Anonyme« als Regisseur. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden, neben Historiendramen und Romanadaptionen, psychologische Thriller und Gangsterfilme. Corneau starb 2010 in Paris.

1976 | »Police Python 357« (»Im tödlichen Kreis«)

In und um Orléans jagt Inspektor Marc Ferrot (»tout seul, toujours«: Yves Montand) den Mörder seiner Geliebten, die (was er nicht weiß) auch die Geliebte seines Chefs, Kommissar Ganey (François Périer), war, der (ohne seinerseits die Identität des Nebenbuhlers zu kennen) aus Eifersucht zum Gewaltverbrecher wurde; das fatale Problem des Inspektors: Spuren, Hinweise, Aussagen lassen ihn selbst unter Tatverdacht geraten ... Basierend auf Kenneth Fearings Roman »The Big Clock« (der schon die Vorlage zu John Farrows gleichnamigem film noir von 1948 lieferte), mit gestalterischen Anklängen an die eisigen Stilübungen von Jean-Pierre Melville, aber auch an die kriminalistischen Sozialstudien eines Claude Chabrol, untermalt von Georges Delerues düster-dissonanten Chorälen, gestaltet Alain Corneau nicht nur ein intensives Spannungsdrama sondern vor allem eine Galerie eindrücklicher Charakterporträts: Ferrot, ehemaliger Heimzögling, ein Waffenfetischist, der für seinen Colt Python hingebungsvoll die .357er-Kugeln gießt, ein Loner, dem die Begegnung mit der offensiven Sylvia (Stefania Sandrelli) unversehens eine Ausflucht aus seiner unpersönlichen Existenz zu eröffnen scheint; Ganey, nach außen hin das Musterbild des korrekten Beamten, ein kultivierter Schizophrener, der sich im Gefühlslabyrinth seines Doppellebens verliert; schließlich Ganeys gelähmte Gattin Thérèse (Simone Signoret), Erbin eines stattlichen Vermögens, die nolens volens alle Geheimnisse ihres Mannes teilt, erbarmungswürdiges Symbol einer seelisch und emotional versteinerten Bourgeoisie. »Police Python 357«: Protokoll einer vertrackten Ermittlung, kalt-obsessives Sittenbild, Darstellung eines erbitterten Kampfes, der keinen Gewinner kennt.

1977 | »La menace« (»Lohn der Giganten«)

Beschreibt »Police Python 357« die verzweifelte Bemühungen eines unter Mordverdacht Geratenen, seine Unschuld zu beweisen, schildert »La menace« (≈ die Bedrohung) den Versuch eines Mannes, seine Geliebte von dem Verdacht zu entlasten, ein Verbrechen begangen zu haben, das nie stattgefunden hat: Nachdem sich der Ex-Trucker Henri Savin (Yves Montand) von seiner langjährigen Lebensgefährtin Dominique (Marie Dubois) getrennt hat, fällt diese in eine Depression und bringt sich schließlich um – ein Suizid, der wie ein Mord aussieht, für den Savins neue Freundin Julie (Carole Laure) zur Rechenschaft gezogen werden soll. Savin, Alleinerbe der Verstorbenen, legt Spuren, die ihn als Täter ausweisen, und setzt sich nach Kanada ab, um dort, in einem risikoreichen Befreiungsmanöver, seinen Tod zu inszenieren und ein neues Leben zu beginnen … Alain Corneau knüpft zunächst mit geduldiger Akribie das fatale Netz der irreführenden Hinweise, der falschen Schlüsse, der schicksalhaften Bedrängnisse, um im letzten Viertel des Films ein furioses Actionfinale zu entfesseln, das einen Vergleich mit kinematographischen Vorbilder wie Henri-Georges Clouzots »Le salaire de la peur« und Steven Spielbergs »Duel« nicht zu scheuen braucht. Gerry Mulligans bald lyrisch-introspektiver, bald fiebrig-nervöser Jazz-Soundtrack begleitet und treibt das heikle Geschehen bis zur sarkastischen Pointe.

1979 | »Série noire«

»Nous serons, toi et moi, les plus riches du monde.« Eine schlammige Brachfläche, irgendwo in der Pariser Banlieue, im Hintergrund Kräne und seelenlose Wohnblocks. Ein junger Mann im Trenchcoat steigt aus seinem Simca und improvisiert unter regenschwerem Himmel eine sonderbare Choreographie, spielt mit sich selbst Räuber und Gendarm, mimt zu den Klängen von Duke Ellingtons »Moonlight Fiesta« einen leidenschaftlichen Musiker, einen mondänen Tänzer, einen galanten Liebhaber. Der Prolog des Films gibt einen Vorgeschmack auf die Rollenspiele, die Franck Poupart, genannt »Poupée« (frenetisch: Patrick Dewaere), im Lauf der folgenden schmutzig-bizarren Geschichte darbieten wird. Franck ist ein Mann am Rand – am Rand der Stadt, am Rand der Gesellschaft, am Rand des Nervenzusammenbruchs; unterwegs als Handelsvertreter des Kaufmanns Staplin (aasig: Bernard Blier), gefangen in einer heruntergekommenen Ehe, trifft er eines Tages auf Mona (somnambul: Marie Trintignant), eine Halbwüchsige, die von ihrer schmierigen (und überraschend begüterten) Tante als Prostituierte gehalten wird – die ebenso lebhafte wie klägliche, zwischen Ekel und Ekstase schwankende Beziehung der beiden führt fast unweigerlich zu (Raub-)Mord und Totschlag ... Alain Corneau inszeniert Georges Perecs freie Adaption des Jim-Thompson-Romans »A Hell of a Woman« als pechschwarze Komödie, als hysterische Genreparodie, als galgenhumorige soziologische Betrachtung, als bis zur Kenntlichkeit verzerrtes Zeitbild voller Gewalt und Niedertracht. Aus Transistorradios plärren fröhliche Schlager und beschwingte Chansons von Boney M. und Gérard Lenorman, von Dalida und Sacha Distel, während Francks kaputte Welt restlos in Stücke fällt. Immerhin scheint im Totalverlust so etwas wie eine letzte Hoffnung auf: »On a plus rien à craindre, maintenant.«

8. Juni 2017

Standbild (15)

Indien

Innen. Speisesaal eines Palastes. Nacht. Auf dem weißen Marmorboden steht ein Behältnis in der Art eines großen Wäschekorbes mit annähernd ovaler Grundfläche, leicht ausgewölbten Seiten und flachem Deckel. Das Behältnis ist ringsum mit hellem grüngrauen Stoff bezogen, um seine untere Kante zieht sich ein zopfartig geflochtenes strohfarbenes Band. Zwei dünne Lederriemen, welche um die an den Schmalseiten befindlichen Handgriffe geschlungen sind, verschließen den Deckel. Insgesamt fünf Säbel mit goldschimmernden Beschlägen an den schwarzen Griffen und leicht gebogenen silberglänzenden Klingen, in denen sich die Lichter des Saales spiegeln, durchdringen das Behältnis in verschiedenen Richtungen: zwei der Stichwaffen bohren sich vom hinteren Rand des Deckels diagonal zur mittleren Höhe der Vorderseite, zwei weitere stoßen darunter von der mittleren Höhe der Rückseite zur unteren Kante der Vorderseite, der fünfte Säbel durchsticht das Behältnis waagerecht von der linken zur rechten Schmalseite. An der vorderen linken Rundung der geflochtenen Bodenkante sickert aus dem Behältnis eine grellrote Flüssigkeit, die eine tellergroße Lache auf den Marmorfliesen bildet. Es handelt sich um das Blut einer jungen Dienerin, die infolge einer am Hofe des Maharadschas gesponnen Intrige ihr Leben bei einem absichtsvoll mißglückenden Fakirkunststück lassen mußte.

27. Mai 2017

C’est du brutal

Drei Genreparodien von Georges Lautner (Regie) und Michel Audiard (Dialoge)

1963 | »Les tontons flingueurs« (»Mein Onkel, der Gangster«)

»Non, mais t’as déjà vu ça?« Seit fünfzehn Jahren ist Fernand Naudin (Lino Ventura) raus aus dem krummen Geschäft, handelt er in der südfranzösischen Provinz mit Baumaschinen, als ihn der Ruf seines im Sterben liegenden Kumpanen Louis le Mexicain erreicht, der den alten Freund bittet, nicht nur seinen illegal wirtschaftenden Betrieb (Alkohol, Glücksspiel, Sex) zu übernehmen, sondern sich auch um die Erziehung seiner flott-halbwüchsigen Tochter zu kümmern, die von der ungesetzlichen Natur des väterlichen Business freilich nichts ahnt ... Frei nach einem Roman von Albert Simonin (der auch die Vorlage zum Klassiker »Touchez pas au grisbi« lieferte ): eine Noir-Travestie, die mit tödlicher Rohheit nicht geizt, ein Gangsterfilm, der jede Niedertracht als Scherz betrachtet, eine Familiengeschichte, in der kein Konflikt unterdrückt wird. Der beschwingt-geniale Aberwitz der »tontons flingueurs« (≈ Killer-Onkels) liegt zuallererst in Audiards Dialogen, dem rasanten Wechsel von absurden Tiraden und furztrockenen Repliken, dem kapriziösen Mix aus verballhornten philosophischen Sentenzen und kunstvoll überhöhtem Rotwelsch, auch in Lautners Fähigkeit, Genrekonventionen im selben Moment ironisch zu bedienen und entschlossen zu unterlaufen, last but not least im sichtbaren Vergnügen der Schauspieler (allen voran Bernard Blier als ewiger Prügelknabe), mit (un-)feierlichem Bier-(bzw. Schnaps-)ernst den allergrößten Quatsch darzubieten und dabei die eigenen Leinwandmythen durchaus würdevoll auf die Schippe zu nehmen.

1964 | »Les barbouzes« (»Mordrezepte der Barbouzes«)

Der internationale Waffenhändler Benar Shah stirbt à la Félix Faure in einem Pariser Bordell. Ohne Einhaltung der Trauerfrist bemühen sich Nachrichtendienstler diverser Nationen bei der hübschen jungen Witwe Amaranthe (Mireille Darc) um die explosive Hinterlassenschaft des Verblichenen: Patente für Massenvernichtungswaffen der Marken A, B, C und H. Natürlich hat in einem französischen Film der sympathisch-kantige »barbouze« Francis Lagneau (Lino Ventura), der so sprechende Aliasnamen trägt wie ›Petit Marquis‹ oder ›Belles Manières‹ oder ›Bazooka‹ oder ›La Praline‹, die Nase vorn – während der blutrünstig-wahrheitssuchende Deutsche (genannt ›le bon docteur‹), der ungestüm-ästhetische Sowjet (bekannt als ›Trinitrotoluène‹), der scholastisch-neutrale Schweizer Mystizist (Bernard Blier), der amerikanische Scheckbuch-Agent mit dem kleinkarierten Hütchen (Jess Hahn) und Dutzende von kampfschreienden Abziehbild-Chinesen das Nachsehen haben … Lautner und Audiard veräppeln mit sarkastischem Charme das zweitälteste Gewerbe der Welt, machen sich lustig über das brettharte Getue und den bigotten Nationalismus der verbissen konkurrierenden und doch denkbar ähnlich gestrickten (Kino-)Geheimagenten aller Provenienz, dieser sonderbaren Spezies, die sich durch eine »faszinierende Synthese von Gehirn und Muskeln« auszeichnet.

1966 | »Ne nous fâchons pas« (»Nimm’s leicht, nimm Dynamit)

Vor fünf Jahren hat ›Tonio‹ Beretto (Lino Ventura) die Knarre an den Nagel gehängt; nun nennt er sich Antoine, betreibt einen Bootsverleih mit angeschlossener Tauchschule an der Côte d’Azur, und nur eine gewisse (schlagkräftige) Unduldsamkeit im zwischenmenschlichen Bereich erinnert noch an seine unbürgerliche Vergangenheit – die so vergangen (natürlich) nicht ist: Alte Freunde tauchen auf, bitten Antoine um einen Gefallen, überlassen ihm als Dankeschön ein paar Außenstände, deren Eintreibung unversehens einen veritablen Krieg entfesselt. Als zäher Widersacher tritt dem Exganoven (und den treuen Freunden, die er glücklicherweise hat) ein eleganter britischer ›Colonel‹ entgegen, der (auf der Jagd nach Gold) mit seinem Gefolge von kaltblütig-musikalischen Mods die französische Mittelmeerküste unsicher macht. Vom einfachen Schußwechsel mit Handfeuerwaffen steigern Lautner und Audiard die zunehmend rachsüchtige Auseinandersetzung über wechselseitige Sprengstoffanschläge bis hin zum Raketenangriff. In sonnendurchfluteten (wenn auch häufig von Explosionswolken vernebelten) Breitwandbildern voller comichafter Gewaltdarstellungen karikieren die Filmemacher neben den Stereotypen des Gangsterfilms insbesondere die Exzesse der pilzköpfigen Popkultur: im Vergleich zu Gitarre und Motorroller erscheinen Revolver und Dynamit als geradezu altmodische Waffen.

26. Februar 2017

Kino aus der Zwischenzeit (4)

Westdeutsche Filme der 1980er Jahre

Acht Spielfilme in vier Jahren: zwischen 1982 und 1986 stürmt Eckhart Schmidt, von der Kritik zumeist angefeindet, vom Publikum nur selten wertgeschätzt, mit geradezu Fassbinderschem Arbeitsfuror die bundesdeutschen Kinoleinwände. Fünf dieser Filme, von »Der Fan« bis »Alpha City« (beide hier gewürdigt), bilden einen Werkkomplex von eigenwilligen Genre-Fantasien; ohne Furcht vor etwaigen Geschmacksverirrungen erforscht der Regisseur (der stets sein eigener Autor ist) die Grenzbereiche von Pulp und Pathos, Pop und Gewalt, Melodram und Horror. Schmidts Arbeiten sind radikale Kunstprodukte, archivarische Zeitgeiststudien, fiebrige Hymnen an die Liebe und den Tod, unerschrockene Erkundungsfahrten in eine Welt, die sich als Labyrinth unbeherrschbarer Leidenschaften erweist.

1983 | »Das Gold der Liebe« von Eckhart Schmidt

»Der Tod, das muß ein Wiener sein«, bemerkte einst Georg Kreisler. Insofern nimmt es nicht Wunder, daß Eckhart Schmidt die Stadt an der Donau zum Schauplatz eines neo(n)surrealistischen Totentanzes bestimmt: Von den sirenenartigen Stimmen zweier Popstars (Gabi und Robert von »Deutsch Amerikanische Freundschaft«) gelockt, gerät die junge Patricia (Alexandra Curtis), auf der Suche nach ihren Idolen und nach dem fernen Gold der Liebe, in eine undurchschaubare Mord-(und Passions-)geschichte, wird verfolgt und gejagt, mehrfach getötet (»Sie wird den Morgen nicht erleben. Leiche zu Leiche.«) und immer wieder zu neuem Leben erweckt ... In einem von jedem erzählerischen Vernunftdiktat befreiten, mit New-Wave-Sounds (»Ich und ich im wirklichen Leben.«) und knatternden Störgeräuschen vollgepumpten Assoziationsstrom driftet (oder schlafwandelt) die engelsreine Heldin durch eine ewige Nacht, begegnet, neben anderen finsteren Gestalten, einer schwarzledernen Killerprinzessin (mit flinkem Messer und blutverschmiertem Mund: Marie Colbin), einem fetten Selbstmörder, der auf dem Kaffeehaustisch die Pistolenkugeln ordnet (Udo Proksch – Hofzuckerbäcker, Schiffeversenker, Erfinder der Senkrechtbestattung) und André Heller, der auf die Herumirrende seit jeher schon im Café Hawelka zu warten schien, um ihr hintergründig zuzuraunen: »Ich weiß, was du suchst, aber vielleicht findest du ganz etwas anderes.« Wahn und Traum, Ohnmacht und Rausch, Horror und Romantik – in Schmidts genreexperimentellem »Todesarten-Projekt«, einem Coming-of-Age-Abenteuer der ganz anderen Art, gleicht Wien einer Nekropole von grell-morbider Grandezza, einer überwirklichen Unterwelt, in der die mondbeschienene Geisterstunde kein Ende nehmen will: »Hallo, liebe Kinder, hier ist der Weihnachtsmann.«

1984 | »Die Story« von Eckhart Schmidt

»Heutzutage brauchst du ein ganzes Kilo, um den Kick zu merken.« – »Das sind die Achtziger.« ... Zwei Jahre bevor Helmut Dietl der Münchner Boulevardpresse und den obskuren Objekten ihres Interesses ein zeitlos gültiges Denkmal setzt, nimmt Eckart Schmidt, mit simmelesker Lust an genußvoll-moralisiernder Thriller-Kolportage, die Mechanismen des Revolverjournalismus und die hedonistische Lebensweise einer ausgebrannten Gesellschaft unter die filmische Lupe: »Ich glaube an die Lüge als den allmächtigen Motor der Auflage. Ich glaube aus tiefstem Herzen und voller Brust an alle Medien, die den Markt nicht kontrollieren, sondern ihn selbst beherrschen.« Raoul (Tomi Davis), rasender Reporter bei der MZ, hat eine Enthüllungsstory über Münchens »verschnupfte Disco-Schickeria« auf die Titelseite geknallt; am folgenden Tag findet er seine Freundin Raphaela von Unbekannten mit einer tödlichen Drogendosis abgespritzt. Ob dieses Schicksalsschlags der Sprache beraubt, heftet sich Raoul, einem lebenden Toten gleich, an die Fersen der in seinem Artikel genannten Koksnasen: Welche/r von ihnen mag für die Mordtat verantwortlich sein? Brauerei-Erbe Alexander A. (dynamisch-dekadent: Ulrich Tukur) oder Musiker Benny S.? Filmemacher Roger W. (schnauzbärtig-schlagkräftig: Jürger Draeger) oder Top-Model Sylvia F.? Oder vielleicht Werbe-Kaiser Franz H. (leutselig-glatt: Roger Fritz)? Letztendlich hängen alle mit allen zusammen, bilden ein Netzwerk, dessen allumfassender Macht sich auch Chefredakteur (gewissenlos: Georg Marischka) und Verlegerin (gesinnungslos: Christiane Maybach) des Blattes nicht entziehen können. Angesichts der mycelartig ausgebreiteten Verschwörung sieht sich Raoul zu einer spektakulär-erlösenden Verzweiflungstat genötigt; in ihrer Folge wird der tragische Held wieder mit seiner Geliebten vereinigt – und ist auch noch für eine (sicherlich gewinnbringende) Schlagzeile gut: »Na schön, machen wir einen Märtyrer aus ihm.«

1985 | »Loft« von Eckhart Schmidt

»Laßt, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.« Ein mit markant-männlicher Stimme vorgetragener Prolog spricht von Apokalypse, Chaos, Angst, von Städten in Flammen, einer Welt ohne Hoffnung, kommendem Ende, vom Krieg aller gegen alle, vor dem sich, wer kann, in leere Vergnügungen und hemmungslose Leidenschaften flüchtet ... Auf dem Weg zu einem Ausstellungsbesuch eilen Raoul und Raphaela, er schnöselig-blond, sie blasiert-brünett, durch rauchverhangene Straßen. Die glutrote Illumination des Aufzugs, der in die mit expressiv-aggressiven Bildern vollgehängte Fabriketage hinauffährt, gibt eine Vorahnung von der Hölle, in die das amüsierwillige Schickimicki-Pärchen stürzen wird ... Der Kriegsfilm als Kammerspiel: Nachdem sie, an der präsentierten Kunst nur mäßig interessiert, im Hinterzimmer eine schnelle Nummer geschoben haben und das restliche Publikum die Vernissage verlassen hat, fallen, gleich blutgierigen Todesengeln, die Bewohner des Lofts über ihre ignoranten Besucher her: Furio, der charismatische Hitzkopf, und Kiddy, die rotzige Fanatikerin, Joker und SM, zwei mordlustige Plagegeister, schließlich Daddy, eine Art sterbender Gottvater, der im leidvollen Abgang Dante zitiert: »Durch mich gehts ein zur Stadt der Schmerzerkornen, durch mich gehts ein zur Qual für Ewigkeiten, durch mich gehts ein zum Volke der Verlornen.« Drastische Effekte nicht scheuend, steigert Eckhart Schmidt, während ein sakral-minimalistischer Industrial-Score lärmt und wütet, die Feindseligkeiten von der heftigen sexuellen Attacke zum gnadenlosen Massaker – wobei die überrumpelten Opfer ihren Peinigern an unerbittlicher Brutalität schon bald nicht mehr nachstehen. Nacht der Rache, Nacht der Sünden: im huis clos der Galerie, wo sich das ganze Weltall zu entzünden scheint, erheben sich die ewig Betrogenen gegen die immer Begünstigten: »Ich will, daß es aufhört«, wimmert Kiddy irgendwann. »Es hört aber nicht auf«, keift Furio, auf das schöne reiche (mittlerweile etwas derangierte) Paar weisend, »solange sie dafür sorgen, daß Lüge Wahrheit heißt, Totschlag Leben und Krieg Frieden.«

24. Februar 2017

Führer, Kino, Untergang

Kino | »Hitlers Hollywood« von Rüdiger Suchsland (2017)

»Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?« (2) Zwei Jahre nach seiner an Siegfried Kracauers Schriften anknüpfenden Dokumentation zum Kino der Weimarer Republik widmet sich Rüdiger Suchsland einem weiteren Kapitel deutscher Filmgeschichte: dem Kino im »Dritten Reich«, der siebten Kunst im Spannungsfeld von Masse, Macht und Propaganda. Im Gegensatz zum Vorgängerwerk verzichtet »Hitlers Hollywood« auf Interviews; nur gelegentlich unterbrechen Zitate von Kracauer, Susan Sontag oder Hannah Arendt (»Was die Massen überzeugt, sind keine Fakten, noch nicht einmal erfundene Fakten, sondern die Konsis­tenz der Illusion.«) die knapp zweistündige Montage von Filmausschnitten. Um so größeren Raum nimmt der Kommentartext ein, der praktisch keinen Moment des Films unbesprochen läßt. Wie schon in »Von Caligari zu Hitler« scheint Suchsland keinerlei Erwartungen in Beobachtungsgabe und Urteilskraft des Publikums zu setzen: jedes einzelne Klammerteil von »Morgenrot« (1933) bis »Kolberg« (1945), von den amerikanisierten »Glückskindern« bis zum infamen »Jud Süß«, von der verspätet-neusachlichen »Großstadtmelodie« bis zum lustvoll-todessehnsüchtigen »Opfergang« (ein »deutsches ›Vertigo‹« – holla!) wird erklärt, ausgelegt, eingeordnet, so als befürchtete der Autor, die Zuschauer könnten der nationalsozialistischen Propaganda ohne belehrende Erläuterung vielleicht doch noch erliegen oder möglicherweise eigenständig Gedanken fassen. Durch die schiere Vielzahl der zitierten Filme ergibt sich kaum je die Gelegenheit zur argumentativen Vertiefung; die Ideologiekritik bleibt entsprechend schematisch, zumal Einschätzungen selten aus dem vorgeführten Material abgeleitet werden, sondern das Material zumeist der optische Unterfütterung suggestiver Einschätzungen dient. Da klingt jedes Gelächter gezwungen, da kommt jeder Tod einer Verklärung gleicht, wenn ein Film in exotischem Setting spielt, nennt Suchsland ihn »exotistisch«, wenn ein Film wie »Die Frau meiner Träume« in leuchtendem Agfacolor schwelgt, wird dieses Schwelgen als »hysterisch« etikettiert. Aber inwiefern unterscheidet sich die Hysterie eines Regisseurs wie Georg Jacoby von der eines Michael Powell oder eines Vincente Minnelli, die zur gleichen Zeit ähnlich exaltierte Filme (freilich in Technicolor) inszeniert haben? Wenn Marika Rökk Pirouetten dreht, gleicht sie Suchsland zufolge einem Brummkreisel. Aber was genau trennt die Paprika-Erotik der flotten Ungarin vom handfesten sex appeal der ähnlich stabil gebauten Betty Grable? Und warum läßt eine Reihe von Tänzerinnen in einem Ufa-Film, anders wohl als die chorus line in einem Hollywood-Musical, an Aufmarsch und Gleichschritt denken? So gerinnt der Versuch einer kritischen Entzauberung der Illusion zur geradlinigen Anti-Propaganda, wobei auch Widersprüche nicht ausbleiben: das Kino des »Dritten Reiches«, wird anfangs behauptet, habe keine Ironie, keine Fantasy, keinen auteur (außer Joseph Goebbels) gekannt; später wird die Ironie eines Darstellers wie Hans Albers gewürdigt, der Film »Münchhausen« als Fantasy bezeichnet, der Regisseur Veit Harlan ein auteur genannt. Rüdiger Suchslands Engagement und seine intensiven Recherchen verdienen zweifellos Hochschätzung, die visuelle Qualität der von ihm verwendeten Ausschnitte ist makellos – für eine mögliche Fortsetzung des Projektes in die Nachkriegszeit wäre ihm, neben dem Mut zur Konzentration auf weniger, dafür aber eingehender betrachtete Filmbeispiele insbesondere ein größeres Vertrauen in das Erkenntnisvermögen seiner Zuschauer zu wünschen.

18. Februar 2017

Scherbenhaufen

Kino | »Offene Wunde deutscher Film« von Dominik Graf und Johannes F. Sievert (2017)

»What are you doing in Germany?« Wie auf der letztjährigen Berlinale angekündigt, setzen Dominik Graf und Johannes F. Sievert ihre mit »Verfluchte Liebe deutscher Film« begonnene essayistische Betrachtung des deutschen Genrekinos fort. »Offene Wunde deutscher Film« wirkt dabei weniger wie ein zweiter Teil denn wie ein zweiter Versuch, das Thema zu fassen. Legte »Verfluchte Liebe«, mit intensiver Würdigung der Werke von Klaus Lemke, Roland Klick und Roger Fritz noch einen halbwegs deutlichen historischen Schwerpunkt auf die späten 60er und frühen 70er Jahre, flottiert »Offene Wunde« frei zwischen Zeiten, Orten, Machern: von Enke/Spils’ Münchner Schlaffi-Komödien über experimentierfreudige Fernsehstücke à la Menge (»Smog«), Lemke (»Rocker«), Bringmann (»Theo«) zu Jürgen Goslars rhodesischen Exploitation-Expeditionen (»Der flüsternde Tod«), vom Provinz-/Trash-/Bahnhofskino eines Wolfgang Büld (laut Olaf Möller »ein Ein-Mann-Sonderweg, der gerne der Hauptweg wäre«) über den postfaschistischen Kryptohorror des Nachkriegsfilms (»Rosen blühen auf dem Heidegrab«) zu Wolfgang Petersens Weg vom »Tatort« aufs »Boot« nach Hollywood, von den dunklen Geheimnissen Grünwalds über das mal mehr, mal weniger erfolgreichen Publikumskino der 80er Jahre (Schmidt, Schenkel, Huettner, Müllerschön) zur fast vollständigen Austrocknung der Genresümpfe nach der Wende (es berichten: Robert Sigl und Achim Bornhak). Graf spricht mit Produzenten (Berling, Schühly, Geissler), die leidlich amüsante Anekdoten beisteuern, mit Komponisten (Schoener, Knieper, Doldinger), die sich unter anderem zum Stellenwert der Melodie in der deutschen Filmmusik äußern, mit Schauspielern, Kritikern, Redakteuren, auch mit zwei seiner Drehbuchautoren (Kai Meyer und Günter Schütter), ohne allerdings die eigene (durchaus wichtige) Rolle im deutschen Genrefilm und -diskurs zu thematisieren oder zu reflektieren. Die Zahl der Interviewpartner hat sich im Vergleich zum Vorgängerfilm gefühlt verdoppelt – entsprechend fetzenhaft und oberflächlich bleiben viele der Statements. Wiederum zeigen Graf und Sievert auf, daß von einer »Geschichte des deutschen Genrekinos« nicht die Rede sein könne, daß lediglich die Unternehmungen, Abenteuer, Geniestreiche von Einzelnen, Vereinzelten, Einsamen zu beschauen und bestaunen seien; ihre sprunghaft-abgehackte Herangehensweise an den Gegenstand erzeugt in diesem Falle allerdings vollends den Eindruck inhaltlicher Beliebigkeit und erzählerischer Verwirrung.

16. Februar 2017

Dial M for Mother

Hitchcocks Mütter 

»When I was just a little boy, I asked my mother, ›what will I be?‹«

Emma Jane Hitchcock (1863-1942)

»Als Hitchcocks Vater vierzig wurde, ging es mit seiner Gesundheit bergab. Das führte dazu, daß die Mutter noch dominierender wurde, als es in East-End-Familien ohnehin üblich war. Unausweichlich wurde Alfreds Mutter zum Zentrum im Leben des Jungen, wobei Mrs. Hitchcock ihr jüngstes Kind mit übergroßer Zärtlichkeit umgab, aber auch mit einer zu dieser Zärtlichkeit heftig kontrastierenden Strenge, die ihrem irisch-katholischen Hintergrund entstammte.« (Donald Spoto: »Alfred Hitchcock – Die dunkle Seite des Genies«)

Emma Newton in »Shadow of a Doubt« (1943)

Die glückliche Glucke ... »Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise.« Fast scheint es, als hätte Schiller in seinen Versen Emma Newton (Patricia Collinge) vorausgeahnt. Ist es ein Zufall, daß diese Verkörperung seelenvoller Fürsorglichkeit denselben Vornamen trägt wie die Mutter des Regisseurs? Die Fixierung auf den Familienverband kann jedoch, wie in Emmas Fall, zu einer (beinahe) fatalen Blindheit für die Schrecken der Welt führen.

Madame Sebastian in »Notorious« (1946)

Die Über-Mutter ... Madame Sebastian (Leopoldine Konstantin), Musterbild eisiger Höflichkeit und eiserner Disziplin, bildet sich ein, alles besser zu wissen als ihr Sohn Alex, ein Mann in den (freundlich gesagt) besten Jahren. Bittere Ironie: Sie weiß es wirklich besser. Als Alex sich einmal, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, über den Rat der alten Dame hinwegsetzt und seinen Gefühlen folgt, ist er dem Untergang geweiht. Auch Mutters über Leichen gehende Berechnung kann ihm da nicht mehr helfen.

Mrs. Anthony in »Strangers on a Train« (1951)

Die Mutter des Mörders (I) ... Um ihrer psychischen Störungen Herr zu werden, verfertigt Mrs. Anthony (Marion Lorne) Bilder, die an die Werke der Künstler von Gugging erinnern. Ihrem Sohn Bruno ist dieses gesellschaftsfähige Mittel der nervlichen Entlastung nicht gegeben. Er läßt seinen Dämonen anderweitig freien Lauf.

Jessie Stevens in »To Catch a Thief« (1955)

Die lustige Witwe ... Jessie Stevens (Jessie Royce Landis), bodenständige Mutter der gezierten Blondine Frances (»Oh, mother!«), hinterbliebene Gattin eines verstorbenen Selfmade-Millionärs, adoptiert kurzerhand den idealen Schwiegersohn, einen retirierten Juwelendieb, der willkommene Aufregung in ihr langweiliges Jet-Set-Leben bringt. Am Ende liegt, bei aller mittelmeerblauen Heiterkeit, eine gewisse Bedrohung über der Zukunft des sich findenden Paares: Mutters immerwährende Anwesenheit.

Jo McKenna in »The Man Who Knew Too Much« (1956)

Das singende Muttertier ... Anders als Emma Newton hat Jo McKenna (Doris Day) einen Instinkt für Gefahr, und sie ist so klug, diesem Instinkt zu vertrauen. Wie eine Löwin kämpft sie um das Leben ihres verschleppten Jungen. Sie kämpft mit dem Mittel, das ihr von der Natur gegeben ist: mit ihrer Stimme. Rettung bringt ein Kinderlied, dessen naiven Fatalismus (»Que sera, sera«) Jo für sich und die Ihren nicht gelten läßt.

Midge Wood in »Vertigo« (1958)

Die mütterliche Freundin ... Mit den Worten »Oh now, Midge, don’t be so motherly!« läßt der unter Höhenangst leidende, einem morbiden Liebeswahn verfallene John ›Scottie‹ Ferguson die zärtliche Besorgnis seiner altvertrauten Gefährtin (Barbara BelGeddes) abblitzen. In der Stunde größter Verzweiflung wird Midge ihm zur pietàhaften Trösterin (»Mother is here.«), ohne daß freilich ihre Stimme den unglücklichen »Sohn« noch erreichen könnte.

Mrs. Thornhill in »North by Northwest« (1959)

Die Mutter als ewige Zweiflerin ... Es gibt Alpträume, die von der Unfähigkeit handeln, eine einfache Tätigkeit auszuführen, etwa eine bestimmte Telefonnummer zu wählen. Roger O. Thornhill befindet sich in einer ähnlichen, doch ungleich bedrohlicheren Situation: Es gelingt ihm nicht, seine Mutter davon zu überzeugen, in Lebensgefahr zu schweben. Mrs. Thornhill (Jessie Royce Landis) kann über die Ängste ihres Sohnes nur lachen: »You gentlemen aren’t really trying to kill my son, are you?«

Mrs. Bates in »Psycho« (1960)

Die Mutter des Mörders (II) ... »A boy’s best friend is his mother.« Ein Fall von gespaltener und zugleich verdoppelter Persönlichkeit, eine Verbindung auf Leben und Tod. Zwischen dem kauzigen Motel-Betreiber Norman und der unheimlichen Mrs. Bates besteht die wohl innigste wie auch destruktivste aller von Hitchcock beschriebenen Mutter-Sohn-Beziehungen: »Mother! Oh God, mother! Blood! Blood!«

Lydia Brenner in »The Birds« (1963)

Die eifersüchtige Mutter ... Als sich ihr Sohn Mitch in ein flatterhaftes Society-Girl verliebt, reagiert Lydia Brenner (Jessica Tandy) gereizt. Nicht so sehr, weil sie den unangepaßten Lebensentwurf des Mädchens mißbilligte, sondern weil sie fürchtet, den Anschluß an und damit die Kontrolle über ihre Nächsten zu verlieren. Während die Welt unter die Fittiche des Bösen gerät, stemmt sich Lydia gegen ihr Schicksal als Mutter: »I don’t want to be left alone.«

Bernice Edgar in »Marnie« (1964)

Die Mutter als offene Wunde ... Alles, alles würde Marnie tun, um die Liebe ihrer Mutter zu erringen, zu erzwingen. Tatsächlich tut sie auch fast alles dafür: sie lügt, sie betrügt, sie stiehlt (und bleibt dabei auf ihre Art anständig). Doch zwischen Bernice Edgar (Louise Latham) und ihrer Tochter klafft ein roter Abgrund von Schuld. »Why don’t you love me, Mama?« fragt Marnie verzweifelt. Als sie den Grund endlich erfährt, ist es für die ersehnte Liebe zu spät.

Mrs. Rusk in »Frenzy« (1972)

Die Mutter des Mörders (III) ... Eine freundliche ältere Dame aus Kent, auf Stippvisite im schaurig-gemütlichen Londoner Heim ihres Sohnes. Das Bild der lächelnden Mutter (Rita Webb) hängt über dem Bett, in dem der allseits beliebte Obsthändler Bob Rusk (»Don’t squeeze the goods ’til they’re yours.«) hin und wieder Damenbesuch stranguliert. Oder wie die »great old lady« sagen würde: »Home is the place where, when you have to go there, they have to take you in.«

Pinteresque

Filme nach Drehbüchern von Harold Pinter

»What goes on in my plays is realistic, but what I’m doing is not realism.« (Harold Pinter, 1961)

Harold Pinter (1930-2008) ist bis heute der einzige Träger des Literaturnobelpreises, dessen Arbeit für den Film (und das Fernsehen) gleichrangig neben dem literarischen (in diesem Falle: dramatischen) Werk steht. Abgesehen von mehreren Fernsehspielen verfaßte Pinter zwischen 1963 und 2007 über 20 Drehbücher für so unterschiedliche Regisseure wie Joseph Losey und Elia Kazan, William Friedkin und Karel Reisz. Der Bühnenautor Pinter, neben Franz Kafka stark von Samuel Beckett beeinflußt, wird, vor allem mit seinen frühen Stücken, dem Theater des Absurden zugerechnet. Anders als Beckett suchte er die tragikomische Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz allerdings nicht im überzeitlichen Irgendwo darzustellen sondern in herkömmlich möblierten Zimmern. Alltagssprachliche Dialoge legen mittels redundanter Schleifen und ausgeleierter Floskeln, absichtlicher Mißverständnisse und apathischer Begriffsstutzigkeit, aberwitziger Komik und bedeutungsvoller Pausen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen bloß, offenbaren die Illusion von Sicherheit, die Brüchigkeit von Ordnung. Späterhin gewann das Thema Erinnerung zunehmend Bedeutung für Pinter, wobei er sein Augenmerk auf die – bewußte oder unbewußte – nachträgliche Manipulation des Erlebten sowie auf die stetige wechselseitige Beeinflussung von Vergangenheit und Gegenwart richtete. Harold Pinter hat kein einziges Originaldrehbuch geschrieben, sondern (neben vier eigenen Stücken) ausschließlich Werke anderer Autoren für die Leinwand adaptiert; er selbst bezeichnete diese Form künstlerischer Arbeit als »serious and fascinating craft«. Zwei seiner Drehbücher wurden für den Oscar nominiert.

1963 | »The Servant« (»Der Diener«)

Der reiche Schnösel Tony (James Fox) bezieht ein Haus in schicker Londoner Gegend und engagiert den Diener Barrett (Dirk Bogarde) zur persönlichen Rundumversorgung: »I need everything«, gibt der junge Herr dem dienstbaren Geist im Einstellungsgespräch offenherzig zu verstehen – wobei schon in dieser ersten Szene des Films die Frage im Raum steht, wer sich hier eigentlich wen aussucht. Mit formvollendeter Servilität und ausgekochter Resolutheit – sowie unter wohlbedachtem Einsatz des triebhaft-erbötigen Flittchens Vera (Sarah Miles) – übernimmt der Untergebene peu à peu das Regiment im Heim und im Leben des Hausherrn. Tonys mißtrauische (= eifersüchtige) Verlobte Susan (Wendy Craig), von Barrett souverän ins Aus manövriert, stellt ihm die entscheidende Frage: »What do you want from this house?« Die heimtückisch-devote Antwort: »I'm the servant, Miss.« … Zuvörderst läßt sich »The Servant« als Allegorie des Klassenkampfes lesen: Tony als Symbol der dekadenten upper crust, Barrett als Personifikation der aufstrebenden Unterschicht. Doch jenseits historisch-materialistischer Veranschaulichung setzen Harold Pinter und Regisseur Joseph Losey ein ironisch-ausgeklügeltes Machtspiel in Gang, ein explosiv-doppelbödiges Beziehungsballett um Dominanz und Unterwerfung. Dann ist da die boshaft-klaustrophobische Travestie einer Ehegeschichte: Tony und Barrett als Paar, das sich gesucht und gefunden hat, das sich bis zur letzten Konsequenz pervers-perfekt ergänzt. Und schließlich läuft ein tiefenscharf-neoexpressionistischer Psycho-Horror-Streifen ab (Kamera: Douglas Slocombe): Barrett als Vampir, der sich von Tonys Lebensenergie nährt, der ihn aussaugt, bis lediglich seine leere Hülle übrig bleibt.

1964 | »The Pumpkin Eater« (»Schlafzimmerstreit«)

Szenen einer Ehe in den Zeiten des Überflusses ... »My life is an empty place.« Diejenige, die das sagt, hat acht (!) Kindern von drei Vätern: Jo Armitage (Anne Bancroft), verheiratet mit Jake (Peter Finch), einem erfolgreichen Drehbuchautor, der jedem Rock hinterherläuft. »The Pumpkin Eater« (der Titel zitiert einen alten englischen Kinderreim: »Peter, Peter, pumpkin eater / Had a wife and couldn't keep her. / He put her in a pumpkin shell / And there he kept her very well«) verfolgt – von Harold Pinter nicht linear nacherzählt, sondern in erhellenden Rück- und Vorausblenden seziert – den Weg eines wohlhabenden Londoner Paares vom ersten Kennenlernen, durch Höhen und Tiefen, bis zur großen Krise (Höhepunkt: Jos theatralischer Nervenzusammenbruch im Kaufhaus Harrods), in der sich (für beide Partner) die Frage von Gehen oder Bleiben stellt. Regisseur Jack Clayton – der zuvor, mit jeweils großer formaler Finesse, eine düstere Sozialstudie und einen schauerromantischen Horrorfilm drehte – inszeniert die Beziehungsgeschichte der krankhaft fruchtbaren Frau und des zwanghaft fremdgängerischen Mannes im Stile eines extravaganten Naturalismus von bisweilen halluzinatorischer Qualität. Die Thematisierung zwischenmenschlicher Entfremdung, die satirische Verzerrung gesellschaftlicher Verhältnisse verraten Einflüsse von Antonioni und Fellini; Oswald Morris’ scharfsichtige Schwarzweißbilder, Georges Delerues elegischer Score, vor allem aber die außerordentlichen Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen dieser ebenso originellen wie strapaziösen filmischen Betrachtung von Liebe und Sex, Bindungswunsch und Fluchtreflex, Normen und Neurosen ihre ganz eigentümliche Faszinationskraft.

1966 | »The Quiller Memorandum« (»Das Quiller-Memorandum – Gefahr aus dem Dunkel«)

»That’s where you are, Quiller. In the gap.« Surreal angehauchte Spionagecharade in den Ruinen und Neubauten von (West-)Berlin: Quiller (ein Mann allein: George Segal) auf der Spur einer konspirativen Neonazi-Organisation unter der semmelblonden (Reichs-)Führung eines gewissen ›Oktober‹ (Max von Sydow). Vom modernen Glasturm des Europa-Centers bis zur verranzten Kreuzberger Absteige, von den ausgebombten Gründerzeitvillen im Tiergartenviertel bis zu den Betonbändern der Stadtautobahn nutzt Harold Pinter die Halbstadt als Bühne eines absurden Theaters der Undurchschaubarkeit, des Mißtrauens, der Verstellung. Michael Andersons unverspielte Inszenierung der sehr freien Bearbeitung des betont knallharten Agentenromans von Adam Hall wird insbesondere der spröden Ironie der hintergründigen Pinterschen Dialoge gerecht. Mit von der geheimnisvollen Partie: Alec Guinness, erzbritisch und mit einer Vorliebe für Leberwurst, sowie Senta Berger, jung und schön und weniger unschuldig, als man denken möchte. Dazu ein melancholisch aufrauschender Soundtrack von John Barry: »I am wednesday’s child, born to be alone.«

1967 | »Accident« (»Accident – Zwischenfall in Oxford«)

Ein Sonntagnachmittag im Garten. Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Rosalind macht ein Nickerchen, Stephen jätet Unkraut, Anna flicht einen Kranz aus Gänseblümchen, Charley erklärt William, wie einfach es ist, einen Roman zu schreiben: »Child’s play. All you need is a starting point. Here for instance.« – »Where?« – »Here, on this lawn. What are we all up to?« Rosalind (Vivien Merchant) ist hochschwanger, ihr introvertierter Ehemann Stephen (Dirk Bogarde), Dozent in Oxford, lechzt nach seiner attraktiven Studentin Anna (Jacqueline Sassard), die mit ihrem blaublütigen Kommilitonen William (Michael York) zusammen ist und mit Stephens großspurigem Kollegen Charley (Stanley Baker) ins Bett geht … Die Emotionen, die dieser spannungsreichen Konstellation innewohnen, werden fast vollständig kaschiert vom jederzeit angemesenen Verhalten der wohlerzogenen Beteiligten, sind zwischen den Zeilen der herausfordernd belanglosen Konversationen (Harold Pinter auf der Höhe seiner Kunst) lediglich zu erahnen, entladen sich jedoch schließlich im titelgebenden Unfall. Die Katastrophe (von der ausgehend die Handlung als Rückblende entwickelt wird) ist nichts weiter ist als einer der vielen scheinbar zufälligen Umstände, die sich, von Joseph Losey demaskierend präzise in Szene gesetzt, zur elliptischen Erzählung reihen. »Philosophy«, erläutert Stephen in einer Tutorenstunde, »is a process of inquiry only. It doesn’t attempt to find specific answers to specific questions.« Losey und Pinter tun im Grunde nichts anderes: Sie untersuchen an ihren Studienobjekten Phänomene wie Verlangen und Frustration, Ehrgeiz und Entwürdigung, Contenance und Grausamkeit. Daß dabei das (durchaus ironische) Portrait einer Gesellschaft von (hochkultivierten) Zombies entsteht, ist wohl so wenig zufällig wie der Crash, mit dem der Film beginnt und endet.

1971 | »The Go-Between« (»Der Mittler«)

»The past is a foreign country. They do things differently there.« Das Jahr 1900. Ein Sommer auf dem Lande. Zuerst: Hitze, Geheimnis, Mutmaßung. Dann: Gewitter, Erkenntnis, Ende der Unschuld. Der 12jährige Bürgersohn Leo Colston verbringt die Ferien auf Brandham Hall, dem Anwesen der Familie eines adligen Schulfreunds. Nicht ganz unfreiwillig gerät der Gast in die Liebeshändel zwischen Marian, der schönen (und mit einem sympathischen Viscount verlobten) Tochter des Hauses (divine: Julie Christie), und dem benachbarten Farmer Ted Burgess (down-to-earth: Alan Bates). Leo trägt Briefe hin und her, übermittelt – anfangs eifrig-naiv, später mißtrauisch-widerstrebend – zärtliche Botschaften, deren substantiellen Inhalt er dunkel ahnt, ohne ihn noch benennen zu können. Harold Pinters Drehbuch, die Adaption eines autobiographisch inspirierten Romans von L. P. Hartley, erforscht eine gleichermaßen verlockende wie unwirtliche Welt aus der Perspektive eines Außenseiters, der, als Botschafter über Geschlechter- und Klassengrenzen hinweg, unweigerlich in Loyalitätskonflikte verwickelt wird. Regisseur Joseph Losey, ein in England gestrandeter Midwesterner, beschreibt das einerseits sorglos-luxuriöse, andererseits in Etikette und Ritual befangene Leben der britischen Oberklasse greifbar, anschaulich, lebendig, schafft eine helldunkle, von Michel Legrands neobarockem Klavierscore kongenial verstärkte Atmosphäre von Bedrohung und Glanz, Nervosität und Sehnsucht. Letztlich erweist sich die immer wieder von subtil irritierenden Vorausblenden unterbrochene (Coming-of-age-)Erzählung als Erinnerung an eine Vergangenheit, die (mehr als) ein ganzes Leben düster überschattet hat.

Anfang der 1970er Jahre verfaßte Harold Pinter für Joseph Losey eine Adaption von Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«, die das siebenbändige Romanwerk zu einem Film von etwa vier Stunden Länge kondensieren sollte. Die Umsetzung des 200seitigen Drehbuch mit seiner komplexen Rückblendenstruktur kam aus finanziellen Gründen nicht zustande. Das Skript erschien 1977 als Buch (»The Proust Screenplay«) und wurde im Jahr 2000 von Pinter für die Bühne bearbeitet.

1976 | »The Last Tycoon« (»Der letzte Tycoon«)

»So how do you want the girl?« – »Perfect.« Harold Pinters Adaption des letzten, unvollendet gebliebenen Romans von F. Scott Fitzgerald, entwirft das Bildnis eines fanatischen Perfektionisten und egomanen Arbeitstiers: Die Figur des Monroe Stahr (Robert De Niro), Produktionschef der International World Films, eines der größten Studios im Hollywood der 1930er Jahre, ist angelehnt an Irving Thalberg, der eine vergleichbare Position bei MGM innehatte. Stahr, Erfinder der hierarchischen Arbeitsteilung im Studiosystem, eingeschworener Gegner des künstlerischen Mitspracherechts für Untergebene, unbeschränkter Herrscher im Atelier wie im Vorführraum, wird in diversen Situationen gezeigt, die schlaglichtartig seine Persönlichkeit beschreiben: wie er einem verunsicherten Star (Tony Curtis) über Potenzprobleme hinweghilft, wie er eine kapriziöse Diva (Jeanne Moreau) umschmeichelt, wie er einen unfähigen Regisseur (Dana Andrews) entläßt, wie er einem frustrierten Autor (Donald Pleasence) das Geheimnis des Kinos erklärt, wie er den skeptischen Studioboß (Robert Mitchum) in Schach hält, wie er betrunken einen radikalen Gewerkschafter (Jack Nicholson) attackiert, wie er eine Frau umgarnt, die ihn an seine verstorbene Gattin erinnert. Stahrs Leidenschaft für die enigmatische Kathleen Moore (Ingrid Boulting) entspricht seiner Obsession für das Medium Film, und wie ein Kinostück arrangiert er denn auch die Affäre mit der geisterhaft wirkenden Schönen, die sich ihm letztendlich entzieht. Elia Kazans sorgfältig-stilbewußte, unterkühlt-langsame Inszenierung der episodisch strukturierten Milieu- und Charakterstudie verfolgt das Schicksal des zwiespältigen Helden bis zu seinem unvermeidlichen Sturz, wobei das Ausmalen (un-)romantischer Stimmungen die Darstellung der in der Filmmetropole waltenden (Produktions-)Verhältnisse immer wieder in den Hintergrund treten läßt. PS: »All writers are children. Fifty percent are drunks. And up till very recently, writers in Hollywood were gag-men; most of them are still gag-men, but we call them writers.«

To be continued (some day) ...

17. Januar 2017

Bla Bla Bland

Kino | »La La Land« von Damien Chazelle (2016)

»An homage? Not exactly. We just stole the idea outright.« (Tony in »Stardust Memories«) Auch wer nie zuvor ein Kinomusical gesehen hat, wer die filmische Konzeption, Personen der Handlung gelegentlich singen und/oder tanzen zu lassen, für einen kreativen Einfall hält, wird nicht umhin können, die außerordentliche Schlichtheit der von Damien Chazelle dargebotenen bonbonbunten L.A.-Story zu bemerken: pianist (hollow: Ryan Gosling) meets actress (enchanting: Emma Stone), pianist loses actress, pianist opens club, actress makes it to the top ... well. Seit es Kinomusicals gibt (also seit Erfindung des Tonfilms), ist das Unterhaltungsgewerbe ein bevorzugtes Thema des Genres, angefangen von den »Broadway Melodies« der 1930er Jahre, über Klassiker wie Kelly/Donens »Singin’ in the Rain« oder Minnellis »The Band Wagon«, bis hin zu Scorseses New-Hollywood-Glanzstück »New York, New York«, das fulminant von den Höhen und Tiefen einer Künstler-Ehe erzählt. Chazelle exploitiert unbefangen all diese Quellen (und bedient sich außerdem großzügig bei Jacques Demy), ohne allerdings »La La Land« (bei aller technischen Befähigung) einen individuellen künstlerischen Ausdruck verleihen oder dem Schauplatz Los Angeles originelle Facetten abgewinnen zu können. Zum Eindruck faden Kopistentums trägt nicht unwesentlich ein Score bei, der über weite Strecken so klingt, als hätte der Komponist den Papierkorb von Michel Legrand geplündert.