30. November 2012

Tante Emma Onkel Paul

DVD | »Drüben bei Lehmanns« von Herbert Ballmann und Rolf Schulz (1970 ff.)

Wem die »Drei Damen vom Grill« nicht kiezig-vermieft genug sind, wird »Drüben bei Lehmanns« bestens bedient. Die Serie erzählt, ohne jedes formale Chichi, erfrischend belanglose Episödchen rund um ein Lebensmittelgeschäft in der Ludwigkirchstraße im gutbürgerlichen Westberliner Stadtteil Wilmersdorf (bekannt durch die sprichwörtlichen Witwen). Inhaber Paul Lehmann (Walter Gross), die gute Seele des Viertels, eine Art Blockwart mit menschlichem Antlitz, kümmert sich eifrig um alle anfallenden Sorgen und Wehwehchen; sein Bruder Kurt (Gustav Knuth) muß ihm als Bezirksverordneter immer wieder dabei helfen, die kleine Welt zu retten; Pauls Frau Else (Brigitte Mira) gibt es der dankbaren Kundschaft derweil in Scheiben oder im Stück – gerne darf es auch ein bißchen mehr sein. Zum Knuddeln und Ohrfeigen: Fräulein (!) Edeltraud Plischke (unglaublich: Erika Rehhahn), die als wißbegierig-verquatschte, rollmops- oder salzgurkenfutternde Friseuse die beschauliche Gegend in emotionale Dauerwellen legt. Über allem schwebt der ferne, beruhigende Klang der Freiheitsglocke, in jeder Szene ist das heimatlich-metallische Aroma von Dosenfleisch aus Senatsreserven zu erschmecken. Es handelt sich, kurz gesagt, um einfältig-authentischen Frühsiebziger-SFB-Werbefunk-Unkult mit wachsweichem Herz und penetranter Schnauze. PS: Nur ein paar Gehminuten entfernt, in der Kufsteiner Straße, wohnte zur gleichen Zeit Ulrike Meinhof, aber die großen Erschütterungen der Ära müssen, wie es sich für den immerwährenden deutschen Vorabend gehört, natürlich draußen bleiben.

26. November 2012

Steinzeitballaden

Vier Berliner Nachkriegsfilme 

1946 | »Die Mörder sind unter uns« von Wolfgang Staudte

Die Stunde Null, die keine ist. Schatten der schuldhaften Vergangenheit liegen über der zerstörten Stadt, über den geschlagenen Menschen. Ernst Wilhelm Borchert als Chirurg Dr. Mertens (= der Trübsinn) – ein Arzt, der kein Blut sehen kann, ein Mann, der über seine schlimmen Kriegserinnerungen zum Säufer wird. Hildegard Knef als junge KZ-Überlebende Susanne Wallner (= die Zuversicht), die dem gebrochenen Mediziner aufmunternde Stütze, gutes Gewissen, schließlich verständnisvolle Gefährtin ist. Der Mörder (einer stellvertretend für viele) erscheint als gemütlicher Dicker (Arno Paulsen), der als Wehrmachtsoffizier am Weihnachtsabend 1942 irgendwo im Osten ein Dorf ausradieren ließ. Nach Kriegsende ist Ferdinand Brückner (so heißt der joviale Killer) schnell wieder obenauf, verarbeitet Stahlhelme zu Kochtöpfen. Am Weihnachtsabend 1945 soll der Täter für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden ... Der erste deutsche Film nach der bedingungslosen Kapitulation, entstanden bei der sowjetisch lizensierten Defa. Wolfgang Staudte orientiert sich weniger am kargen Verismus des italienischen Nachkriegsfilms, eher an der delikaten Stimmungsmalerei des traditionellen Studiokinos. Nie (außer vielleicht in den Bombennächten) waren die Ruinen von Berlin so effektvoll illuminiert wie in diesem neoexpressionistischem Trümmermelodram, das auf die erzieherische Moral hinausläuft, nichts zu vergessen, aber stets auch hoffnungsvoll nach vorne zu schauen.

1946 »Irgendwo in Berlin« von Gerhard Lamprecht

Die zerbombte Stadt als grenzenloser Abenteuerspielplatz: In den Ruinen spielen die Zehnjährigen das nach, was sie kennen, was sie erlebten: Krieg. Die Erziehungsberechtigten haben ausgedient, sind überfordert oder kriminell, im besten Falle wohlmeinend und doch wie gelähmt angesichts des Schlamassels, das sie angerichtet haben. Gerhard Lamprecht, der 15 Jahre zuvor Erich Kästners »Emil und die Detektive« adaptiert hatte, greift Motive des Klassikers auf, gibt Beispiele von jugendlicher Freundschaft und Solidarität. Aber eine konsistente Story ist in der Trümmerlandschaft mit ihren sittlichen Gefährdungen und tödlichen Gefahren nicht mehr zu erzählen: »Irgendwo in Berlin« reiht Episoden, setzt Schlaglichter, entwirft Portraitskizzen. Gustav erwartet sehnsüchtig die Rückkunft seines Vaters, der den zerstörten Garagenhof wiederaufbauen soll; der deprimierte Heimkehrer indes sieht keinen Sinn in einem Neuanfang; Gustavs Freund Willi hat Heimat und Eltern verloren, stromert durch die Schuttwüste, haust bei einer freundlich-besorgten Ladenbesitzerin, deren mieser Untermieter den Jungs Feuerwerk gegen Lebensmittel verkauft; ein traumatisierter Soldat steht reglos am Fenster, hält Wacht … Lamprecht scheut sich nicht, die Tränendrüsen zu massieren, um eine kathartische Wirkung zu erzielen: Der (dritte) Defa-Film schließt als gefühlsbetontes Pamphlet, mahnt pathetisch, es endlich besser zu machen, die geistige Lähmung zu überwinden, die destruktiven Energien in Kräfte für den Wiederaufbau umzupolen.

1947 »Razzia« von Werner Klingler

Im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit sind Kriminalkommissar Naumann (Paul Bildt) und seine Mitarbeiter (einer davon ist sein Schwiegersohn in spe) einer Schieberbande auf der Spur, die mit Alkoholika und Medikamenten auf dem Schwarzmarkt großen Reibach macht. Zentrum der professionellen Schmuggelei ist das Vergnügungsetablissement ›Alibaba‹, dessen zwielichtiger Chef auch über interne Informationen aus dem Polizeipräsidium verfügt … Weit entfernt von jedem Noir-Appeal, verbindet Werner Klinglers Defa-Krimi Impressionen von Originalschauplätzen des Schleichhandels (am zerstörten Reichstag, am Brandenburger Tor) mit einer nicht sonderlich komplexen Intrige (die auch zwischenmenschliche bzw. innerfamiliäre Komplikationen und den Tod des Chefermittlers einschließt) und etwas Tingeltangel zum braven Zeitbild. Der moralische Zeigefinger ragt allseits aus dem Trümmerschutt, aber immerhin sorgen originelle Nebendarsteller wie der nur scheinbar gemütliche Arno Paulsen (als fetter Spediteur) oder der quäkstimmige Walter Gross (als »flotter Willi«) für reichlich Berliner Hintertreppenflair.

1947 »… und über uns der Himmel« von Josef von Báky

»Was soll denn werden? / Es muß doch weitergeh’n!« Mit einem Rucksack voller Lebensmittel (= Schieberware) kehrt Hans Richter (Hans ›Hoppla, jetzt komm’ ich!‹ Albers) aus dem Weltkrieg zurück ins zertrümmerte Berlin. Zunächst nutzt der ehemalige Kranführer das Schwarzhandelsgut, um die eigene Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen (»Ein Griff, ein Pfiff, ein Kniff – und fertig ist die Laube.«) und um die verwitwete Studienratsgattin von nebenan zu beeindrucken (»Heute paßt vieles zusammen, was früher keine Garnitur abgegeben hätte.«) – dann findet er Geschmack am leichtverdienten Geld, infolgedessen er der Rückkehr in den Brot(los)beruf eine Karriere als Geschäftemacher vorzieht. Richters (zunächst kriegsblinder, dann wieder klarsehender) Sohn bläst dem losen Alten schließlich den Marsch der Lauterkeit, und am Ende kommt alles wieder ins kleinbürgerliche Lot … Der erste deutsche Nachkriegsfilm unter amerikanischer Lizenz: eine Mischung aus Studiokünstlichkeit und Ruinenrealismus, aus zeitkritischem Durchhalteroman und lehrhafter Standpauke. Daß der »blonde Hans« lediglich vorübergehend auf Abwege geraten kann (und dann auch nur aus väterlicher Sorge um seine Liebsten), versteht sich dabei im Grunde von selbst. Wie in alten Ufa-Zeiten erhellt ein schimmernder Lichtreflex Albers’ vertrauenswürdige Augen, und Josef von Báky inszeniert den sympathischen Filou als eine Art Münchhausen im Schutt: immer kregel, immer patent, nie um eine Ausrede verlegen und noch im Zwielicht lebensmutig strahlend. Ein Lied darf er auch singen, zur besinnlich-optimistischen Dreigroschenmusik von Theo Mackeben: »Der Wind weht von allen Seiten. / Na, laß den Wind doch weh’n. / Denn über uns der Himmel, / Läßt uns nicht untergeh’n.«

Fortsetzung folgt.

25. November 2012

Berlin Drifter

Kino | »Oh Boy« von Jan-Ole Gerster (2012)

24 Stunden aus dem Leben eines modernen Taugenichts. Niko Fischer treibt durch Berlin, Begegnungen und Orte reihen sich episodisch aneinander: das Schlafzimmer eines Mädchens, ein weinerlicher Nachbar, der Psychologe beim Idiotentest, ein eitler Schauspieler in Naziuniform auf dem Set, der Vater auf dem Golfplatz, Fahrkartenkontrolleure in der U-Bahn, ein Dealer und seine feenhafte Oma im Plattenbau, eine ehemalige Mitschülerin im Off-Theater, provokative Aggro-Kids, eine nächtliche Kneipenbekanntschaft, ein Krankenhausflur und, immer wieder, Nikos unmöblierte Wohnung mit Blick auf die vorbeiratternde Hochbahn. Durch die lakonisch-intensive Darstellung Tom Schillings erhält der stets höflich-beherrschte junge Tagedieb eine Kontur, die er in Wirklichkeit nicht hat: Niko hat kein Geld, keinen Plan, keine Idee von sich selbst, kein Feuer für die eigene Zigarette, nur ein paar Kartons mit altem Plunder. Das einzige, was er will, ist eine Tasse Kaffee, und die zu bekommen, erweist sich als beinahe unmöglich … Die Erzählung macht sich die Ziellosigkeit des Protagonisten mit Gewinn zu eigen; weil alles wie nebenbei geschieht, weil die Ereignisse des Tages so zufällig, austauschbar, folgenlos erscheinen, atmet »Oh Boy« eine schwebende, melancholische Freiheit. Aus dem Kontrast zwischen der Beliebigkeit des Geschehens und seiner präzisen Inszenierung entwickelt sich der eigentümliche Reiz des Werks: Autor und Regisseur Jan-Ole Gerster fügt spielerischen Situationswitz und satirische Forcierung von Alltagsbeobachtungen zum tragikomisch-feinfühligen Portrait eines desorientierten Menschen, der schmerzlich erkennen muß, daß er selbst, nicht die anderen, die Ursache seines Problems ist – die Welt ist kein romantisches Versprechen, sondern der Platz, wo niemand auf einen wartet. Die zweite Hauptrolle des Films spielt Berlin: Wie Niko stets in unsteter Bewegung, fotografiert in elegantem Schwarzweiß (Kamera: Philipp Kirsamer), wirkt die Stadt gleichermaßen gegenwärtig und zeitlos, unverwüstlich und flüchtig, wie ein ewiges Bild ihrer selbst, das schon im Moment der Ablichtung zerfällt.

4. November 2012

Mabuse – eine deutsche Karriere

1922 | »Dr. Mabuse, der Spieler« von Fritz Lang

Ein fiebriges Panorama der deutschen Zerrüttung: Der verlorene Weltkrieg liegt wie ein Leichentuch über einer kaputten Zeit, in der Schieber, Schurken und Seelenfänger ihren Schnitt machen. Der brillante Nervenarzt Dr. Mabuse, eine Schöpfung des Schriftstellers Norbert Jacques, nutzt seine psychologischen (und hypnotischen) Fähigkeiten sowie seine außerordentliche asoziale Kompetenz zur Durchführung unzähliger Verbrechen: Börsenspekulation und Geldfälschung, Pressemanipulation und Betrug, Entführung und Mord. Finanzieller Erlös ist nur ein Teilaspekt seines kriminellen Tuns, der eigentliche Reiz liegt für ihn im Spiel mit Menschen und Menschenschicksalen, im Lustgewinn der Selbsterhöhung. »Es gibt keine Liebe, es gibt nur Begehren! Es gibt kein Glück, es gibt nur Willen zur Macht!« Das Genie des Bösen (verkörpert von Rudolf Klein-Rogge) wechselt ständig die Masken, ist schier allgegenwärtig. Sein Revier ist der Ort der Epoche: die rastlose Metropole (ein überhöhtes Berlin, das der Film nicht beim Namen nennt). Indem er Mabuses geschäftiges Treiben verfolgt, wird Fritz Lang zum Cicerone der (von Otto Hunte in Babelsberg gebauten) Großstadt, streift durch Börse und Casino, Revuetheater und Gefängnis, Luxusrestaurant und Spelunke, spiritistische Cercles und muffige Büros, feudale Stadtvillen und die Quartiere der Hungerleider. »Dr. Mabuse, der Spieler« löst das Versprechen seines Untertitels ein, ist »Bild der Zeit«, Kaleidoskop urbanen Lebens, Querschnitt durch die Gesellschaft. Lang zeigt sie alle: von dekadentem Adel und satter Finanzbourgeosie, über Bohème und Beamtentum, bis hinab zu kleinen Leuten und gemeinem Lumpenproletariat. Mabuse erscheint als Nemesis dieser zerschlissenen Welt, als Dämon ihres Untergangs, als Entwerter ihrer Werte. Vor der Hütern des Gesetzes, die ihn schließlich mit Mühe und Not einholen, flieht er in den Wahnsinn – ein letzter stolzer Hohn auf Staat und Recht.

1933 | »Das Testament des Dr. Mabuse« von Fritz Lang

Der Geist des radikalen Bösen ist ewig und alldurchdringend. In der Fortsetzung von »Dr. Mabuse, der Spieler« entfaltet der wahnsinnig gewordene Superschurke erneut seine destruktive Energie: Aus der Isolation einer Zelle im Irrenhaus von Professor Baum (Oscar Beregi) dirigiert der Umnachtete per Suggestion eine perfekt durchstrukturierte Verbrecherorganisation, der er – in einer Art écriture automatique – minutiöse Pläne für geniale Straftaten liefert. Der Berliner Kriminalkommissar Lohmann (Otto Wernicke), der schon in »M« den Kindermörder suchte, jagt nun den potentiellen Killer der staatlichen Ordnung. Längst genügt es Mabuse nicht mehr, sein Übermenschen-Ego durch dissoziale Frevelhaftigkeit zu kitzeln, er will Angst und Schrecken verbreiten, will die Seele der Menschen in ihren tiefsten Tiefen durch unerforschliche und scheinbar sinnlose Verbrechen verstören. Fritz Lang nutzt das Format des phantastischen Thrillers, um die plastische Darstellung einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisensituation zu geben, um einen politischen Alptraum (der schon bald Realität werden wird) zu entwickeln: »Der letzte Sinn des Verbrechens ist es, eine unbeschränkte Herrschaft des Verbrechens aufzurichten.« Scharfsichtig illustriert der Film die Faszinationskraft des Dämons der Zerstörung: Die Szene, in der Mabuses Geist von seinem Arzt – als Wissenschaftler ein Inbegriff von Klarheit und Vernunft – Besitz ergreift, antizipiert symbolisch-anschaulich die unmittelbar bevorstehende historischen Katastrophe: »Wenn die Menschen vom Terror des Verbrechens beherrscht, vom Grauen und Entsetzen toll geworden sind, wenn das Chaos zum obersten Gesetz erhoben ist, dann ist die Stunde der Herrschaft des Verbrechens da.« Am 23. März 1933 beschließt der Reichstag das »Ermächtigungsgesetz«. Am 29. März 1933 wird die Aufführung von »Das Testament des Dr. Mabuse« in Deutschland verboten.

1960 | »Die 1000 Augen des Dr. Mabuse« von Fritz Lang

Knapp 30 Jahre und einen massenmörderischen Weltkrieg nach dessen letztem Auftritt schickt Fritz Lang (angestiftet vom Berliner Produzenten Artur ›Atze‹ Brauner) seinen mythisch-brillanten Super-Verbrecher wieder auf die Leinwand: Die dritte Dr.-Mabuse-Variation ist die »Inszenierung einer Inszenierung« – der große Plan des gemeingefährlichen Genies beruht auf totaler Überwachung und zerstörerischer Manipulation der Ausgeforschten. Schauplatz ist das Hotel Luxor, dessen Grundstein noch die Nazis legten – eine gebaute Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit, ein Menetekel für die Zukunft. Die Intrigen des mysteriösen Strippenziehers werden allerdings mehr besprochen denn gezeigt, auch macht Langs Faszination für labyrinthische Strukturen – in erzählerischer und architekturaler Hinsicht – eher den Eindruck eines (wenn auch eleganten) Selbstzitats. Dennoch sind »Die 1000 Augen des Dr. Mabuse« sehens- und bemerkenswert: wegen Gert Fröbes flapsiger Performance als Kommissar Kras, wegen des Auftritts von Howard Vernon als Killer, der seinen Opfern per Luftgewehr tödliche Stilette injiziert, wegen der Nonchalance, mit der Peter van Eyck mal eben ein paar Atomkraftwerke kauft, wegen des abgefeimten Maskenspiels von Wolfgang Preiss – und nicht zuletzt weil Mabuses Wahlspruch – »Sinn des Verbrechens ist die Herrschaft des Verbrechens!« – immer noch als Motto aller die gesellschaftliche Integrität bedrohenden destruktiven Energien dienen könnte, mag es sich um Terrorismus handeln oder um eine andere jener autoaggressiven Kräfte, die jedes soziale Gefüge früher oder später zu entwickeln scheint.

1961 | »Im Stahlnetz des Dr. Mabuse« von Harald Reinl

Nachdem Fritz Lang in seinem letzten Spielfilm den Superschurken des Weimarer Kinos stil- und gehaltvoll reaktiviert hatte, verramscht Produzent Artur Brauner den Kapitalverbrecher in einem absurd-primitiven Trash-Thriller. Gert Fröbe gibt wiederum den jovialen Kommissar (nun wieder mit dem Namen Lohmann), der den kriminellen Umtrieben des lichtscheuen Übeltäters Einhalt zu gebieten versucht. Dr. Mabuse verfügt über eine Droge, die seine Opfer willenlos macht, und gedenkt seine terroristische Macht unter Beweis zu stellen, indem er ein Kernkraftwerk in die Luft jagt. Zentrum seiner dunklen Machenschaften ist ironischerweise das Staatsgefängnis. Harald Reinl inszeniert den Unsinn flott und visuell recht effektvoll, doch »Im Stahlnetz des Dr. Mabuse« entbehrt jeglicher Signifikanz: Mabuse ist nicht mehr Metapher für das Böse in der Welt, nicht mehr Personifizierung der (gesellschaftlichen Selbst-) Zerstörung, sondern nur mehr ein beliebiger Buhmann aus dem B-Film-Panoptikum.

1962 | »Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse« von Harald Reinl

Totgesagte leben länger … Die freche Filmkunst-Verwurstung à la ›Atze‹ Brauner bekommt in »Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse« einen ridikülen Stich ins Wissenschaftlich-Utopische: In seinem dritten CCC-Abenteuer preßt der unverwüstliche Dr. Mabuse dem durch einen Unfall gräßlich entstellten Professor Erasmus das Geheimnis der Unsichtbarkeit ab. Die krause Story – in der ein suspekter Clown sein Wesen treibt und eine schöne Tänzerin mit den Tod unter der Bühnenguillotine bedroht wird – bewegt sich mit alptraumhafter Inkonsequenz zwischen Revuetheater, Leichenschauhaus, Laboratorium, Gruselhotel und Flughafen (wo eine »hochgestellte Persönlichkeit« von einer Tarnkappen-Armee abgemurkst werden soll). Dem scheinbar omnipotenten Erzscheusal nützt das kriminelle Genie wieder einmal nichts: Letzten Endes triumphiert wie gehabt das rechtschaffene Mittelmaß in Gestalt der staatlichen Ordnungsmacht.

1962 | »Das Testament des Dr. Mabuse« von Werner Klingler

Déjà vu: Der wahnsinnige Dr. Mabuse (Wolfgang Preiss) sitzt in einer Zelle der Nervenklinik von Professor Pohland (Walter Rilla) und notiert seine Pläne zur Herrschaft des Verbrechens. Die kriminellen Projekte werden minutiös ausgeführt – doch von wem? … Mit dem Remake des hellseherischen Fritz-Lang-Klassikers von 1933 läuft Produzent Artur Brauner nach zwei belanglosen Mabuse-Trivialisierungen endlich zu großer kleiner Form auf, indem er Werner Klingler eine ironisch-burleske Pulp-Parodie der meisterhaften Vorlage inszenieren läßt: Der Erzhalunke lauert wie eine Spinne in einem Netz aus Schatten; Mortimer (Charles Regnier), der Adlatus des phantomhaften Bösewichts, trägt ein keckes Gaunerhütchen und schmaucht noch im Abnippeln eine Zigarre erster Sorte; Ganoven heißen (ganz plakativ) Paragraphen-Joe oder Lachgas-Frankie, Kurzschluß-Henry oder Jeton-Eddie (»gespielt« von Rolf Eden); es werden Goldtransporter wie Nilpferde gejagt und Diamanten geräubert, es werden Eisenbahnwaggons entführt und Kommissare lustvoll gefoltert; Gert Fröbe (bauernschlau) und Harald Juhnke (begriffsstutzig) verkörpern die Repräsentanten von Recht und Ordnung, die (ohne sich mit kriminalistischem Ruhm bekleckert zu haben) das Böse schließlich im Sumpf versinken sehen … vorerst, wie man vermuten darf. Anders als das Original will die Neuverfilmung nicht metaphorisch über ihre Zeit sprechen, nicht sinnbildlich die reale Welt reflektieren. »Das Testament des Dr. Mabuse« kreiert bewußt eine parallele Zeit, eine imaginäre Welt – und setzt das Drama vom zerstörerischen Irrwitz menschlichen Strebens als quatschiges Possenspiel ins Werk.

Artur Brauner bringt noch zwei weitere Filme unter dem Mabuse-Label in die Kinos: »Scotland Yard jagt Dr. Mabuse« (Regie: Paul May, 1963) und »Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse« (Regie: Hugo Fregonese, 1964) – Ausschuß vom CCC-Fließband. Der Mythos ist dennoch nicht totzukriegen: Immer wieder spukt der Geist des Doktors durch die Filmgeschichte, so etwa in Ulrike Ottingers satirischer Medienrevue »Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse« (1984) als Frau Dr. Mabuse oder in Claude Chabrols spröder Fritz-Lang-Hommage »Dr. M« (1990) als Dr. Marsfeld. Eine von Produzent Christian Becker (»Der WiXXer«) 2008 angekündigte Neuverfilmung des Mabuse-Stoffes »als großer und zeitgemäßer Kino-Action-Thriller mit gesellschaftskritischen Anspielungen« wurde bislang nicht realisiert.

1. November 2012

Erziehung der Gefühle

Kino | »Après mai« von Olivier Assayas (2012)

»Making life easy by making it worse.« 1971. In einem Vorort von Paris. Drei Jahre nach der versandeten Revolte vom Mai 68 probt eine Gruppe von Gymnasiasten immer noch den Aufstand. Es geht gegen das Establishment und die Polizei, es werden Flugblätter verteilt, Plakate geklebt, Fassaden besprüht, auch schon mal Molotow-Cocktails geworfen. Im Mittelpunkt der sich entfaltenden Erzählung: Gilles, der Maler werden will, vielleicht auch Filmregisseur. Er sucht seinen Weg zwischen Politik und kreativer Entfaltung, zwischen sozialem Engagement und Individualismus, zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen der anachronistischen Welt der Eltern und einer noch gestaltlosen Zukunft. Seine Freundin Laure wird ihn verlassen, um sich mit einem reichen Bohèmien im Drogenrausch zu verlieren; sein Kumpel Alain, auch er ein angehender Künstler, verliebt sich auf der Reise nach Osten in die die tanzende Amerikanerin Leslie; Christine folgt einem Kollektiv revolutionärer Cinéasten; Jean-Pierre geht in den Untergrund … Die exzellenten Darsteller, (fast) durchweg Debütanten, erfüllen Olivier Assayas’ poetische Rekonstruktion seiner eigenen Jugend mit Dynamik und Energie, mit pulsierendem Leben. »Après mai« ist sicherlich auch ein klassischer Coming-of-Age-Film, dabei aber viel mehr als das: ein vielschichtiger Gesellschaftsroman, eine Momentaufnahme der Welt nach dem verpufften großen Knall, ein mit leichter Hand gewebtes komplexes Beziehungsgeflecht, eine Grand Tour von Paris nach London, von Italien nach Afghanistan, eine sinnliche Kulur- und Ideengeschichte zwischen Marxismus und Situationismus, zwischen Rock und Avantgarde – eine sensible, niemals sentimentale Darstellung von Aufbruch und Bewußtwerdung, eine großartige, mitreißende Huldigung an die rauhe, zarte Schönheit des Unfertigen.