24. Juli 2014

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind

Kino | »Kaze Tachinu« von Hayao Miyazaki (2013)

Ein Mann hat einen Traum, den Traum vom Fliegen. Weil seine Augen zu schlecht sind, um Pilot zu werden, beschließt Jiro Hirokoshi, Flugzeuge zu bauen. Er wird Ingenieur bei Mitsubishi und konstruiert im Auftrag der kaiserlichen japanischen Kriegsmarine perfekte Jagdflieger. Das Dilemma des Technikers, der das Gute will und dabei das Böse schafft, blendet Regissuer Hayao Miyazaki in seiner biographischen Imagination vollständig aus, sein Animationsfilm erzählt von der Verwirklichung einer reinen Vision, von der Suche nach makelloser Schönheit. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, schrieb Adorno; Miyazaki will nichts von diesem Satz wissen, will nichts wissen von Verantwortung oder gar Schuld, beläßt es bei dunklen historischen Andeutungen, sieht den Krieg, den Menschen machen, wie ein Erdbeben, das schicksalhaft über sie kommt. Vielleicht wäre diese bewußte Arglosigkeit weniger zwiespältig, schaffte die Fabel es, jenseits mirakulöser Bildfantasien und schlichter melodramatischer Erzählbausteine, etwas von der Faszination der Ingenieurkunst zu vermitteln, doch Jiro und seine Schwärmerei bleiben so flach, so ungreifbar wie der Kopf einer Senkniete. Während der lange Film von Episode zu Episode weht, ist viel Zeit, sich weitere poetische Biopics vorzustellen: »Light of a Thousand Suns« über Robert Oppenheimer oder »Schtorm« über Michail Kalaschnikow oder vielleicht »Mond von Peenemünde« über Wernher von Braun. Sie haben alle geträumt …

6. Juli 2014

Abschiedsvorstellung

Kino | »Aimer, boire et chanter« von Alain Resnais (2014)

Dernière eines großen Regisseurs. Das letzte Bild des letzten Films von Alain Resnais zeigt eine Beerdigung. Der Unsichtbare, um den die Handlung kreiste, derjenige, der, ohne in Erscheinung zu treten, die Beziehungen von drei Paaren auf die Probe stellte, wird zu Grabe getragen. Die Kamera blickt von oben auf die herbstliche Szene. Der Priester bedenkt den Heimgegangen aus dem Off mit freundlichen Worte, die sechs Personen des Stücks sind noch einmal versammelt, sagen stumm adieu, werfen rote Rosen auf den geschlossenen Sarg, gehen nacheinander ab, ganz zum Schluß kommt ein junges Mädchen (wie der Verstorbene war sie bislang dem Auge des Publikums entzogen), legt statt einer Blume das Bild eines geflügelten Totenschädels auf den Sargdeckel. Danach das Wort »Fin«, weiß auf schwarz, schnell kleiner werdend, in der Mitte der Leinwand verschwindend. Ein Lebenswerk ist abgeschlossen. Etwas substantiell Neues hat der Meister seinem Œuvre nicht mehr hinzugefügt: eine weitere Adaption einer Gesellschaftskomödie von Alan Ayckbourn, ein weiteres Spiel mit gut aufgelegten Darstellern (Sabine Azéma in ihrem zehnten Resnais-Film, André Dussolier in seinem siebten, Sandrine Kiberlain gibt ihr Debüt) in apart stilisierten Kulissen (Jacques Saulnier, Resnais’ chef décorateur seit »Marienbad«, zaubert eine ganze Welt aus farbigen Papierbahnen und wenigen Requisiten), angesiedelt irgendwo zwischen Sacha Guitry und Seifenoper. Dazu, wie so oft beim strengen Formalisten Resnais: gliedernde Intermezzi (in diesem Fall Autofahrten durch die nordenglische Provinz und ein grinsender Maulwurf) – und, wie so oft beim begeisterten BD-Fan Resnais: Comic-Illustrationen (diesmal nicht von Floc’h sondern von Blutch). Ein Testament? Nein. Eher eine plaisanterie. Also ein überflüssiger Film? Ja. So überflüssig wie lieben, trinken und tanzen: »Sachons aimer, boire et chanter, / C'est notre raison d'exister, / Il faut dans la vie / Un brin de folie.« (Mit anderen Worte: doch ein Testament.)

3. Juli 2014

Standbild (4)

Morgue

Innen. Leichenhalle. Tag. Der Boden des fensterlosen Raums ist mit hellgrauen, quadratischen Steinplatten belegt, die Wände und ein schmaler Bodenstreifen entlang der Wandkanten sind weiß gefliest. In einer Ecke des Raums steht eine Rollbahre, deren Unterbau aus weißlackierten Rundrohren gefertigt ist. Ihre vier, mehrfach miteinander verstrebten Beine sind auf tellergroße, stahlgraue Metallräder montiert. Die Liegefläche ist mit einem weißen Tuch verhüllt, das die Form eines ausgestreckten Körpers nachbildet. Deutlich sind unter den Falten des Stoffs der Kopf, die Brüste, die auf dem Bauch gefalteten Hände und die Beine zu erkennen. Rechts an der Wand zeichnet sich übergroß das klar konturierte Schattenbild des Gestells und des darauf ruhenden, zugedeckten weiblichen Leichnams ab, so als beschiene ein in Bodenhöhe positionierter Scheinwerfer das Objekt. Auf dem Fußende der Bahre liegen, dicht nebeneinander, doch ohne sich zu berühren, als einzige Farbtupfer im eintönigen Weißgrau des Raums drei Orangen. Ebendiese Früchte sind der inzwischen Verstorbenen aus ihrer Korbhandtasche gefallen, unmittelbar nachdem sie, ihrem verärgerten Geliebten nachlaufend, von einem vorbeirasenden weißen Sportwagen erfaßt und tödlich verletzt worden war.