19. März 2014

23. Juni 1975, 8 Uhr abends

Schau mit beiden Augen, schau. (Kein Film.)

Zum vierten oder fünften Mal in meinem Leben habe ich »Das Leben Gebrauchsanweisung« von Georges Perec gelesen. Das Innere eines Pariser Mietshauses, die Fassade abgerollt wie von einer Sardinendose, zehn Geschosse in der Höhe mal zehn Räume in der Breite, ein Setzkasten von Dingen und Menschen, von Geschichten und Beobachtungen, von Erfindungen und Zitaten, ein Katalog, ein Puzzle, ein Album, ein Labyrinth, ein Zettelkasten, ein Archiv, ein Roman, viele Romane. Liebe und Tod, Sehnsucht und Haß, Hoffnung und Scheitern, Sein und Zeit, Sammeln und Zerstreuen, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Perec kreuzt Spiel und Plan, manische Ordnung und verschwenderische Phantasie. Warum überhaupt noch ein eigenes Leben leben, wenn doch schon alles in diesem Buch steht? Vielleicht weil das letzte Stück im letzten Puzzle nicht paßt, vielleicht weil das letzte, das einhundertste Kapitel fehlt, weil es immer wieder aufs Neue gilt, das passende Stück zu finden, das fehlende Kapitel zu schreiben, zu leben.

15. März 2014

Zwischen Hund und Wolf

Vier Filme von André Delvaux

Der französische Ausdruck ›entre chien et loup‹ bedeutet soviel wie ›im Zwielicht‹ oder ›in der Dämmerung‹. Die Werke des belgischen Regisseurs André Delvaux (1926 – 2002) sind in solcherlei Grenzbereichen angesiedelt, zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Realismus und Magie, zwischen den Sprachen: Delvaux (nicht verwandt mit dem gleichnamigen surrealistischen belgischen Maler Paul Delvaux), geboren in Heverlee, einer kleinen Gemeinde an der Grenzlinie zwischen Flandern und der Wallonie, drehte Filme sowohl in niederländischer als auch in französischer Sprache. Nach einem Musik- und Germanistikstudium war André Delvaux als Lehrer tätig und begleitete Stummfilme auf dem Klavier, bevor er eine Reihe von Dokumentationen für das belgische Fernsehen realisierte (u. a. über Federico Fellini, Jean Rouch und das polnische Kino); 1965 inszenierte er seinen ersten Spielfilm, dem bis 1988 sechs weitere folgten.


1965 | »De man die zijn haar kort liet knippen« (»Der Mann, der sich die Haare kurz schneiden ließ«)

Liebe, Schönheit und Tod oder Die Ballade vom richtigen Leben … Govert Miereveld, Jurist, Familienvater, Lehrer an einem Mädchengymnasium, verliert sein Herz an die Schülerin Fran, freilich ohne ihr seine Zuneigung zu gestehen. Nach dem Abgang der hoffnungslos Angebeteten (die sich auf dem Diplomfest mit einem brechtisch-weillschen Chanson –»Was morgen kommt, kann schlimmer sein. / Was morgen kommt, kann besser sein.« – verabschiedet), quittiert auch Govert den Schuldienst, um sein Dasein fortan als Gerichtsbeamter zu fristen. André Delvaux erzählt, gleichzeitig als Innenschau und Außenansicht, die Geschichte einer unbezähmbaren Erotomanie, eines süßen Wahns, den der Liebeskranke weniger als rauschhafte Ekstase denn als lähmenden Erschöpfungszustand erlebt … Jahre später, nachdem er kurz zuvor als angewiderter Zeuge der Exhumierung eines mutmaßlichen Bankräubers beigewohnt hatte, trifft Govert die vergötterte Frau (die mittlerweile eine gefeierte Sängerin ist) zufällig wieder. Ob die folgende innige Aussprache tatsächlich stattfindet oder sich nur in der Phantasie eines Verrückten abspielt, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob Govert Fran tatsächlich getötet hat oder lediglich aufgrund seiner geistigen Zerrüttung in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. So ambivalent wie die Hauptfigur Govert (≈ göttlicher Friede) Miereveld (≈ Ameisenhaufen) erscheint der ganze Film: Alles in Ghislain Cloquets so einfachen, so rätselhaften Schwarzweißbildern schwebt, schwimmt, schwankt, zwischen Sehnsucht und Begierde, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Transparenz und Undurchsichtigkeit, zwischen Märchen und Schreckensnachricht.

1968 | »Un soir, un train« (»Ein Abend … ein Zug«)

»Toute la pièce est un monologue.« Mathias (Yves Montand) ist Professor für Linguistik an einer flämischen Universität, seine französische Freundin Anne (Anouk Aimée) arbeitet als Kostümbildnerin. Ihre Beziehung ist nicht unproblematisch: Abgesehen von den charakterlichen Unterschieden zwischen dem kühlen Geisteswissenschaftler und der sensiblen Künstlerin schafft die Sprachgrenze, die das Land durchzieht, Distanz zwischen den Partnern. Anne entwirft die Gewänder für eine von Mathias eingerichtete Fassung der mittelalterlichen Moralität »Elckerlyc« (≈ »Jedermann«) – André Delvaux variiert diese metaphorische Pilgerfahrt eines Sterblichen, der vor seinem Tod Rechenschaft für seine Sünden ablegen soll, in der zweiten Hälfte des Films: Mathias reist mit der Eisenbahn zu einem Vortrag in einer anderen Stadt. Der Zug hält ohne Grund auf freier Strecke, Anne ist plötzlich verschwunden, Mathias findet sich, begleitet von zwei Fremden, im verlassenen Nirgendwo einer winterlich-öden Landschaft wieder. Mitten in der Nacht erreichen die drei Verirrten ein Dorf, dessen Bewohner eine unbekannte Sprache sprechen … Unnahbarkeit statt Nähe, Unverständnis statt Verständigung: »Un soir, un train«, von Ghislain Cloquet in ausgewaschenen Farben, mit traumhafter Klarheit fotografiert, gleicht einem modernen Mysterienspiel über Vereinzelung und gestörte Kommunikation. Jedermanns Leben windet sich als verschlungener Weg durch die eigene hermetische Gedankenwelt, wo aller Austausch mit einem Gegenüber unweigerlich zum dialogischen Selbstgespräch wird.

1971 | »Rendez-vous à Bray« (»Rendezvous in Bray«)

Paris, Dezember 1917. Julien (Mathieu Carrière), Pianist und Musikjournalist, als »neutraler« Luxemburger vom Militärdienst befreit, wird von seinem Freund Jacques (Roger van Hool), einem Tondichter und Kriegsflieger, per Telegramm zum Wiedersehen während eines kurzen Fronturlaubs gebeten. Julien begibt sich auf Jacques’ Landsitz in der Nähe der Kampflinie (der Strom fällt aus, während leise die Kronleuchter klirren) – der Gastgeber indes erscheint nicht, der Geladene bleibt alleine, mit einer schweigsamen Bedienten (Anna Karina), mit seinen Erinnerungen an eine ebenso innige wie delikate Freundschaft. Musik verbindet die Ebenen, verbindet Herzen, Seelen, schließlich auch: Körper; neben Jacques’ Kompositionen sind es Stücke von Brahms und Franck, ein sonderbares Kinderlied (»Mon oiseau a perdu ses plumes, / Plumes de bois et plumes de fer.«), Juliens dramatische Klavierbegleitung eines »Fantômas«-Abenteuers. Jacques und Julien: die Namen lassen wohl nicht zufällig eine andere berühmte Künstlerfreundschaft aus der Zeit des Ersten Weltkriegs anklingen; und wie in »Jules et Jim« wird das Verhältnis der beiden Männer kompliziert, intensiviert durch eine Frau, die kokette Odile (Bulle Ogier). André Delvaux verleiht der Erzählung (nach einer Vorlage von Julien Gracq) einen schlafwandlerischen Rhythmus und, vor allem durch den wiederholten Einsatz von Irisblenden, eine stummfilmhafte Stilisierung. Eine Reise in die Vergangenheit, ein einsames Haus, Reflexionen und Resonanzen von Erlebnissen, Gefühlen, Stimmungen, Spannungen – ein Nocturno, vage, hintergründig, lückenhaft wie die zensurierten Zeitungsseiten mit ihren weißen Flecken, Leerstellen, in denen schreckliche Wahrheiten schlummern, dunkle Geheimnisse, romantische Phantasien.

1973 | »Belle«

»Connaître ou reconnaître …« Mathieu Grégoire (Jean-Luc Bideau), Archivar und Schriftsteller, Spezialist für Liebeslyrik des 16. Jahrhunderts, lebt mit Gattin und fast erwachsener Tochter im beschaulichen Ardennenstädtchen Spa. Eines Nachts, auf der Heimfahrt von einem Vortrag, fährt er im Wald einen Hund an, der verletzt in der Dunkelheit verschwindet. Am nächsten Tag kehrt Mathieu mit einem Jagdgewehr zurück, um das verwundete Tier zu erschießen. Auf seinem Streifzug entdeckt er eine verfallene Hütte, in der eine schöne Frau wohnt, die Mathieus Sprache nicht versteht … Die Situation erinnert an »Un soir, un train«: Wieder beschwört André Delvaux das Irren in spätherbstlicher Einsamkeit, die Unmöglichkeit von zwischenmenschlicher Verständigung. Doch mehr als der Vor(vor)gänger ist »Belle« das Portrait einer zauberisch-entrückten Landschaft. »Tant de tristesses plénières / prirent mon cœur aux fagnes désolées«, dichtete Guillaume Apollinaire über die Hautes Fagnes (das Hohe Venn) im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Das entlegene Hochmoor voller Sumpflöcher, überzogen von buschigem Heidekraut, düsterem Nadelgehölz, toten Bäumen und feuchtem Dunst, bildet den märchenhaften Schauplatz für die sich langsam steigernde seelische und erotische Konfusion des Protagonisten, der sich im gleichen Maße von Familie, Freunden und Beruf entfremdet wie er der unbekannten, enigmatischen Fremden verfällt. Ist die Begegnung mit Belle ein Faktum? Oder eine Vision? Handelt es sich um eine Ausgeburt sexueller Verwirrung, um poetische Phantasie, um Wahnvorstellungen eines Mannes in der Mittlebenskrise, um den Einbruch von Wunschbildern in die Wirklichkeit? Wer ist der Andere, der unvermutet auftaucht? Ist er Belles Bruder, ihr Geliebter, ihr Komplize? Stirbt ein Hund? Oder ein Mensch? Ist das Leben ein Traum? Oder ein Film?

André Delvaux’ weitere Spielfilme sind »Een vrouw tussen hond en wolf« (»Eine Frau zwischen Hund und Wolf«) mit Marie-Christine Barrault und Rutger Hauer (1979), »Benvenuta« (»Das anonyme Bekenntnis«) mit Fanny Ardant und Vittorio Gassmann (1983) sowie »L’œuvre au noir« mit Gian Maria Volonté und Sami Frey (1988) nach dem Roman »Die schwarze Flamme« von Marguerite Yourcenar.

9. März 2014

Die Welt von Gestern

Kino | »The Grand Budapest Hotel« von Wes Anderson (2014)

Ein Stück aus dem Tollhaus des alten Europa: Beschwingtheit und Morbidezza, gute Sitten und fiese Intrigen, Gemütlichkeit und Unfrieden, pastellfarbene Sahnetörtchen und schwarze Todesritter, Ewigkeit und Untergang. In der Geschichte des palastartigen Grand Budapest Hotel, in den Lebensbildern eines legendären Concierge und eines anstelligen Pagen, (zerr-)spiegelt sich die Geschichte eines ganzen Kontinents, eines Zeitalters trügerischer Beständigkeit, seines Glanzes, seines Verfalls. Wes Anderson reaktiviert mit großem künstlerischen Gewinn ein fast vergessenes Genre: die Ruritanian romance, die in einem fiktiven ostmitteleuropäischen Staat angesiedelte turbulente Abenteuerfantasie. Zubrowka heißt das gleichnishafte Nirgendwo bei Anderson, andere Namen auf der imaginären Landkarte waren Graustark oder Samavia, Strackenz oder Syldavien. Zubrowka, das ist Operette und Boulevard, Karussell und Puppenspiel, das ist Lubitsch und Lehár, aber Zubrowka ist auch Stroheim und Marx Brothers, es ist Groteske und Anarchie, Lachkabinett und Totentanz. Einhundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« zelebriert »The Grand Budapest Hotel« seinen doppelbödig-tragikomischen Eskapismus als schier endlose Abfolge von wohlkomponierten Frontalansichten: klar strukturierte Bilder einer ihrer selbst gewissen, scheinbar glücklichen Welt, die unweigerlich in Stücke fällt, um als literarisch-filmischer Wunsch(alp)traum neu zusammengesetzt zu werden.

3. März 2014

Das alte Lied

DVD | »On connaît la chanson« von Alain Resnais (1997)

Alain Resnais goes Dennis Potter. Für seine großen Fernsehserien hatte der britische Autor die Methode entwickelt, den Protagonisten Aufnahmen populärer Songs in den Mund zu legen. Auch in »On connaît la chanson« (der Potter gewidmet ist) bewegen die Darsteller ihre Lippen immer wieder synchron zu den Texten bekannter Lieder, zu Chansons von Aznavour, Baker, Dalida, Dutronc, Ferré, Gainsbourg, Halliday, Piaf und vielen, vielen anderen, zu Gassenhauern der Zwischenkriegszeit und Hits der Gegenwart, zu Stücken, die weniger die Handlung voranbringen, als vielmehr Stimmungen transportieren, Atmosphären malen, Figuren charakterisieren, Assoziationen auslösen. Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri (die für Resnais zuvor schon ein Bühnenstück von Alan Ayckbourne adaptierten) nutzen das Potter’sche Verfahren für eine ironisch-melancholische Sittenkomödie, die das zwischenmenschliche Hin und Her, das emotionale Auf und Ab von sechs gehoben mittelklassigen Pariserinnen und Parisern zum Klingen bringt: Zwei Schwestern, eine leitende Angestellte und eine kapriziöse Doktorandin, sowie vier Männer, ein immermüder Gatte, ein aalglatter Makler, ein gehemmter Hörspielautor und ein gescheiterter Erfolgsmensch, verwickeln sich in ein beziehungsreiches Gespinst von Sympathie und Aversion, von Konkurrenz und Kameradschaft. Resnais variiert voller Nonchalance altbekannte Grundmotive des klassischen Boulevardtheaters (≈ des gutbürgerlichen Lebens) – wahre Liebe und falsche Gefühle, Illusion und Enttäuschung, Maskerade und Entlarvung –, doch im Leichten liegt auch das Schwere, an der polierten Oberfläche tun sich Risse auf, die romantische Farce ist zugleich eine Diagnose zivilisatorischen Leidens: Fast alle Beteiligten erweisen sich am Ende des Spiels als depressiv. Ein einfacher komplizierter Film, ein film enchanté, so süß wie ein Stück Zucker, so schmerzlich wie eine verbaute Aussicht. »Y a quelqu’un qui la connaît, cette chanson?«

2. März 2014

Il faut rêver de lui

Alain Resnais 1922 / 2014

Die Statuen sterben auch in Nacht und Nebel, alles Gedächtnis der Welt singt vom Styrol in Hiroshima, meine Liebe, und letztes Jahr in Marienbad war es Muriel – oder war es die Zeit, die wiederkehrt? –, denn der Krieg ist aus, und ich liebe dich, Stavisky, ich liebe dich, Providence, so wie mein Onkel aus Amerika, für den das Leben eine Roman ist und die Liebe zum Tod führt, vielleicht auch zu Mélo, doch ich will nach Hause gehen, rauchend / nicht rauchend, ja, man kennt das Lied, nein, nicht auf den Mund, überall Herzen und Unkraut, ihr aber, ihr habt noch nichts gesehen vom Lieben, Trinken und Singen.