31. Dezember 2014

Gestalt und Verwandlung

Kino | »Clouds of Sils Maria« von Olivier Assayas (2014)

Dichte Wolken steigen über eine Paßhöhe bei Sils und ergießen sich in schlangenartiger Bewegung talwärts. Vor beinahe einem Jahrhundert hat der Bergfilmer Arnold Fanck das Naturschauspiel mit der Kamera für die Ewigkeit (des Zelluloids) festgehalten. Viel später gab »Das Wolkenphänomen von Maloja« einem hochberühmten Schriftsteller den Titel eines Dramas ein: »Maloja Snake« erzählt die Geschichte einer Frau um die 40, die mit Haut und Haaren einer 18jährigen verfällt und an ihr kaputt geht (wenn sie es nicht schon längst war). Vor gut zwei Jahrzehnten hat Maria Enders (Juliette Binoche) auf der Bühne und im Film den Part der Heranwachsenden gespielt und ist zum Star geworden, nun soll sie in einer spektakulären Neuinszenierung die Ältere verkörpern. Gemeinsam mit ihrer (jungen) Assistentin Valentine (Kristen Stewart) reist Maria nach Sils: Im Haus des mittlerweile verstorbenen Dramatikers will sie sich auf ihre (neue) Rolle vorbereiten – und begegnet dort ihrem früheren (auch von der skandalumwitterten Nachwuchsschauspielerin Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) personifizierten) Ich, einer hartnäckigen Persona, die Maria (= sich selbst und gleichzeitig eine andere) mit eisernem Griff gefangen hält. Mit Anklängen an Filme wie »All About Eve« oder »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« (und liebevoller Aufmerksamkeit für seine drei erstklassigen Hauptdarstellerinnen) überblendet Olivier Assayas peu à peu die Ebenen – und Antinomien – der Erzählung: die Fiktion eines Stückes und die Lebenswirklichkeit(en) verschiedener Generationen, Vergangenheit und Gegenwart, die Jugend und das Altern, radikale Öffentlichkeit und splendid isolation, das Streben nach Zeitlosigkeit und die Verhaftung in der Zeit. »Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben, wir sind es, und wir sind es nicht«, sagt Heraklit, und Goethe ergänzt: »Denn alles muß in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.« Über dem Malojapaß aber sammeln sich wieder die Wolken »… und wundervolles Licht leuchtet noch über den Seen des Engadin.«

17. Dezember 2014

Die Pubertät der Republik

DVD | »Was wären wir ohne uns« von Wolfgang Menge (Drehbuch) und Ulrich Schamoni (Regie) (1979)

»Ein Potpourri in Bild und Ton« nennen die Macher ihre vierteilige Fernsehserie über die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. Wie mehrfach betont wird, handelt es sich um eine Rückschau ohne Anspruch auf Vollständigkeit; die jeweils 90minütigen Sendungen präsentieren Stimmungsbilder der Zeit, anekdotisch, ironisch, ein wenig nostalgisch, nicht ganz ohne Nachdenklichkeit. Schauplatz der Revue ist eine Bühne im TV-Studio; man spielt vor Publikum (das sich gelegentlich einmischt). Ein Conferencier (Gerd Vespermann) führt durchs Programm und durch die Jahre von 1950 bis 1953, verbindet die wechselvolle Geschichte einer Normalverbraucher-Figur, des Friseurs Otto F. Baumann (Horst Bollmann), den es nach dem Krieg samt Frau und Tochter (Margret Homeyer und Ute Willing) von Berlin nach Stuttgart verschlagen hat, mit Wochenschauausschnitten, musikalischen Darbietungen eines Orchester und einer Gesangsgruppe sowie szenischen Präsentationen von Konsumprodukten (Ernst H. Hilbich und Evelyn Hamann fungieren als begeisterte Anpreiser der Attraktionen des beginnenden Wirtschaftswunders). Die großen Themen der Zeit – Montanunion und Wehrdebatte, Koreakrieg und 17. Juni – werden schlaglichtartig beleuchtet, im Mittelpunkt stehen die sich wandelnden Lebensumstände der Durchschnittsbürger: von Arbeitslosigkeit und Wohnraumknappheit zu Konsolidierung und Wohlstand. Aus der Perspektive einer Gesellschaft, der die »Grenzen des Wachstums« vor Augen geführt wurden, mag es so erscheinen, »daß diese 50er Jahre doch eigentlich die schönsten waren, die wir erleben durften«. Ob es tatsächlich so ist, stellt der Erzähler der kurzweiligen Geschichtsstunden, bei aller heiteren Besinnlichkeit, diskret zur Diskussion: »Vielleicht ist es sogar so, daß unsere Sorgen von heute erst dadurch entstanden sind, daß wir damals in falsche Richtungen gegangen sind.«

9. Dezember 2014

Studio D: Helga Feddersen

Die dritte Folge der Rubrik »Studio D«, die sich in loser Folge mit Personen und Programmen der deutschen Fernsehgeschichte beschäftigt, erinnert an die Drehbuchautorin Helga Feddersen. Die 1930 in Hamburg geborene Schauspielerin ist vor allem als »Ulknudel« im kollektiven Gedächtnis geblieben, als pferdegebissige Blödelkomödiantin an der Seite von Matadoren der klamottigen Fernsehunterhaltung wie Dieter Hallervorden oder Frank Zander. Daß Helga Feddersen nicht nur die Disco-Parodie »Du, die Wanne ist voll« mitquäkte und in der »Plattenküche« hantierte, sondern auch für Regisseure wie Helmut Käutner und Peter Beauvais, Ottokar Runze und Rainer Werner Fassbinder vor die Kamera trat, ist weitgehend in Vergessenheit geraten – ebenso wie ihre Tätigkeit als TV-Autorin.

Sämtliche Drehbücher, die Helga Feddersen zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre verfaßte, spielen in Hamburg oder an der Nordseeküste, alle wurden von der Fernsehspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks unter Ägide von Egon Monk und seinem Nachfolger Dieter Meichsner realisiert. Man könnte ihre Arbeiten als »dokumentarische Volksstücke« beschreiben, als »Chronik der laufenden Ereignisse« aus dem Leben der kleinen Leute an der Waterkant.

Die Texte werden durch knappe filmographische Angaben ergänzt:
R Regie K Kamera A Ausstattung S Schnitt P Produktion D Darsteller | Länge | Datum der Erstausstrahlung

Vier Stunden von Elbe 1

Helga Feddersens erstes Fernsehspiel hat zwei erzählerische Achsen: ein Haus, das Seemannsfrauenheim in Brunsbüttelkoog (vier (See-)Fahrtstunden vom Feuerschiff ›Elbe 1‹ entfernt gelegen), und einen Mann, den ledigen Schiffskoch Gustav Andresen. Das Haus, geleitet von Gustavs patenter Schwägerin Klara wird zur Transitstation zahlreicher, schlaglichtartig beleuchteter (Frauen-)Schicksale; der Mann beschließt, aus seiner maritimen Beziehungslosigkeit auszubrechen, indem er, während eines dreiwöchigen Landgangs, per Annonce eine »verständnisvolle Partnerin« fürs Leben sucht. Helga Feddersen – die sich die (Neben-)Figur der Lore Elvers, einer von der Liebe immer wieder enttäuschten Junggesellin, auf den Leib geschrieben hat – zwängt ihre Figuren nicht in das Korsett einer funktionalen Dramaturgie, sie nimmt die Position der Beobachterin und Zuhörerin ein, registriert neugierig, aber ohne Sensationslust, das Reden und Handeln, das Zagen und Hoffen der Charaktere, die durch die liebevolle Betrachtung große Unmittelbarkeit gewinnen. Eberhard Fechner, der das Drehbuch nimmt wie ein Dokument, und sein Kameramann Rudolf Körösi spüren sensibel den Attitüden, Tonlagen und Gemütsverfassungen dieser Menschen nach, der Seemannsfrauen, die an den ewigen Trennungen still oder heulend verzweifeln, der Oma, Mutter, Tante und Gattin eines frischgebackenen 3. Offiziers, die für ihren Goldschatz vor lauter Stolz schon vorab die Kapitänstressen kaufen, der alten Muttchen, die im Heim Nachtwache halten, nicht zuletzt des bindungswilligen Schiffskochs Gustav, dem immer wieder seine »Berufsfigur« im Weg steht, und der schließlich bei einer alten Bekannten, der herbzarten Kioskbesitzerin Elli, seinen Heimathafen findet.

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Eberhard Fechner K Rudolf Körösi A Herbert Kirchhoff S Brigitte Kirsche P Egon Monk D Klaus Höhne, Carsta Löck, Helga Feddersen, Elke Twiesselmann, Regine Lutz | 105 min | 7. März 1968

Gezeiten

Szenen zweier Ehen: In »Gezeiten« verfolgt Helga Feddersen einerseits die Geschichte des Schiffskochs Gustav Andresen weiter – der Vater wird und sich (nach langem Zögern) dazu entschließt abzumustern, um zusammen mit seiner Gattin Elli die Gastwirtschaft »Zu Anker« (!) zu eröffnen –, zum anderen erzählt sie von dem (durchaus schwierigen) Zusammen- und Getrenntleben der Bröhans, des notorisch eifersüchtigen Kapitänsanwärters Peter und seiner Frau Yvonne, die als Chemikerin in einem Zementwerk arbeitet. Wiederum verkneift sich Feddersen jede Seefahrerromantik, schildert unsentimental-humorig Alltag und Arbeit der Fahrensleute, etwa die schadenfreudigen Ausbildungsinitiationsriten oder die frotzelige Kumpanei der »Kolonne Freß«. Das Seemannsfrauenheim, mittlerweile von Lore – die Zuneigung zu dem netten holländischen Schiffer Henk gefaßt hat – betrieben, gerät aus dem Fokus der Erzählung: Die kaleidoskopische Milieustudie weicht einer doppelten Beziehungsdramödie, die auch herbe Schicksalsschläge nicht ausspart. Die Autorin und der Regisseur Eberhard Fechner bewahren dabei, zu Wasser und zu Lande, ihre sympathetische Beobachtungsschärfe und ihre Freude am charakteristischen Detail.

R Eberhard Fechner K Rudolf Körösi A Herbert Kirchhoff S Wolfgang Skerhutt P Dieter Meichsner D Klaus Höhne, Elke Twiesselmann, Vadim Glowna, Verena Buss, Helga Feddersen | 90 min | 22. Februar 1970

Joachim Hess inszenierte 1971 Helga Feddersens Fernsehspiel »Sparks in Neu-Grönland«, die Geschichte des bärbeißigen Herrn Spark (Robert Meyn), eines Hamburger Kaufmanns im Ruhestand, der auf Drängen seiner Familie in eine Vorstadtsiedlung gezogen ist und nichts lieber möchte, als in seine alte Gegend zurückzukehren. Danach schloß die Autorin ihre »Waterkant-Trilogie« ab.

Im Fahrwasser

Der ehemalige Schiffskoch Gustav Andresen fühlt sich wie ein »fish out of water« – der tonnenschwere alte Anker, der vor seiner Gastwirtschaft als Werbezeichen plaziert wird, erscheint wie ein Symbol von Bedrückung und Sehnsucht. Mißmutig untersagt Gustav seiner Frau Elli die Feiern zum dreijährigen Bestehen des Lokals: »Ich feier keinen Jahrestag für an Land.« Auch Lore, mittlerweile mit dem Frachterkapitän Henk van der Meyden verheiratet und auf Fahrt gegangen, hat Probleme: Henks grimmige Mutter weigert sich partout, dem (nicht mehr ganz so) jungen Paar das Kommando zu überlassen. Helga Feddersen schildert diese Anpassungsschwierigkeiten mit gewohnter Aufmerksamkeit für Befindlichkeiten und Zwischentöne, doch das Klima der Erzählung wirkt zunehmend rauher, in die heitere Betrachtung der Dinge des Lebens mischt sich immer wieder Melancholie. Regisseur Georg Tressler greift den dokumentarisch inspirierten Inszenierungsstil der beiden Vorgänger auf und zeigt, wie die einzelnen Lebensläufe – nach mancherlei Driften und Strudeln – schließlich ins »Fahrwasser« finden: Gustav wird nach einer letzten, enttäuschenden Heuer endgültig zu Frau und Kind ans Ufer gespült, Lore, die sich nicht ausbooten läßt, erobert beherzt einen Platz in ihrer Bord-Familie.

R Georg Tressler K Wolfgang Zeh A Karl-Hermann Joksch S Elke Düring P Dieter Meichsner D Klaus Höhne, Elke Twiesselmann, Helga Feddersen, Josef Jansen, Tilly Perin-Bouwmeester | 80 min | 25. Dezember 1971

Bismarck von hinten oder Wir schließen nie

»Familie ist die Keimzelle, daraus entsteht alles … Leben und Tod.« – »Ja, ja, nu hör mal auf.« – »Bin ich nu Witwer, oder nich?« – »Ja, ja, bist du« – »Glück und Unglück, das kommt alles aus der Keimzelle.« Von zwei dieser Keimzellen ist in Helga Feddersens beschaulichem Hamburger Kiezreport die Rede: Die Knüppels – Vater: Schaffner bei der Bundesbahn, Mutter: Hausfrau – werden mit der Schwangerschaft ihrer 16jährigen Tochter konfrontiert; die Eltern des Kindsvaters, die Eheleute Dreier, müssen sich – als Besitzer einer kleinen Wäscherei – mit der wachsenden Konkurrenz durch Selbstbedienungswaschsalons auseinandersetzen. Beide Familien leben, ein paar Hausnummern voneinander entfernt, mit Blick auf die Rückseite des Bismarck-Denkmals. Außerdem treten auf: Nutten und Gastarbeiter, Soldaten und Gewerbeschüler, ein philosophischer Lokführer und die stets frohgemute Oma Sorgenfrei. »Hier ist Betrieb, hier geht das Leben rund um die Uhr«, sagt Feddersen, die als Erzählerin einmal kurz ins Bild winkt, über die Gegend zwischen Reeperbahn und Holstenwall, in der sie ihre ineinander verquickten Dramolette aus der Kleinbürgerwelt ansiedelt. Ein unaufgeregter Film über Süßes und Bitteres, über private Sorgen und sozialen Wandel, über das Leben, wie es immer weitergeht: »Bergauf, bergab, zuletzt ins … Naja, aber damit hat es sicherlich noch lange Zeit.«

R Joachim Hess K Frank Banuscher A Mathias Matthies S Karin Baumhöfner D Hans-Jürgen Diedrich, Christa Wehling, Christof Wackernagel, Jutta Wirschaz, Uwe Dallmeier P Dieter Meichsner | 90 min | 1974

Anfang der 1980er Jahre schrieb Helga Feddersen zwei Serien für das Vorabendprogramm des NDR (»Kümo Henriette« und »Helga und die Nordlichter«), dann eröffnete sie ein eigenes Theater in Hamburg, das sie mit großem Erfolg betrieb. Als sie an Krebs erkrankte, mußte sie ihre Bühnentätigkeit beenden. 1990 ist Helga Feddersen in ihrer Heimatstadt gestorben. »Element of Crime« widmeten ihr den Song »Vier Stunden vor Elbe 1«: »Drüben am Horizont verschwindet eine Landschaft. / Ein Schnitt in die Brust ist der Abschied, doch diesmal fällt er aus.«