30. Juni 2013

Mama schläft an der Decke

DVD | »Tatort – Frau Bu lacht« von Dominik Graf (1995)

Schmetterlinge fliegen durch diesen Film, sie trinken den Schweiß der Lust und die Tränen des Mißbrauchs. Und ein Unwetter braut sich zusammen, ein gewaltiger Sturm, der wie ein Strafgericht über die Welt hinwegzufegen droht … Ein Toter liegt in einem längst nicht mehr gemeinschaftlich genutzten Gemeinschaftsraum in einem Münchner Neubaublock, der längst nicht mehr neu ist, sondern nur noch graukalter Beton, ein Wabenhaus der Einsamkeiten. Dem Mann, der im Leben als Konditor in einem Traditionsbetrieb arbeitete, wurde mit einer alten Armeepistole durch den Hals geschossen. Sita, die Witwe des Opfers, eine Thailänderin, die vor zwei Jahren mit ihrer kleinen Tochter Soey von der Heiratsvermittlung Flügel (!) an den Zuckerbäcker vermittelt wurde, stellt die Ermittlern vor abgründige Rätsel: Die Kommissare Batic und Leitmayr geraten in ein Jenseits im Diesseits, fallen hinab in eine fremde Welt, gerade so wie Alice in den Kaninchenbau. In dieser unheimlichen Tiefe, die nichts anderes ist als ein Spiegel des zum Greifen nahen Nebenan, treiben Knusperfrösche und beherzte russische Huren ihr Wesen, lauern Totengeister, die besänftigt werden müssen, und kultivierte Kinderfresser, die die Befriedigung ihrer niederen Instinkte zur höheren Freiheit erklären … Dominik Graf (Regie) und Günter Schütter (Drehbuch) entwickeln erzählerische Meisterschaft nicht dadurch, daß sie schnurstracks auf die Lösung des Falles zustreben, sondern indem sie Umwege nehmen, sich einen Jux machen, innehalten, Déjà-vus zulassen. Aus ebendiesen Abschweifungen, aus den grotesken Streiflichtern, aus dem Stop-and-go durch die Dinge des Lebens, aus den unerbittlichen Ausschnittvergrößerungen der Wirklichkeit erwachsen (voller dunkler Poesie) die Erkenntnis des Schreckens und eine Ahnung des Mitleids. PS: Aber wer ist Frau Bu? Man erfährt es nicht. Frau Bu lacht, sagt Soey. Worüber? Wer weiß …

25. Juni 2013

Ponys lesen keine Zeitung

Die »Immenhof«-Trilogie

In allen Filmen spielen Angelika Meissner (Dick), Heidi Brühl (Dalli), Margarete Haagen (Oma Jantzen), Paul Klinger (Jochen von Roth) und Matthias Fuchs (Ethelbert). 


1955 | »Die Mädels vom Immenhof« von Wolfgang Schleif

»Trippetrab und klippeklapp / So geht’s im Ponytrab.« Sommer in der Holsteinischen Schweiz: Wiesen und Seen, Pferde und Backfische, erste Liebe und andere Sorgen. Dick und Dalli leben mit ihrer erwachsenen Schwester Angela bei Oma Jantzen auf dem Ponygestüt Immenhof. Die Eltern sind schon lange tot, die Mädchen kamen vor Jahren zu Fuß aus dem Osten. Die Familie könnte trotz ihrer Unvollständigkeit eigentlich recht zufrieden sein, wäre da nicht der Kummer ums liebe Geld: Niemand will mehr Ponys kaufen. Über dem Idyll kreist der Kuckuck. Oma weiß sich keinen Rat – hundert Jahre lang ist doch (fast) alles gutgegangen. Nachbar Jochen von Roth, von den Zeiten (auf unbestimmte Art) ebenfalls schwer gebeutelt, steckt seine Energie in den Aufbau einer Vollblutzucht – und rettet nebenbei (nicht ohne private Motivation) auch den Immenhof … Die Erschütterungen der Vergangenheit bleiben erzählerisch genauso namenlos-ungefähr wie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Gegenwart. Das Land ist zwar noch gut (≈ unverfälscht) genug, um den zivilisatorisch verkrüppelten Großstadtschnösel Ethelbert zum vollwertigen Menschen zu formen, doch die überkommene Sittlichkeit geht nachgerade koppheister. Die Dinge ändern sich – aber nicht, um die gleichen zu bleiben. Zum Schluß wird der Konkurs des Hofes mit Ach und Krach abgewendet. Allein zu welchem Ende?

1956 | »Hochzeit auf Immenhof« von Volker von Collande

»Schenk ihm nur ein Stückchen Zucker, / Denn ein Pony nimmt kein Geld.« Die Rückkehr der reitenden Backfische. Selten begann die Fortsetzung eines heiteren Familienfilms so deprimierend: Oma Jantzens Immenhof ist pleite; am Tor klebt das Pfandsiegel. Angela, die ältere Schwester von Dick und Dalli, hat das Zeitliche gesegnet; Jochen von Roth, ihr kaum Angetrauter, ist schon wieder Witwer. Die Hinterbliebenen leben zusammengepfercht wie die Flüchtlinge im alten Forsthaus des Gutes. Bis zur Zwangsversteigerung bleiben noch vier Wochen. Rettung verspricht der Umbau des Immenhofes zum Ponyhotel, mithin die Verwandlung des ländlichen Raums in die Kulisse seiner selbst, in eine Illusionsmaschine für zahlende Besucher. Fast scheint es, als fände der Heimatfilm im Ausmalen dieser Geschäftsidee zu seltener, natürlich unausgesprochener, Ehrlichkeit. Die handelsüblichen Drehbuchverwicklungen versorgen den Immenhof schließlich mit einem reichen Onkel und einer glücklichen Zukunft (notabene für einen dritten Teil der Erzählung), die resche Dick mit einem neuen love interest (hübscher Künstler) und den schneidigen Witwer Jochen mit einer neuen Frau (hübsche Erbin). PS: Außer Ponys nehmen alle Geld.

1957 | »Ferien auf Immenhof« von Hermann Leitner

»Wißt ihr, wo auf der Welt / Man von Sorgen gar nichts hält?« Aus dem Immenhof ist tatsächlich ein Ponyhotel geworden. Nur die Gäste fehlen noch. Jochen von Roth, mittlerweile unangefochtener Herr im Haus, versucht, ganz seriös, das wirtschaftliche Gelingen in Person eines einflußreichen Hamburger Reiseunternehmers herbeizulocken. Die jungen Leute improvisieren, in naßforschem Überschwang, einen werbezirzensischen Reiterkorso durch das nahegelegene Lübeck. Oma Jantzen, zur Grüßauguste des Fremdenverkehrsbetriebs degradiert, macht gute Knittermiene zum (hoffentlich) gewinnbringenden Ausverkauf ihres Holsteinischen Lebenswerkes. Der dritte Teil der Pony-und-Backfisch-Saga öffnet den stürmischen Kräften der Vermarktung alle Gatter. Mit Erfolg. Am Ende kommen Touristen. »Und wer da einmal war, / Der kommt immer wieder.«