25. Mai 2014

Der Witz und seine Beziehung zum Hochbewußten

Kino | »Über-Ich und Du« von Benjamin Heisenberg (2014)

Komik als Konzept. Skurrile Charaktere. Trockene Pointen. Attraktive Settings. Präzise Beobachtungen. Interessante Konstellationen. Schuld und Schweigen. Vater und Mutter. Sprechen und Scham. Alter und Jugend. Übertragung und Projektion. Bücher und Geld. Körper und Seele. Psychologie und Geschäft. Müdigkeit und Überschwang. Therapie und Verbrechen. Prügel und Massage. Wechselwirkung und Diebstahl. Villa und Alm. Gestern und heute … Gut und schön. Aber wer sind diese Leute? In welcher Welt leben sie eigentlich? Wovon reden sie bloß? Wo ist der Zusammenhang? Und wenn ja, warum? Fragen über Fragen. »Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleiner Baum.«

24. Mai 2014

Schnurrbart des Grauens

Die Fu-Manchu-Filme der sechziger Jahre

1965 | »The Face of Fu Manchu« von Don Sharp

»He’s cruel, callous, brilliant, and the most evil and dangerous man in the world«, sagt Scotland-Yard-Inspektor Nayland Smith (gespielt von Nigel Green, einem Inbild des britischen Stiff-upper-lip-Kolonialoffiziers) über seinen Gegenspieler: Dr. Fu Manchu (Christopher Lee), ein besonders abgefeimtes Exemplar aus der langen Galerie promovierter Erzschurken – Dr. Caligari, Dr. Mabuse, Dr. No –, greift, wie es sich für den bösartigsten Mann der Welt gehört, nach der Herrschaft über die gesamte Menschheit. Es ist die sprichwörtliche »gelbe Gefahr«, die Fu Manchu in Harry Alan Towers’ englisch-deutscher Koproduktion fratzenhaft verkörpert, der personifizierte Angsttraum des zivilisierten Westens vor der orientalischen Despotie. Nichts weniger als »the secret of universal life« will der Superverbrecher (assistiert von seiner sadistischen Tochter Lin Tang) enträtseln, besser gesagt: aus seltenen tibetischen Samenkörnern destillieren (wozu er die mehr oder weniger freiwillige Hilfe europäischer Gelehrter benötigt), wobei es ihm als großem Zerstörer um die Überwindung des irdischen Lebens geht, um »the life after this life«, kurz: um den Tod. Der Spielort des von Don Sharp mit spröder Eleganz inszenierten, im Zwischenreich von James Bond und Edgar Wallace angesiedelten Pulp-Dramas, das behaglich-graue London der 1920er Jahre, erweist sich als längst unterhöhlt von Geheimgängen und Folterkellern, und immer wieder durchzuckt das grelle Rot einer letalen Bedrohung die stolze Selbstgewißheit der Metropole des Empire. »Remember Fleetwick«, läßt Fu Manchu mit alarmierend ruhiger Stimme über Radio verlauten; kurz darauf ist eine Kleinstadt ausgelöscht – als erpresserische Ankündigung des kommenden, noch verheerenderen Unheils. Am Ende siegt das Gute, und das Böse bekundet seine Unbesiegbarkeit: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Joachim Fuchsberger und Karin Dor)

1966 | »The Brides of Fu Manchu« von Don Sharp

»You have no will, no mind of your own.« Fu Manchu, in giftig glänzendes Smaragdgrün gewandet, will einmal mehr die Weltherrschaft an sich reißen und erweist sich dabei als östlicher Pervertierer westlicher Fortschrittseuphorie: Seine Schergen entführen zu Erpressungszwecken die Töchter genialer (wiederum europäischer) Wissenschaftler, deren kombinierte Forschungsergebnisse die Übermittlung von Zerstörungsenergie via Radiowellen ermöglichen. Am Fuße des marokkanischen Atlasgebirges unterhält der Teufel in Chinesengestalt in einer umgenutzten antiken Tempelanlage seine hochmoderne Leitzentrale, in der zum einen die schönen Frauen als lebende (und hörige) Faustpfände einsitzen, von der aus zum anderen die tödlichen Strahlen in den Äther gefunkt werden. Abermals von Don Sharp ins Werk gesetzt, entbehrt der zweite Teil der Reihe leider sowohl der gelassenen Stilsicherheit des Vorgängers wie auch der kühl-effektvollen Ausmalung von Gefahr: Weder jene Szene, die die ostentative Zerstörung eines Dampfschiffs zeigt, noch der Angriff auf eine hochkarätig besetzte Arms Conference, deren Teilnehmer sich in der Londoner St. Paul’s Cathedral versammeln, schöpfen das vorhandene Spannungspotential auch nur ansatzweise inszenatorisch aus. »In a few moments the entire world will capitulate to me«, phantasiert Fu Manchu; seinem entschlossenen Verfolger Nayland Smith (Sherlock-Holmes-Darsteller Douglas Wilmer ersetzt Nigel Green) gelingt es, wie zu erwarten war, eben dies zu verhindern, freilich ohne das schlitzäugige Grundübel endgültig ausmerzen zu können: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Heinz Drache und Maria Versini)

1967 | »The Vengeance of Fu Manchu« von Jeremy Summers

»World domination? That means Fu Manchu!« Ein Film über Vergeltungsgelüste und über Organisationsstrukturen in einer sich dramatisch wandelnden Welt. Fu Manchu, der sein Hauptquartier in der nordchinesichen Provinz aufgeschlagen hat, schwört blutige Rache an seinem hartnäckigsten Gegner, dem britischen Ordnungshüter Nayland Smith. Gleichzeitig formieren sich zwei antagonistische Interessengemeinschaften: Auf der einen Seite bilden die nationalen Sicherheitskräfte eine globale Polizeibehörde (genannt: »Interpol«) zur vereinten Bekämpfung des weltweiten Verbrechens, welches auf der anderen Seite im Begriffe steht, sich unter einem gemeinsamen Führer (wem wohl?) zusammenzuschließen, um im Kollektiv vernichtende Schlagkraft zu gewinnen. Fu Manchu, das kriminelle Superhirn, das seine asiatischen Zerstörungstaten als »work of infinite pleasure« bezeichnet, plant, die Polizeichefs aller Staaten gegen hypnotisierte Doppelgänger auszutauschen, die ihrerseits brutale Straftaten verübten, wodurch sich das Gesetz gleichsam selbst untergrübe – warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Zum ersten Opfer ist kein anderer als Nayland Smith auserkoren, und in schöner Serientradition muß ein durch Bedrohung seiner Tochter gefügig gemachter westlicher Spezialist widerwillige Hilfsdienste leisten. Von Jeremy Summers professionell aber weitgehend ohne schöpferische Inspiration eingerichtet, läuft das Schurkenstück mit ein paar dezent-grausamen Einlagen auf das planmäßige Finale zu: Fu Manchus ehrgeizige Ideen verpuffen ebenso wie sein palastartiges Befehlszentrum, und durch quellende Rauchschwaden klingt das vertraute Schlußwort: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Horst Frank und Wolfgang Kieling)

1968 | »The Blood of Fu Manchu« von Jess Franco

Jess Franco meets Fu Manchu. Eine Karawane von aneinandergeketteten, in aufreizende Lumpen gehüllten Frauen wird durch den südamerikanischen Urwald gepeitscht. Kein schlechter Anfang für ein sexistisches Mystery-Abenteuer. Auch die Prämisse klingt vielversprechend: Fu Manchu nutzt ein uraltes, verderbenbringendes Geheimnis, um seine Feinde zu bekämpfen: tödliches Schlangengift, das den gekidnappten Schönen per Biß in die Kehle (oder in den Busen) verabfolgt wird, damit es über deren Blut und Lippen die wehrlosen Opfer weiblicher Reize erreiche. Nayland Smith (gespielt von Richard Greene, dem dritten und mit Abstand fadesten Darsteller des wackeren Scotland-Yard-Beamten) ist der Erste einer ganzen Reihe von hochrangigen, aber im filmischen Verlauf unsichtbar bleibenden Zielpersonen, der den Todeskuß empfängt, woraufhin er erblindet und lediglich bis zum nächsten Vollmond Zeit hat, ein wirksames Gegenmittel zu finden. Die simpel-verworrene Handlung läßt – neben den lebensgefährlichen Evastöchtern – einen taffen Archäologen, eine rotbestrumpfte Krankenschwester sowie einen feisten, unentwegt lachenden Schießbudenbanditen unzählige überflüssige Pirouetten drehen, während der chinesische Strippenzieher in einem unterirdischen Inkatempel sitzt, ohne je das Tageslicht zu sehen, ein fast bedauernswerter Gefangener seiner gekränkten Eitelkeit und der daraus resultierenden quasipubertären Allmachtsphantasie. »Everlasting death, horrible, inescapable, universal death«, wünscht Fu Manchu der gehaßten Menschheit an den Hals, doch seine toxische Botschaft bleibt ungehört. Am Ende heißt es wie gehabt: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Götz George und Maria Rohm)

1969 | »The Castle of Fu Manchu« von Jess Franco

»This is Fu Manchu. Once again the world is at my mercy.« Nicht nur die Welt ist der Gnade des ruchlosen Verbrechers (und seines abermaligen Regisseurs Jess Franco) ausgeliefert, sondern auch das Publikum: Das Scheusal hat sich die Geheimformel eines gewissen Professor Hercules verschafft, die es ermöglicht, das Wasser der Ozeane mittels eines kristallinen Opium-Derivats binnen Sekunden in Eis zu verwandeln. Da es noch einige chemische Probleme zu lösen gilt, der Professor jedoch an akuter Herzschwäche leidet, werden kurzerhand ein Chirurg und seine Assistentin entführt, die im Istanbuler Hauptquartier des Schurken eine rettende Organtransplantation durchführen müssen; unterdessen ist Nayland Smith darum bemüht, die Menschheit vor dem ultimativen Gefrierschock zu bewahren … Zu Beginn des Films verwurstet Franco ungeniert die Schlußsequenz des zweiten Teils der Reihe, »The Brides of Fu Manchu«, sowie blau gefärbte Ausschnitte aus dem schwarzweißen Titanic-Drama »A Night to Remember«, um sich sodann lustlos durch die törichte Handlung zu lavieren; nur einige im surrealen Ambiente des Gaudíschen Parque Güell in Barcelona gedrehte Szenen und die bavaesk illuminierte Höhlenwelt von Fu Manchus Blubberlaboratorium faszinieren durch ihr phantastisch-geschmackloses Formgefühl. So erfährt die Legende vom gelben Satan schließlich und endlich ihre Entzauberung in kinematographischem Blödsinn: The Folly of Fu Manchu oder Die Debilität des Bösen. The world shall not hear from him again. (Gaststars: Günther Stoll und Maria Perschy)

20. Mai 2014

Unheimliche Heimat

Buch | »Nachkriegskino« von Gerhard Bliersbach (2014)

Der westdeutsche Nachkriegsfilm genießt keinen guten Ruf. Der außerordentliche Erfolg beim Publikum – 1956, als in der Bundesrepublik über 800 Millionen Kinokarten verkauft wurden, lag der Marktanteil heimischer Produktionen bei fast 50 % – hat sich für das »Schnulzenkartell« (Alexander Kluge) imagemäßig nicht bezahlt gemacht: Rezensenten, sowohl den schöngeistigen Feuilletonisten als auch den ideologiekritischen Jungtürken, galten bundesdeutsche Filme von jeher für bieder und gestrig, hastig hingepfuscht oder verstaubt inszeniert von politisch zweifelhaften Routiniers der Ufa-Schule, im internationalen künstlerischen Vergleich hoffnungslos abgehängt, etwa von den kinematographischen Entwicklungen in Italien, Polen oder Japan. Einzelne sehenswerte Werke, von Käutner, Tressler oder Wicki, bildeten danach die Ausnahmen, die die Regeln bestätigten. 1961 veröffentlichte der Journalist Joe Hembus sein Pamphlet »Der deutsche Film kann gar nicht besser sein«, während Walther Schmieding sich unter dem Titel »Kunst oder Kasse« den »Ärger mit dem deutschen Film« von der Seele schrieb, 1962 widmeten Enno Patalas und Ulrich Gregor in ihrer »Geschichte des Films« dem Kino der Ära Adenauer gerade einmal anderthalb Seiten, im gleichen Jahr erklärten 26 Nachwuchsfilmemacher »Papas Kino« für tot. Es dauerte fast 20 Jahre, bis die Gruft geöffnet und das bundesdeutsche Nachkriegskino Gegenstand interessierter – und differenzierter – filmkritischer Betrachtungen wurde: Ulrich Kurowski gab ab 1979 die dreiteilige Materialsammlung »nicht mehr fliehen« heraus, 1980 erschien Christa Bandmanns und Joe Hembus’ »Klassiker des deutschen Tonfilms«, 1987 Claudius Seidls »Der deutsche Film der fünfziger Jahre«, 1989 schließlich, begleitend zu einer Ausstellung über den westdeutschen Nachkriegsfilm im Frankfurter Filmmuseum, der umfangreiche Katalogband »Zwischen gestern und morgen‬«. Einer von jenen, die eine »neue Sicht« auf das Thema eröffneten, war der Psychologe Gerhard Bliersbach mit seinem 1985 publizierten Buch »So grün war die Heide«. Bliersbach erzählte, indem er rund ein Dutzend der bekanntesten Heimat-, Lustspiel-, Kriegs- und Kriminalfilme mit den Mitteln seines Fachs – sehr anschaulich und unterhaltsam – sezierte, eine Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik, er verdeutlichte, am Beispiel von Figuren wie Lüder Lüdersen oder des Gefreiten Asch, von Kaiserin Sissi oder Professor Sauerbruch, die Seelennöte und Schuldgefühle, die Wünsche und Ängste der frischgebackenen Bundesbürger zwischen Nazi-Vergangenheit und Wirtschaftswunder. Mit »Nachkriegskino«, einer »Psychohistorie des westdeutschen Nachkriegsfilms« schließt Bliersbach an das Vorgängerwerk an und erweitert sein Untersuchungsfeld auf etwa 50 Filme aus dem Jahren zwischen 1946 und 1963. Die fünfziger Jahre erscheinen dabei nicht als erstarrte Epoche der Restauration, sondern als bewegte Zeit eines »existenziellen Ringen[s] um die Modifikation und Integration der deutschen Identität in die bundesdeutsche, westdeutsche Identität«. Unter Kapitelüberschriften wie »Beschädigungen«, »Reparaturen«, »Rechtfertigungen«, »Ausbrüche«, »Abrechnungen« forscht Bliersbach dem filmischen Widerhall dieses Transformationsprozesses nach, expliziert die Echos von Traumatisierung und Kränkung, von Schande und Verbrechen, von Beschämung und Selbstschutz. Die Analyse beginnt, nicht ganz konsequent, mit Wolfgang Staudtes »Die Mörder sind unter uns«, der als erster deutscher Nachkriegsfilm unter sowjetischer Lizenz bei der östlichen Defa entstanden war, und endet mit Harald Reinls deutsch-amerikanischem Versöhnungsmärchen »Winnetou«. Um enzyklopädische Vollständigkeit ist es Bliersbach offenkundig nicht zu tun – auf Melodramen geht er so wenig ein wie auf die Exploitationfilme eines Wolf C. Hartwig, fast unbeachtet bleiben Revuefilme und die Werke der (wenigen) Remigranten, im Namensregister fehlen unter anderem Maria Schell und O. W. Fischer, Fritz Lang und Gerd Oswald –; seine persönliche Auswahl konzentriert sich auf jene Filme, deren Schöpfer, zumeist unfreiwillig, Auskunft geben über Fragen von Schuld und Verantwortung in der nationalsozialistischen Gesellschaft, über die psychosozialen Erschütterungen der Nachkriegszeit, über die allmähliche Ausprägung eines bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Bliersbach, der sein (keinesfalls argloses) Vergnügen an vielen der beschriebenen Filme sympathischerweise nicht verhehlt, zieht Verbindungslinien von der Lüneburger Heide ins London der Edgar-Wallace-Reißer, von den Kasernenhöfen der Wehrmacht ins Land der Mescalero-Apachen, er entwickelt seine Hypothesen lesbar und schlüssig, so schlüssig, daß fast der Eindruck entstehen könnte, die Autoren und Regisseure des westdeutschen Nachkriegskinos hätten, freilich unbewußt, gemeinschaftlich an einer großen, wenn auch einigermaßen verdrucksten Erzählung gearbeitet.

15. Mai 2014

Zwischen Zeiten, zwischen Welten

Die Spielfilme von Thomas Brasch

Thomas Brasch, Lyriker, Prosaist, Stückeschreiber und Filmemacher, wurde 1945 als Sohn deutscher Emigranten in England geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die jüdische Familie in die sowjetische Besatzungszone. Der Vater, Horst Brasch, machte Karriere als SED-Funktionär, brachte es bis zum stellvertretenden Kulturminister der DDR, während sein ältester Sohn immer wieder in Konflikt mit dem realsozialistischen System geriet: Ein Journalistikstudium in Leipzig mußte Thomas Brasch aufgrund kritischer politischer Äußerungen beenden; wegen einer Protestaktion gegen die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts wurde er von der Babelsberger Filmhochschule relegiert und zu einer Haftstrafe verurteilt. Es folgte die obligatorische »Bewährung in der Produktion«, anschließend lebte und arbeitete Thomas Brasch als freier Schriftsteller. Eine Nummer der Lyrikheft-Reihe »Poesiealbum« blieb seine einzige Veröffentlichung im Osten Deutschland. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 verließ Thomas Brasch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach die DDR. Er lebte fortan in Westberlin, wo auch seine drei Spielfilme entstanden. 


1981 | »Engel aus Eisen«

»Lieber Gott, erspar mir, in einer uninteressanten Zeit zu leben.« Am 10. November 1950 starb der 19jährige Berliner Bandenchef Werner Gladow in Frankfurt/Oder unter dem Fallbeil. Der jugendliche Verbrecher, der Al Capone zu seinem Vorbild erkoren hatte und schon zu Lebzeiten eine Legende war, wurde immer wieder zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung: Erich Loest verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman »Die Westmark fällt weiter«, Christa Reinig verewigte den Fall in der »Ballade vom blutigen Bomme«. Der Dichter Thomas Brasch schöpft frei aus dem historischen Faktenmaterial, erzählt das Treiben der berüchtigten Bande als elegisches, symbolisch aufgeladenes Gangster-Märchen in traumhaft klarem Schwarzweiß: die Trümmer, die Stadt und der Tod. Das zerstörte Berlin, von den zerstrittenen Siegern des Weltkriegs geteilt, liegt im heißen Sommer 1948 unter dem Motorenlärm der Luftbrücke. Unaufhörliches Dröhnen der Flugzeuge, dazu Schwarzmarkt, Stromsperren und intersektorales Behördengerangel – ideale Bedingungen für jede Form von krimineller Aktivität. Gladow, ein unerbittliches Milchgesicht (Ulrich Wesselmann), das auch schon mal auf der Guillotine probeliegt, und seine Spießgesellen, darunter der ehemalige Henker Gustav Völpel (Hilmar Thate), nutzen die Gunst der Stunde: zuerst Schleichhandel und Straßenraub, später bewaffnete Überfälle. »Engel aus Eisen« verweigert die klassische Spannungsarchitektur des Genres, groovt sich – vor allem kraft Walter Lassalys grafisch stilisierter, oft geheimnisvoll entvölkerter Bilder – in einen sehr eigenwilligen, somnambulen Rhythmus. Brasch schaut mit zärtlicher Distanz auf eine zerrüttete Gesellschaft zwischen totaler Niederlage und Angst vor einem neuen Krieg, auf kaputte Menschen zwischen kläglicher Desillusion und trotziger Selbstbehauptung. »Berlin ist nicht Chicago!« ruft nach Gladows Verhaftung die empörte Volksmenge. Stimmt wahrscheinlich, aber man kann es ja mal versuchen: »Der Tote mit aufgerissenem Auge / hat weiße Strümpfe an. / Die Straße liegt still, ein heller Morgen: / So fangen die schönsten Tage an.«

1982 | »Domino«

»Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht.« Zwölf Tage im Winter, zwölf Tage in Westberlin. Vorweihnachtlicher Trubel, Lichterglanz in nächtlichen Straßen. Am 20. Dezember setzt Lisa (Katharina Thalbach) ihre kleine Tochter in den Zug. Die kommenden Feiertage will die junge Schauspielerin in aller Ruhe verbringen. Ins Museum gehen, die Zieheltern besuchen, lesen, schlafen. Es kommt freilich ganz anders: Am Bahnhof erzählt ein Passant von »Nervenheilanstalten für welche, die das privatkapitalistische System nicht mehr aushalten«, warnt vor kommendem Krieg, später blockiert ein unverriegeltes Türschloß, in der Folge verliert Lisas Leben allmählich den Takt, ihre (Gedanken-)Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen, am 1. Januar sitzt sie, mutterseelenallein, im verschneiten Grunewald, sieht einem Zug von Arbeitslosen nach, die in die Südsee deportiert werden sollen … Zwischen den Jahren fällt die Schauspielerin aus der Rolle, läßt sich treiben, begegnet einem abgehalfterten Theaterregisseur (Bernhard Wicki) und einem reisenden Schriftsteller, einem orientierungslosen Kohlenmann und zwei unternehmungslustigen Nutten, schläft mit einem Zufallsbekannten, spielt Domino mit ihrer toten Mutter. Wie Dominosteine legt Brasch Szene an Szene, und als würde es ihm im Laufe des Spiels immer gleichgültiger, ob die Steine aneinanderpassen, löst er, parallel zur wachsenden Verwirrung seiner Protagonistin, den logischen Sinnzusammenhang zwischen den Episoden auf, schafft Raum für Assoziationen, Träume, Erinnerungen – bis Lisa eines Abends die Vorstellung schmeißt, sich langsam abschminkt, das Theater verläßt, einfach weggeht, ohne zu wissen wohin. Gesellschaftliche Ängste und persönliche Krisen, poetisch überhöht, tödlich verzaubert vom Schnee, der die gewohnten Geräusche dämpft, der das Leben »auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehen oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt« (Robert Musil)

Ergänzend zu »Engel aus Eisen« und »Domino«, die in rascher Folge entstanden waren, plante Thomas Brasch die Realisierung des Mittelstücks einer Berlin-Trilogie. »Das Fest der Besiegten« hätte an einem einzigen Tag, dem 17. Juni 1953, gespielt und die Geschichte zweier rivalisierender Halbbrüder erzählt: Robert wird von aufständischen Arbeitern aus einem Gefängnis in Ostberlin befreit und geht auf die Suche nach Georg, der sich mit dem erbeuteten Geld aus einem gemeinsam begangenen Einbruch eine neue Existenz im Westteil der Stadt aufgebaut hat. Das »große Panorama«, das die historischen Ereignisse im Spiegel privater Konflikte (und umgekehrt) als Abfolge von dramatischen Episoden und aufwendigen Massenszenen dargeboten hätte, das »Epos über Geschichte, Auflehnung, Hoffnung und Verwirrung«, mit Giulietta Masina, Maria Schneider, Gene Hackman und Max von Sydow in Thomas Braschs Vorstellung international besetzt, wurde nicht gedreht. Auch »Der Liebesfall«, eine leicht surreale Romanze über einen jungen Mann, der Luxusautos überführt und einer verführerischen Wegelagerin verfällt, blieb unverwirklicht. Für das niederländische Fernsehen inszenierte Thomas Brasch 1984 sein eigenes Theaterstück »Mercedes«, vier Jahre später folgte sein dritter und letzter Spielfilm.

1988 | »Der Passagier – Welcome to Germany«

»Schlafwandler überall.« Aus Hollywood kommt der erfolgreiche Regisseur Cornfield (Tony Curtis) nach Berlin, um ein Herzensprojekt zu realisieren. Es beschreibt die Erlebnisse einer Gruppe von 13 Juden, darunter die ungleichen Freunde Baruch und Janko (Birol Ünel und Gedeon Burkhard), die 1942 aus einem Konzentrationslager geholt wurden, um Komparsenrollen in einem antisemitischen Propagandafilm des Spielleiters Körner (Matthias Habich) zu übernehmen. Nach den Dreharbeiten, so wurde den Häftlingen zugesichert, könnten sie alle in die Schweiz ausreisen. Das Versprechen erweist sich als Lüge. Baruch und Janko denken an Flucht, aber nur einer von beiden wird überleben. Es dauert nicht lange, bis klar wird, daß es Cornfields eigene Geschichte ist, die nach und nach filmische Gestalt annimmt … Inspiriert von einer tatsächlichen Begebenheit – Veit Harlan ließ für seinen Film »Jud Süß« Statisten aus einem polnischen Ghetto herbeischaffen – porträtieren Thomas Brasch und sein Koautor Jurek Becker einen Mann, der sich einer alten Schuld stellen will, jedoch unfähig ist, der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was zunächst wie die publikumswirksame Melodramatisierung eines heiklen Themas durch einen Mainstream-Regisseur wirkt, erweist sich letzten Endes als klitternde Schönfärberei, als doppeltes menschliches Versagen: auf den ersten, realen Verrat am Freund folgt der zweite, künstlerische. Nicht ungeschickt schiebt Brasch die Zeitebenen der Erzählung ineinander, macht eindrucksvoll Parallelen zwischen Studio und Lager sichtbar, doch wie der Antiheld Cornfield, dessen Gestaltungskraft von den Gespenstern des früheren Lebens immer stärker gelähmt wird, versinkt auch sein Schöpfer zunehmend in Konfusion und Unsicherheit. Die Inszenierung verliert sich in visuell abgedroschenen Visionen, eine Nebenfigur liefert in einem papiernen Monolog die erwartbare Auflösung des biographischen Rätsels. »Destroy it«, sagt Cornfield nach Abschluß der Dreharbeiten frustriert zu seinem Assistenten. Bei aller formalen Unausgewogenheit ist »Der Passagier« ein interessanter Versuch über Kunst und Wahrheit, über Schuld und Scham, über Verdrängung und die Illusion, Vergangenheit »bewältigen« zu können.

Nach Mauerfall und Wiedervereinigung hatte Thomas Brasch keine Gelegenheit mehr zur Verwirklichung seiner Filmprojekte. Gleichwohl entwickelte er weiterhin Stoffe für Spielfilme und Fernsehserien: »Liebe oder Polizei«, eine Komödie über einen Volkspolizisten, der nach der Wende erst zum Kaufhausdetektiv wird, dann zum erfolgreichen Kriminellen, dann wieder zum braven Gesetzeshüter; »Nathans Wiederkehr« über die Abenteuer eines mehr oder weniger freiwilligen Spitzels im Theater des Jüdischen Kulturbundes während des Zweiten Weltkriegs; »Fräulein Kuckuck« über die skurrilen Erlebnisse einer Gerichtsvollzieherin. 2001 ist Thomas Brasch in Berlin gestorben.

Zu »Engel aus Eisen« und »Domino« erschienen begleitende, umfangreich bebilderte Filmbücher im Suhrkamp Verlag. Die Treatments zu den nicht realisierten Projekten wurden erstmals 2004 im »Arbeitsbuch Thomas Brasch« der Zeitschrift »Theater der Zeit« veröffentlicht. Alle Filme von Thomas Brasch sind in einer DVD-Box der Filmedition Suhrkamp versammelt.

5. Mai 2014

Look at all the lonely people

DVD | »Talking Heads« von Alan Bennett (1988/1998)

»Sprechende Köpfe« gelten in fiktionalen Formaten des Fernsehens weithin als Inbegriff des visuellen Stumpfsinns und der banalen Geschwätzigkeit: Gesprochen wird, wenn nichts zu zeigen ist. Alan Bennetts BBC-Serie »Talking Heads«, die – noch dazu in Form von Monologen! – nichts anderes bietet, als der Titel erwarten läßt, verwandelt die vermeintliche inszenatorische Un-Attraktion, mittels ironisch-tieflotender Texte und brillanter Darsteller, in delikate Bildschirmkunst. In zwei Staffeln à sechs Folgen (deren jeweilige Länge zwischen 30 und 45 Minuten schwankt) gewährt Bennett Einblicke in die Welt des kleinen und mittleren (nordenglischen) Bürgertums, läßt zwölf Personen aus ihrem Leben erzählen, aus einem Alltag, der unversehens Deformationen, Schrecken und Absurdität enthüllt. Intimität und Konzentriertheit der Stücke finden ihre gestalterische Entsprechung in den aufs Wesentliche reduzierten Dekorationen, im sparsamen Einsatz von Musik und Kamerabewegungen, im meisterlichen Underplay der Schauspielerinnen und Schauspieler. Da ist zum Beispiel der alternde Graham (Alan Bennett), dessen geistig leicht verwirrte Mutter von einem früheren Verehrer umschwärmt wird, der den Sohn aus dem Haus drängen will (»A Chip in the Sugar«); Irene (Patricia Routledge), deren einziger Kontakt zur Welt die anonymen Brief sind, mit denen sie die Nachbarschaft terrorisiert, erlebt wahre Freiheit erst im Gefängnis (»A Lady of Letters«); Susan (Maggie Smith), eine alkoholkranke Pfarrersfrau, findet vorübergehend Trost in den Armen eines jungen indischen Lebensmittelhändlers (»A Bed Among the Lentils«); Muriel (Stephanie Cole), muß nach dem Tod ihres Gatten nicht nur erleben, wie der nichtsnutzige Sohn das Erbe vernichtet, sie realisiert auch häßliche Details aus der Familiengeschichte (»Soldiering On«); die Schauspielerin Leslie (Julie Walters), die mit einem lange zurückliegenden Kurzauftritt bei Polanski renommiert, lügt sich ihre Rolle in einem (deutschen!) Softporno schön (»Her Big Chance«); Doris (Thora Hird), eine nörgelnde Seniorin mit Sauberkeitswahn, sieht sich von der Wohlfahrt in Gestalt einer nachlässigen arabischen Hauspflegerin gedemütigt (»A Cream Cracker under the Settee«). Trotz aller Anpassung und Disziplin werden die tapfer-traurigen Protagonisten zu Zeugen der Auflösung ihrer mühsam gehegten Ordnung: Nebensätze, Atempausen, insistierende Blicke deuten die stillen Katastrophen an. In der zweiten Staffel der Serie, zehn Jahre nach der ersten entstanden, wirken die geschilderten Schicksale düsterer, der Humor schwärzer. Miss Fozzard (Patricia Routledge), mit der Pflege eines schwerkranken Bruders belastet, erhält Verständnis (und finanzielles Zubrot) von einem fetischistischen Fußpfleger (»Miss Fozzards Finds Her Feet«); die gewinnsüchtige Antquitätenhändlerin Celia (Eileen Atkins) läßt sich den Fund ihres Lebens durch die Lappen gehen (»The Hand of God«); Wilfred (David Haig), ein therapierter Kinderschänder, erliegt erneut der Versuchung seiner Dämonen (»Playing Sandwiches«); Marjory (Julie Walters) hält ihr Heim in aseptischer Reinlichkeit und begreift, daß ihr Mann nicht nur ein Hundefreund sondern auch ein Serienmörder ist (»The Outside Dog«); Rosemary (Penelope Wilton), unglücklich verheiratet und subtil unterdrückt, erblüht in der kurzen Freundschaft zu einer Nachbarin, die ihren repressiven Gatten getötet hat (»Nights in the Gardens of Spain«); Violet (Thora Hird), die älteste Bewohnerin eines Seniorenheims, erwartet den Geburtstagsgruß der Queen, während sie an jenes königliche Telegramm zurückdenkt, das ihr den Tod eines geliebten Menschen auf dem Schlachtfeld verkündete (»Waiting for the Telegram«). Es sind minimalistische Sittenbilder, die Bennett ohne jede Sentimentalität ausbreitet, herzbewegende, fatale, kuriose Episoden über soziale Vereinsamung und seelische Not, dramödiantische Fälle von menschlicher Sprachlosigkeit, die ihr Ventil in intensiven Selbstgesprächen findet. Naivität ist den »Talking Heads« dabei nicht zu unterstellen: Sie alle wissen nur zu gut, welch bizarrer Wirklichkeit sie mit blumigen Umschreibungen und aparten Euphemismen einen Anschein von Normalität zu verleihen suchen.