29. Oktober 2017

Standbild (17)

Unterwelt 

Innen. Keller. Nacht. Links neben der Eingangstür des Raums ist mit Kreide ein Muster in der Art einer Schießscheibe an die einfarbig getünchte Wand gezeichnet. Zahlreiche Einschußlöcher übersäen den Putz im Bereich der vier konzentrischen Kreise, die genau in der Mitte ein Kreuz durchzieht. Die äußeren Kreideringe schneiden linksseitig ein schmales Hakenbord, an dem ein stark verschmutztes kariertes Handtuch hängt, sowie untenhin einen an der Wand verschraubten Ausguß mit geschweifter Rückenplatte und rundem Becken, dessen weiß emaillierte Oberfläche etliche Beschädigungen aufweist. Rechts neben der Tür trennt eine zaunartige Begrenzung aus Holzbrettern den Raum vom Nachbarkeller. An der Lattenwand, durch deren Spalte schwache Lichtstreifen fallen, lehnt ein etwa zwei Meter hohes Regal mit offener Rückseite. Im oberen Fach befinden sich eine Schreibmaschine, eine Pappkiste mit Deckel und zwei Schmalfilmkameras, das untere Fach beinhaltet ein Rundfunkgerät, eine Figurenuhr, eine bauchige chinesische Vase, einen Handkoffer und mehrere verschlossene Holzkästen. In das rechte Seitenteil der Stellage ist ein Nagel geschlagen, der einem hellen Regenmantel als Aufhängung dient. Die der Tür gegenüberliegende Wand des Kellerraums ist unverputzt. Zwei tiefe Rücksprünge im grob gekalkten Mauerwerk bilden Nischen mit hohen Brüstungen und doppelflügeligen Sprossenfenstern, die jeweils auf enge Lichtschächte hinausgehen, wobei hölzerne Blenden die Öffnungen der senkrechten Hohlräume versperren. Ein am Pfeiler zwischen den Fensternischen befestigter, vollständig entfalteter Plan zeigt das Zentrum der in vier Sektoren geteilten Stadt Berlin. Vor der Karte hängt eine schwarze Industrielampe, die einen darunter stehenden klobigen Holztisch bescheint. Gegenüber dem rechten Fenster, dessen Scheiben teilweise zersprungen sind, steht ein etwa achtzehnjähriger Mann in einem karierten Hemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. In der Hand seines ausgestreckten rechten Arms hält er eine Pistole, mit der durch eines der oberen Felder des Fensters schießt. Neben dem jungen Mann hockt eine Frau mittleren Alters, deren mittelblondes Haar zu einer sogenannten Entwarnungsfrisur hochgesteckt ist. Ihr Gesichtsausdruck zeigt nervöse Anspannung, über der Nasenwurzel graben sich zwei scharfe Falten in die Stirn. Sie trägt eine kurzärmlige dunkle Wollbluse mit spitzen Aufschlägen und stoffumnähten Knöpfen. Im Halsausschnitt des Kleidungsstücks blitzt ein kleines silbernes Kreuz. Die hockende Frau ist die Mutter des schießenden jungen Mannes. Sie reicht ihrem Sohn, dem Anführer einer berüchtigten Bande von zumeist jugendlichen Verbrechern, die über Monate hinweg in den Trümmern der kriegszerstörten ehemaligen Reichshauptstadt ihr Unwesen trieben, eine nachgeladene Waffe, damit er sich gegen den Angriff der vor dem Haus aufmarschierten Polizei verteidige. Nichtsdestotrotz werden in wenigen Augenblicken die Sicherheitskräfte den Keller stürmen und den jungen Mann verhaften. Nach einem spektakulären Prozeß wird der noch nicht volljährige Delinquent, wegen Mordes, Mordversuchs und Raubes zum Tode verurteilt, unter dem Fallbeil sein Leben lassen.

20. Oktober 2017

Schwarz sehen (2)

Vier Films noirs von Joseph H. Lewis

Joseph H. Lewis wurde 1907 in New York geboren. Mitte der 1920er Jahre folgte er seinem älteren Bruder nach Hollywood, wo er als Kameraassistent und Cutter arbeitete. 1937 bekam Lewis die Gelegenheit, erstmals Regie zu führen. Bis Ende der 1950er Jahre inszenierte er für diverse Studios und unabhängige Produzenten knapp 40 Low-Budget-Filme unterschiedlicher Genres, in erster Linie Western, Melodramen und Gangsterfilme. Peter Bogdanovich nannte diese Werke »lauter individualistische Genrefilme mit einem besonderen atmosphärischen Touch«. Ab 1958 arbeitete Lewis für das Fernsehen (unter anderem drehte er rund 50 Episoden für die Westernserie »The Rifleman«), bevor er sich Mitte der 1960er Jahre zur Ruhe setzte. Er starb im Jahr 2000 im kalifornischen Marina del Rey. 


1945 | »My Name is Julia Ross« (»Mein Name ist Julia Ross«)

»Please, listen to me!« Nach längerer Erwerbslosigkeit ist Julia Ross (Nina Foch) glücklich, eine Stellung als Sekretärin bei einer reizenden älteren Dame (Dame May Witty – die altjüngferliche Geheimagentin aus Alfred Hitchcocks »The Lady Vanishes«) zu finden, und akzeptiert dankbar die Bedingung, umgehend in das Londoner Haus ihrer neuen Arbeitgeberin zu ziehen. Doch am folgenden Morgen findet sie sich in einer einsamen Villa an der Küste Cornwalls wieder, als Gefangene eben jener reizenden älteren Dame und ihres latent aggressiven Sohnes, vor Nachbarn und Dienerschaft als dessen verrückte Ehefrau ausgegeben ... Die B-Variation des in den 1940er Jahren beliebten »paranoid woman’s film« (à la »Rebecca« und »Gaslight«), ein kleiner, feiner gothic thriller, ein elegantes Schauerstück über Persönlichkeitsverlust und (beinahe) tödliche Einsamkeit: Julias Fluchtversuche bleiben ebenso erfolglos wie ihre verzweifelten Anstrengungen, mögliche Helfer von ihrer wahren Identität zu überzeugen. Immer enger zieht sich das Netz der Intrige, immer wieder schließt Regisseur Lewis vor der Protagonistin Türen und Tore, vergittert Ausblicke und Auswege, zeigt lächelnde Niedertracht oder verderbliches Mitleid in den Mienen ihrer Mitmenschen, und noch das Streifenmuster ihres Kleides scheint den Kerker zu symbolisieren, aus dem die bedrohte Heldin erst in letzter Minuten (und nicht ohne männliche Hilfe) entkommen kann.

1946 | »So Dark the Night«

»I don't know, which way to turn.« Henri Cassin, bester Mann der Pariser Sûreté, macht, von elf Jahren erfolgreicher Ermittlungsarbeit nervlich erschöpft, Urlaub auf dem Lande. Der Film beginnt possierlich-idyllisch, mit einem morgendlichen Abschiedsbummel durch die Metropole, gefolgt von einer leicht amüsierten Betrachtung des pittoresken Dorfes Ste. Margot, wo sich der brave Kriminalbeamte in Nanette, die hübsche Tochter des örtlichen Gastwirts, verguckt und seiner Flamme, ungeachtet ihrer Verlobung mit einem eifersüchtigen Landwirt, nachdrücklich den Hof macht. Doch unversehens verwandelt Joseph H. Lewis (der eher mittelmäßige Darstellerleistungen souverän durch visuelle Stringenz ausgleicht) die friedvollen Ferien des Monsieur Cassin in einen düsteren Alptraum: Nanette wird erwürgt aufgefunden, kurz darauf auch ihr dringend tatverdächtiger Verlobter, es folgen krakelige Drohbriefe (»You will die next.«) und ein weiterer Mord. Der Kommissar aus der Hauptstadt, der natürlich umgehend die Suche nach dem Täter übernimmt, steht vor einem Rätsel: »The murderer is as elusive as my own shadow.« Bald offenbart sich, daß der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der französischen Provinz eine Wiederholung findet: »So Dark the Night« schildert das Schicksal eines zerrütteten Geistes, das Drama einer gespaltenen Persönlichkeit, die der ungläubig-entsetzten Mitwelt ihr eigenes Unglück überstülpt. Zuletzt gleicht die Mörderjagd (auch bildlich) einer erschütternden Selbstbegegnung: »Henri Cassin is no more. I caught him. I killed him.«

1950 | »Gun Crazy« (»Gefährliche Leidenschaft«)

Die rasante Geschichte eines explosiven amour fou: ein Mann und eine Frau finden zusammen wie Waffe und Munition ... Bereits als kleiner Junge hegt Bart ein krankhaft gesteigertes Verlangen nach Gewehren und Pistolen, Schießen ist seine Leidenschaft, die einzige Tätigkeit, die er wirklich beherrscht – auch wenn es ihm nach dem traumatischen Abschuß eines Kükens unmöglich ist, auf lebende Wesen zu feuern. Nach langen Jahren in Erziehungsanstalt und Armee, trifft er Annie, die sich auf dem Rummelplatz als Scharfschützin verdingt. Schon die erste Begegnung des Paares, ein Wettschießen auf offener Bühne, gleicht einem fetischistischen Geschlechtsakt, und nur wenig später driften die beiden (»like a couple of wild animals«: Peggy Cummins und John Dahl) wie weiland Bonnie Parker und Clyde Barrow gesetzbrecherisch durch die amerikanische Provinz. Geschickt kontrastiert Lewis Barts liebestrunkene Skrupulosität mit Annies, an Lady Macbeth erinnernde, fatale Zielstrebigkeit (»I want a lot of things – big things!«) – ein spannungsvoller Gegensatz, der sich auf inszenatorischer Ebene in der irritierenden Mischung aus kühlem On-location-Realismus (ein Banküberfall, als Plansequenz in Echtzeit und am Originalschauplatz, von der Rückbank des Fluchtfahrzeugs aus gedreht) und spätexpressionistischer Kulissenhaftigkeit (Barts Einbruch in ein Waffengeschäft zu Beginn des Films oder die finale Menschenjagd durch nebliges Sumpfgelände) wiederfindet. »Gun Crazy« – ein liebeswahnsinniger Gangsterfilm über Verführung und Bereitschaft: »Let’s finish it the way we started it: on the level.«

1955 | »The Big Combo« (»Geheimring 99«)

»Hate! Hate is the word.« Lieutenant Diamond (»a righteous man«: Cornel Wilde) setzt alles daran, den berüchtigten Gangsterboß Mr. Brown (»a very influential citizen«: Richard Conte) zu Fall zu bringen. Trotz des Einsatzes beträchtlicher finanzieller Mittel und regelmäßiger umfangreicher Razzien bleiben seine Bemühungen erfolglos: Dem selbstüberzeugt-rücksichtslosen Schurken (»First is first, and second is nobody.«), der stets ein infames Grinsen zur Schau trägt, ist mit herkömmlicher Polizeiarbeit nicht beizukommen. Diamond nimmt Browns blonde Geliebte Susan Lowell (»a wayward girl«: Jean Wallace), der er selbst mit Haut und Haaren verfallen ist, ins Visier, um auf diesem Wege justiziable Informationen zu gewinnen ... Lewis entwickelt aus der brisanten Dreieckskonstallation ein finsteres Melodram, in dem alles (zumeist gewalttätige) Handeln triebgesteuert, zwanghaft, alternativlos erscheint: »I live in a maze, Mr. Diamond«, bekennt Susan, »a strange, blind and backward maze, and all the little twisting paths lead back to Mr. Brown.« Plastisch gezeichnete Nebenfiguren (ein entthronter Bandenchef, der seinem Nachfolger Handlangerdienste leisten muß; zwei Killer, die einander in liebevoller Freundschaft verbunden sind; eine abgelegte Ehefrau, die sich aus Angst in den Wahnsinn flüchtet), dazu David Raksins jazzig-urbaner Score und Philip Yordans pointierte Hard-boiled-Dialoge, vor allem aber John Altons virtuose Schwarzweißkamera, die in extrem reduzierten Szenerien mittels harter Schlaglichter und tiefer Schatten, scharfer Konturen und diffuser Nebelschleier einen (beinahe) unentrinnbaren Gefühls-und Großstadtdschungel erschafft, heben »The Big Combo« in den Rang eines schwarzen Meisterwerks.

19. Oktober 2017

DD

Danielle Darrieux 1917 / 2017

Fünf Lieblingsrollen:

• als diebische Gräfin Anna Staviska in Joseph L. Mankiewiczs »5 Fingers« (1952)

• als ehebrecherische Generalsgattin Louise de ... in Max Ophüls »Madame de ...« (1953)

• als Yvonne Garnier, Mutter von Zwillingen, in Jacques Demys »Les demoiselles de Rochefort« (1967)

• als besorgte Konzernchefin Suzanne Pasquier in Claude Sautets »Quelques jours avec moi« (1988)

• als abgründiges Stiefmütterchen Mamy in François Ozons »8 femmes« (2001)