11. August 2014

Standbild (5)

Liebesdienst

Innen. Salon. Nacht. Sämtliche Lampen sind ausgeschaltet. Der weitläufige Raum wird einzig von dem flackernden Feuer erhellt, das im zentral positionierten Kamin brennt. Im Halbdunkel sind zahlreiche Kunstgegenstände und großbürgerliches Mobiliar auszumachen. Zwei mit weißen Tüllgardinen und schweren dunklen Portieren verhängte Fensteröffnungen an der linken Seitenwand flankieren eine Konsole, auf der ein hoher Altarleuchter steht. Darüber hängen ein kleines Bild und ein Gipsputto. In der linken Zimmerecke lehnen, auf einer Staffelei und auf einem Wandbord, mehrere halbfertige Bilder, die, in skizzenhafter Form, nackte, sitzende Frauen und Männer zeigen. Zwischen diesem Arrangement und dem Kamin steht, auf einem viereckigen Sockel, ein lebensgroßer männlicher Torso mit leicht seitwärts gedrehtem Kopf. Auf der rechten Seiten des Raumes befinden sich eine mehrstöckige Etagere mit einer Sammlung von Nippesfiguren und, unter einem Spiegel mit verschnörkeltem Rahmen, ein Armlehnstuhl sowie ein geschwungener Wandtisch, auf dem zwei silberne Kerzenleuchter und einige dekorative Glasfläschchen und Dosen aufgebaut sind. Rechts auf dem Sims des Kamins, der den Mittelpunkt des Salons bildet, steht ein geschnitzter Barockengel mit entfalteten Schwingen und gebauschtem Gewand, links hängt ein großes ungerahmtes Ölgemälde. Es handelt sich um die Aktdarstellung einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, die auf einem Tuch liegt, welches auf einer Wiese ausgebreitet ist. Die Frau blickt den Betrachter aus dunklen Augen selbstbewußt an, sie scheint zu lächeln. Blondes Haar, das gelockt bis auf die Schultern fällt, rahmt ihr ovales Gesicht. Kopf und Oberkörper der Frau sind auf ein helles Polster am rechten Bildrand gebettet. Die Brüste vorgestreckt, den Bauch eingezogen, hält sie ihre Arme leicht gebeugt, die Hände ruhen in der Gegend der Hüften. Ein angewinkeltes Bein verdeckt ihre Scham. Auf der linken Seite des Bildes sind der Portikus eines antiken Tempels, Bäume und Statuen zu erkennen, hinter dem nackten Körper der Frau scheint eine diffuse Lichtquelle auf, wobei es sich um einen Sonnenaufgang im Morgendunst handeln könnte. Vor dem Kamin ist ein niedriger ovaler Tisch mit einer Metallplatte plaziert. Darauf steht eine geöffnete Sektflasche, neben der ein leeres Tablettenröhrchen liegt. Um den Tisch gruppiert sich eine Sitzgruppe: zwei Polstersessel an den Seiten und, genau vis-à-vis von der offenen Feuerstelle, ein breites Sofa, auf dem zwei Personen sitzen, die einander zugewandt sind. Links sitzt die junge Frau, die auf dem Aktgemälde dargestellt ist. Sie ist allerdings nicht nackt, sondern mit einer dunklen, hochgeschlossenen Satinbluse bekleidet. Ihr gegenüber sitzt ein Mann, der etwa zehn oder fünfzehn Jahre älter als sie. Er hat dichtes dunkles Haar und trägt ein weitgeschnittenes helles Jackett. Beide halten in der rechten Hand gefüllte Sektgläser, mit denen sie anstoßen. Die Frau sieht dem Mann direkt in die Augen. Auch er scheint sie anzublicken, doch er kann sie nicht sehen, denn er ist erblindet. Er ist der Maler des Bildes, das über dem Kamin hängt. Nachdem er wegen eines inoperablen Gehirntumors seine Sehfähigkeit verloren hat, verlangt er zu sterben. Die Frau hat eingewilligt, ihm die letale Dosis eines Schlafmittels in den Sekt zu mischen. Er weiß nicht, daß auch sie sich vergiften wird, um ihm in den Tod zu folgen.