28. November 2016

Reisen wegwohin

Frühe Filme von Wim Wenders

1971 | »Summer in the City«

»Dedicated to the Kinks« … Hans (Hanns Zischler) kommt nach einem Jahr aus dem Gefängnis. Die Gefährten von früher erwarten ihn. Hans will mit der »alten Geschichte« nichts mehr zu tun haben, entzieht sich, taucht ab, erst in München, dann in Berlin, dann anderswo. Es ist kein Sommer in der Stadt, es ist ein Winter des Mißvergnügens, Graupel, Schnee, schmutziges Schwarzweiß. Relikte eines Gangsterfilms: Nachstellungen, Fluchtbewegungen, eine schläfrige Verfolgungsjagd; Stimmungsbilder einer Generation: Fremdheit, Einsamkeit, belanglose Dialoge, von einem Offkommentar ins Indirekte gerückt; Musik der späten Sechziger: The Troggs, The Lovin’ Spoonful, The Kinks. »It seems there's more to life than just to live it.« Wim Wenders erzählt in seinem ersten Spielfilm fast nichts, beobachtet mit zwanghafter Ausdauer Orte und Situationen, dokumentiert Abläufe in Echtzeit. Eine Tankstelle, eine Kneipe, ein Kino, Zimmer, Plätze, Straßen, mündliche Rekapitulationen von Beobachtungen, Filmen, Büchern, ein stummes Billardspiel, ein Gang am Kanal, nächtliche Taxifahrten, minutenlange starre Blicke auf die vorbeiziehende Welt, distanzierte Inaugenscheinnahmen einer unwirklich wirkenden Wirklichkeit, zwischendrin die automatische Telefonansage des aktuellen Kinoprogramms (unter der Nummer 11512): »›Spiel mir das Lied vom Tod‹, ›Liebe durch die Hintertür‹, ›Oswald Kolle: Zum Beispiel Ehebruch‹, ›Venus im Pelz‹, ›Die Mädchen der Madame‹, ›Die ins Gras beißen‹, ›Thomas Crowne ist nicht zu fassen‹, ›Heiße Hölle Bangkok‹, ›Leichen pflastern seinen Weg‹, ›Oswald Kolle: Zum Beispiel Ehebruch‹, ›Zwei Banditen‹, ›Asphalt Cowboy‹, ›Cat Ballou‹, ›Oswald Kolle: Zum Beispiel Ehebruch‹ (»Das ist ja ein Witz, der Oswald Kolle!«), ›Blowup‹, ›Ausbruch der Verdammten‹.«

1972 | »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter«

»Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und vom Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen.« Bei einem Auswärtsspiel in Wien gerät der Tormann Bloch (Arthur Brauss) mit dem Schiedsrichter aneinander und wird vom Spielfeld geschickt. Wim Wenders läßt darauf Szenen folgen, die sich kaum zu einer konsistenten Handlung fügen: Begebenheiten, Momente, Beobachtungen, durch Schwarzblenden eher getrennt als verbunden, Fragmente eines »Thrillers ohne Spannung«. Bloch streift durch die Stadt, mietet sich in einem schäbigen Hotel ein, geht ins Kino (»Rote Linie 7000«), bändelt mit der Kassiererin (Erika Pluhar) an, die ihn mitnimmt in ihre Wohnung am Flughafen und die er am nächsten Morgen erwürgt, nach dem gemeinsamen Frühstück, einfach so, ohne erkennbares Motiv, woraufhin er oberflächlich seine Spuren verwischt und weiterzieht, zu einer alten Bekannten (Kai Fischer), die einen Gasthof in einem Dorf an der Grenze bewirtschaftet, wo er die Zeit totschlägt, Unruhe verbreitet, ins Kino geht (»Nur 72 Stunden«), die Zeitungsnachrichten über die Suche nach einem verschwundenen stummen Schüler und die Fahndung nach dem Mörder der Kassiererin verfolgt, ein Fußballspiel besucht, den Tormann beobachtet, der einen Elfmeter hält. Ebensosehr wie für die vereinzelten Menschen, die in Robby Müllers kühlen Bildern aneinander vorbeireden, vorbeisehen, vorbeihören, interessiert sich Wim Wenders für die Objekte, die das entfremdete Leben möblieren, den Fotoautomat, das Transistorradio, die Telefonzelle, den Fernsehapparat und, nicht zu vergessen, immer wieder: die Musikboxen. »Drücken Sie Q4.«

1974 | »Alice in den Städten«

»Erzählst du mir eine Geschichte?« – »Ich weiß keine Geschichte.« Ein Mann und ein Mädchen. Philip (Rüdiger Vogler) ist 31, Alice (Yella Rottländer) ist 9. Sie begegnen sich zufällig, am New Yorker Flughafen, in einer Drehtür. Die Umstände binden sie aneinander, schicken sie auf die Reise, von Amerika nach Amsterdam, weiter nach Wuppertal, durch das Ruhrgebiet (»Essen ist gut.«), den Rhein hinunter. Ein Journalist, der die geplante Reportage nicht zustande bringt, und ein Kind, dessen Mutter vorübergehend eigene Wege geht, gemeinsam unterwegs, er auf der Suche nach dem verlorenen Gefühl von sich selbst, sie auf der Suche nach dem Haus der Großmutter, von dem es ein verwaschenes Foto gibt, aber keine Adresse. Wim Wenders entwickelt mit zärtlicher Aufmerksamkeit die Chronik der laufenden Ereignisse eines schwierigen Kennenlernens, einer zaghaften Annährung, einer Expedition in die aufregend unbekannte Gegenwart: Tankstellen, Hotelzimmer, Telefonzellen, Imbißstuben, Hochhäuser, Schwimmbäder, Wohnsiedlungen. Dazu der minimalistische Soundtrack von »The Can« und die Aufnahmen, die Philip mit seiner Polaroid SX-70 schießt: sich Bilder machen von der Welt, wenn schon die Worte fehlen, sie zu beschreiben … aber: »Es ist doch nie das drauf, was man gesehen hat.« Film als Registrieren von Oberflächenreizen – Fassaden, Neonschriften, TV-Programme –, als Kompendium von Verkehrsmitteln – Auto, Bus, U-Bahn, Flugzeug, Zug, Schwebebahn, Fähre –, als Erkundungstour ohne festes Ziel: sich verlaufen, um sich zu finden. »Und du? Was machst du?«

1975 | »Falsche Bewegung«

Ein junger Mann will Schriftsteller werden. Seine Mutter schickt ihn auf eine Reise, damit er etwas erlebe und – vielleicht – sich selbst entdecke. Unterwegs trifft er einen mundharmonikaspielenden Alten und ein stummes Mädchen, eine ätherische Schauspielerin und einen beleibten Poeten, einen traurigen Industriellen und, tatsächlich, sich selbst: einen, der schreiben will, ohne zu wissen worüber, der lieben will, ohne zu wissen wen, der teilhaben möchte, ohne dabeizusein … Wim Wenders, der filmen will, ohne zu erzählen, läßt sich von Peter Handke aus Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« 100 bundesrepublikanische Minuten destillieren, ergeht sich in romantischem Weltschmerz und beziehungsängstlicher Seelenqual, in poetisierter Vergangenheitsbewältigung und zeitgeistiger Befindlichkeit. Integrales Moment der Gefühlsforschungsfahrt ist die Sicht auf das per Bahn und Auto durchquerte Terrain: (West-)Deutschland von Glückstadt im Norden bis zur Zugspitze im Süden, dazwischen Hamburg, Bonn, Frankfurt. Wenders, das ist zu spüren, möchte auf dieses Deutschland mit deutschen Augen sehen, so wie Ford als Amerikaner auf Amerika sah, oder Ozu als Japaner auf Japan. Dennoch entsteht der Eindruck, als läge eine gewisse Trauer in der Erkenntnis, daß der Blick nicht auf das Monument Valley oder in eine Tokioter Seitenstraße fällt, sondern auf die Norddeutsche Tiefebene und in das enge Rheintal, in winklige Gassen und auf trostlose Schlafstädte. Selbst das freie Panorama über sonnige Alpengipfel, das sich dem Wanderer am Ende der Reise bietet, kann nur als Bild der Versäumnis interpretiert werden, als zufälliger Schlußpunkt einer »falschen Bewegung«. In ebendieser (von Larmoyanz nicht immer zu unterscheidenden) Trauer über die eigene, unbefriedigende, als aufgenötigt empfundene Identität ist vermutlich das »Deutsche« des Films zu suchen und – vielleicht – zu finden.

1976 | »Im Lauf der Zeit«

Eine spröde Männerfreundschaft in Schwarzweiß, Breitwand 1:1,66 und Originalton, eine Elegie auf das Sterben der Kinos (mit einem Seitenblick auf den Dämmerschlaf der Provinzzeitungen), eine Lastwagenreise entlang der deutsch-deutschen Grenze (mit einem Motorradabstecher an den Rhein), ein Roadmovie … Ohne, wie im grüblerischen Vorgängerfilm, Rekurs auf die Hochkultur zu nehmen, schauen Wim Wenders und sein Kameramann Robby Müller mit befreiter Offenheit auf das kleine geteilte Land, betrachten es wie einen unbekannten Kontinent; von der Elbe bis nach Oberfranken begleiten sie zwei Drifter, die zufällig aufeinandertreffen und, aus der Laune des Augenblicks heraus, eine Zeitlang zusammenbleiben: Bruno (»King of the Road«: Rüdiger Vogler) fährt mit seinem umgebauten Möbeltransporter durchs Zonenrandgebiet und repariert alte Filmprojektoren, Robert (»Kamikaze«: Hanns Zischler) hat seine Frau verlassen und läßt sich durch den Sommer treiben. Es wird Musik gehört, gelesen, nur wenig gesprochen, es wird gekackt, gepißt, gewichst, und langsam, ganz langsam gewinnen die Protagonisten schemenhafte Konturen, Lebensgeschichten sind zu erahnen, Sehnsüchte und Ängste werden spürbar, Konflikte brechen auf. So entwickelt sich, in nur von der Straße miteinander verbundenen Episoden, ein Versuch über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Alleinseins, über fremde Väter und abhandene Frauen, über schweifende Fluchten und die amerikanische Kolonisierung des Unterbewußtsein – für die Wenders elegante Beispiele liefert, wenn er Nicholas Ray und John Ford zitiert, wenn er deutsche Orte zeigt, wie von Walker Evans fotografiert oder von Edward Hopper gemalt. Die lakonische Heimat- und Nabelschau endet angemessen unbestimmt: »Es muß alles ganz anders werden.«

14. November 2016

Filme für die Zeit unter Trump

Vier Jahre gehen vorüber, aber sie können lang werden. Einige Empfehlungen für die Abende, die vor uns liegen. 


»That's how history is made: by the first-timers.« 
Susan Stanton

Zur Erläuterung | Was eigentlich gespielt wird ...
»The Phantom President« Norman Taurog, 1932
»Triumph des Willens« Leni Riefenstahl, 1935
»The Best Man« Franklin J Schaffner, 1964
»Dr. Strangelove« Stanley Kubrick, 1964
»The Candidate« Michael Ritchie, 1972
»Being There« Hal Ashby, 1979
»The Bonfire of the Vanities« Brian de Palma, 1990
»In the Mouth of Madness« John Carpenter, 1994
»Absolute Power« Clint Eastwood, 1997
»Primary Colors« Mike Nichols, 1998

»Life is a state of mind.«  
Benjamin T. Rand

Zur Erholung | Einfach mal abschalten ...
»Trouble in Paradise« Ernst Lubitsch, 1932
»Hail the Conquering Hero« Preston Sturges, 1944
»Monkey Business« Howard Hawks, 1952
»The Little Shop of Horrors« Roger Corman, 1960
»Dance of the Vampires« Roman Polanski, 1967
»Dawn of the Dead« George A. Romero, 1978
»Dirty Rotten Scoundrels« Frank Oz, 1988
»Life Stinks« Mel Brooks, 1991
»Scream« Wes Craven, 1996

»The times they are a-changin' back.«  
Bob Roberts

Zur Ernüchterung | Wie die Lage wirkich ist ...
»Ministry of Fear« Fritz Lang, 1944
»Kiss Me Deadly« Robert Aldrich, 1955
»Touch of Evil« Orson Welles, 1958
»Shock Corridor« Samuel Fuller, 1963
»Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« Alexander Kluge, 1968
»Jeder für sich und Gott gegen alle« Werner Herzog, 1974
»The Element of Crime« Lars von Trier, 1984
»Strange Days« Kathry Bigelow, 1995
»No Country for Old Men« Joel & Ethan Coen, 2007

»The truth is, these are not very bright guys. «
Deep Throat

Zur Erlösung | Es ist nicht alles verloren ...
»Donald's Better Self« Walt Disney, 1938
»The Sun Also Rises« Henry King, 1957
»All the President’s Men« Alan J Pakula, 1976
»The Return of the Jedi« Richard Marquand, 1983
»Ghostbusters« Harold Ramis, 1984
»Die Hard« John McTiernan, 1988
»Mars Attacks!« Tim Burton 1995
»Mission: Impossible« Brian de Palma, 1996
»White House Down« Roland Emmerich, 2013

»What we do now?«  
Bill McKay

Bonus | Serien ...
»Twilight Zone« 1959 ff
»Backstairs at the White House« 1979
»That's My Bush!« 2001

11. November 2016

Prises de mort

Raoul Coutard 1924 / 2016

Als junger Mann war Raoul Coutard Kriegsfotograf in Indochina. Später arbeitete er als Kameramann für Pierre Schoendoerffer, Jacques Demy, François Truffaut und, vor allem, für Jean-Luc Godard. Wie kein anderer prägte er den Look der Nouvelle Vague. Immer wieder filmte er den Tod.

La mort de Michel

La mort de Nana

La mort de Camille

La mort d'Arthur

La mort d'Henry Dickson

La mort de Ferdinand