12. Juli 2016

Standbild (11)

Fahndung

Außen. Straße. Tag. Der Bürgersteig, belegt mit einem Band aus diagonal angeordneten quadratischen Kunststeinplatten, das von breiten Mosaikpflasterstreifen eingefaßt wird, führt an einem Haus mit massivem Rustikasockel entlang. Vis-à-vis einem über drei Stufen zu erreichenden Eingangsportal, das die strenge Abgeschlossenheit des Gebäudes durchbricht, ist auf der Straßenseite des Gehwegs eine Litfaßsäule aufgestellt, deren zylindrischer Korpus sich in zwei, von wulstigen Simsen akzentuierten Absätzen nach oben hin verschlankt. Auf Stoß geklebte Plakate annoncieren unter anderem ein Streichkonzert, ein Massenkonzert mit 150 Musikern im Luna Park sowie mehrere Boxkämpfe in den Spichern-Sälen. Vor der Säule steht ein etwa achtjähriges Mädchen mit schulterlangen, welligen Haaren. Es trägt schwarze Schnallenschuhe, wollene Strumpfhosen, die sich in den Kniekehlen kräuseln, und einen kurzen einfarbigen Mantel mit hellem Plüschkragen und aufgesetzten Taschen aus kariertem Stoff. Vor der Brust des Kindes hängt eine Brottasche, auf seinen Rücken ist ein Schulranzen geschnallt. In den Händen hält es einen kleinen zweifarbigen Gummiball, den es mehrfach gegen einen, über seiner Kopfhöhe angebrachten, amtlichen Anschlag geworfen hat. Ein dicker Rand umrahmt den Text in gebrochener Schrift. Die dreizeilige, fettgedruckte Überschrift lautet: »10000 Mk. Belohnung! Wer ist der Mörder?« Darunter sind sechs, in kleinerer Type gesetzte Zeilen zu lesen: »Seit Montag, dem 11. Juni ds. Js., werden vermißt: Der Schüler Kurt Klawitzky und dessen Schwester Klara, wohnhaft gewesen Müllerstr. 470. Aus verschiedenen Anzeichen ist zu schließen, daß die Kinder einem ähnlichen Verbrechen zum Opfer gefallen sind, wie im Herbst vorigen Jahres die Geschwister Doering.« »Besonders wichtig«, heißt es weiter in noch kleinerer, magerer Schrift, »ist die Beantwortung folgender Fragen: Wer hat die Kinder um die oben angegebene Zeit noch auf der Straße oder sonstwo beobachtet? Sind sie irgendwie in Begleitung gesehen worden? Was war das für eine Begleitung – Mann oder Frau? Wer hat Hilferufe oder sonstige Laute gehört, die darauf schließen lassen, daß sich Kinder in höchster Angst oder Not befanden? Wo? Zu welcher Tageszeit?« Auf das Plakat fällt der Schatten des leicht vorgeneigten Oberkörpers eines Mannes mit breitkrempigem Hut. Deutlich sind seine langen Wimpern und die vorspringenden Lippen des zum Sprechen geöffneten Mundes zu erkennen. Es handelt sich um den Schatten des gesuchten Mörders, der sich über sein nächstes Opfer beugt.

8. Juli 2016

Standbild (10)

Umleitung

Außen. Autobahn. Nacht. Die Scheinwerfer eines Fahrzeugs beleuchten mehrere, in kurzen Abständen schräg hintereinander aufgestellte Absperrschranken, die den zweispurigen Fahrdamm der Fernstraße blockieren. Die breiten, diagonal gestreiften, mit grell aufscheinenden Reflektoren besetzten Schilder sind auf Metallpfosten befestigt, die in kegelförmigen Betonfüßen stecken. Über der zweiten Barriere wurden zusätzlich drei Verkehrszeichen montiert: zuoberst ein rundes Schild, weiß mit dunklem Kreisrand, das die Durchfahrt verbietet, darunter zwei nach rechts gerichtete Pfeile mit den Aufschriften »Detour« und »Umleitung«. Diese beiden Hinweistafeln zeigen nicht nur in Richtung des schmalen, als Ersatzfahrspur dienenden Seitenstreifens, sondern auch auf eine vor der Absperrung stehende junge Frau, die, dezent geschminkt, direkt in das Frontlicht des vor ihr haltenden Wagens blickt. Sie trägt einen hellen Popelinemantel, hochhackige schwarze Schuhe und einen zum Kopftuch gebundenen, unter dem Kinn geknoteten Seidenschal, der ihr aus der Stirn gekämmtes blondes Haar bis zur Kopfmitte sichtbar läßt. Links neben ihr liegt ein prall gefüllter Rucksack mit zwei aufgesetzten Taschen auf dem Asphaltboden. Der Fahrer des Schwerlasters, dessen Scheinwerfer die junge Frau anstrahlen, ein verheirateter Mann mittleren Alters, wird, nachdem er kurz vorher einem Unfalltoten zwanzigtausend Mark abgenommen hat, die attraktive nächtliche Anhalterin mitnehmen, ein Verhältnis mit ihr beginnen, von ihrem Gefährten zur Mittäterschaft bei Schmuggelgeschäften erpreßt werden, um sich schließlich der Polizei zu stellen und reumütig zu seiner Gattin zurückzukehren.

6. Juli 2016

Standbild (9)

Verbrechen

Innen. Arbeitszimmer. Nacht. Entlang der Wände des großzügig dimensionierten Raumes sind offene Regale und verglaste Bibliotheksschränke von unterschiedlicher Abmessung eingebaut. Auf der linken Seite, wo ein gerahmter Durchgang in ein kleines Waschkabinett führt, dienen die oberen Borde der etwa hüfthohen Regale als Standfläche für zahlreiche, aus dunklem Holz geschnitzte, teilweise bemalte afrikanische Figuren und Masken, deren unbewegte Blicke geheimnisvoll und bedrohlich wirken. Rechts, eine kassettierte Flügeltür flankierend, reichen die Fächer, in denen sich, wie auch gegenüber, dicht gedrängt ledergebundene Bücher diverser Formate reihen, bis hinauf zur Zimmerdecke; eine aus dem Regalsockel vorspringende gepolsterte Bank steht als Ablage und Sitzgelegenheit zur Verfügung. An der rückwärtigen Wand ist zwischen zwei hohen, mit einfarbigen Gardinen verhängten Fenstern eine Vitrinenschrank plaziert. Er beherbergt eine umfangreiche Sammlung menschlicher Schädel, die mannigfache Deformationen und Verletzungen, wie Großköpfigkeit oder Einschußlöcher, aufweisen. Genau in der Mitte des Raumes, rechtwinklig zu den Fenstern, steht auf einem großen orientalischen Knüpfteppich der Schreibtisch, ein wuchtiges Möbelstück im Stil der Neorenaissance, dessen schwere Platte auf quaderförmigen, mit reliefartigen Ornamenten reich verzierten Seitenteilen ruht. Die rechteckigen Flächen zweier schlichter Beistelltische mit verchromten Stahlrohrgestellen bieten Platz für eine Schreibmaschine und einen Selbstwählfernsprecher aus schwarzem Bakelit. Der Schreibtisch selbst ist fast vollständig bedeckt mit Papieren und Ordnern, Kladden und Bücherstapeln, dazu gesellen sich flache Schalen, diverse Fläschchen, exotische Skulpturen, eine dekorative Schreibgarnitur, ein Ständer für großformatige Glasdias sowie die einzige sichtbare Lichtquelle im Raum, eine Leselampe, deren mattweißer, aus mehreren ineinandergeschobenen Kugelabschnitten bestehender Schirm an einem gebogenen Messingrohr hängt. An den beiden Längsseiten des Tisches steht jeweils ein brokatbezogener Armlehnstuhl. Links sitzt ein soignierter Mann von fünfzig Jahren, der ein dezent gemustertes Jackett, ein weißes Hemd mit Kläppchenkragen und eine gepunktete Seidenkrawatte trägt. Sein schütteres graues Haar ist sorgfältig gescheitelt, die Augen sind düster umschattet, scharfe Falten durchziehen Wangen und Stirn. Vor diesem Mann, einem namhaften Nervenarzt, liegen die handschriftlichen Aufzeichnungen eines kürzlich verstorbenen Patienten, minutiöse Planungen für teuflische Verbrechen, Verbrechen, die, wie es im Manuskript heißt, niemandem Nutzen bringen, die nur den einen Sinn haben, Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Arzt starrt mit leicht vorgeneigtem Oberkörper wie hypnotisiert auf die ihm gegenübersitzende halbtransparente Erscheinung des Verfassers der maßlosen kriminellen Projekte. Der glotzäugige Geist des zu Lebzeiten ebenso machtgierigen wie raffsüchtigen Schurken steht im Begriff, den Körper des willenlosen Arztes in Besitz zu nehmen und mit seiner unbändigen zerstörerischen Energie zu erfüllen, damit dieser die verderbenbringenden Vorhaben des Toten in die Tat umsetze.

4. Juli 2016

Standbild (8)

Abwärts

Innen. Treppenhaus. Tag. Ein geschwungener Treppenlauf, den ein filigranes weißes Eisengeländer mit flachem schwarzen Holm säumt, führt in das oberste Stockwerk eines modernen Verlagsgebäudes. Die rechte Seite des Etagenpodestes ist vollständig verglast. Der Blick durch die bodentiefen Fenster, hinter denen sich ein sehr schmaler Balkon mit niedriger Metallbalustrade erstreckt, geht hinaus über Dächer und Türme der Stadt. Vor der Glaswand steht auf glänzend gebohnertem Linoleumboden eine Sitzgruppe, bestehend aus einem dreibeinigen Tisch und drei stoffbezogenen Cocktailsesseln. Über den Möbeln schwebt eine Reihe von Deckenleuchten in der Form fliegender Untertassen. Auf der linken Seite des lichten Raumes führt eine geöffnete Glastür in einen breiten Büroflur. An der weißen Wand neben dem Durchgang hängt ein schlicht gerahmtes Gemälde, das zwei kleine Segelschiffe vor einem venezianischen Palazzo zeigt. Die hintere, dem Treppenaustritt gegenüberliegende Raumbegrenzung ist zweigeteilt. Rechts treffen zwei unmittelbar aneinanderstoßende Flügeltüren mit Milchglasfüllung im rechten Winkel auf die Fensterfront. Auf der linken, mit Klinkerriemchen gefliesten Seite der Wand befindet sich die von einer Steinzarge eingefaßte Aufzugstür. Dorthin blicken, mit vorgeneigten Körpern und ausgestreckten rechten Armen, voller Entsetzen zwei Männer, die durch Montur und Utensilien – dunkle Einteiler, weiche Schirmmützen, klobige Arbeitsschuhe, eckige Werkzeugtaschen – als Handwerker ausgewiesen sind. Nur wenige Sekunden zuvor mußten die beiden Männer beobachten, wie ein wohlgenährter Herr, bekleidet mit hellem Wollmantel, grauen Flanellhosen, lebhaft gemustertem Halstuch und schwarzem Homburg, nach einer erfolglosen Beschwerde voller Zorn aus dem Büro des Chefredakteurs der im Gebäude beheimateten Zeitung eilend, das an der Ornamentglasscheibe der Aufzugstür hängende Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb« in seiner Empörung übersehend, ebendiese Tür schwungvoll aufzog und kopfüber in den leeren Fahrstuhlschacht stürzte.