1. August 2015

Zeiten und Orte

Drei Filme von Johannes Schaaf

1967 | »Tätowierung«

»Glaub’ mir, ich verstehe dich.« Westberlin, Mitte der 1960er Jahre. Herr und Frau Lohmann, kinderlose Besitzer einer traditionsreichen Mosaikfabrik (die sich wie ein wilhelminisches Spukschloß direkt an der Mauer erhebt), adoptieren den 16jährigen Fürsorgezögling Benno (Christof Wackernagel) – zusammen mit Frau Lohmanns Nichte Gaby (Helga Anders), die dem Ehepaar in der Firma zur Hand geht, bilden sie fortan eine Patchworkfamilie avant la lettre. Der kommende gesellschaftliche Umbruch ist, ohne sich zunächst noch, in Worten oder Handlungen, konkret zu artikulieren oder zu manifestieren, latent spürbar: in der bald bockbeinigen, bald aufreizenden Verweigerungshaltung der Nachwachsenden gegen das repressive Wohlwollen und die penetrante Nachsicht der Älteren. »Du mußt nichts erzählen, wenn du nicht willst«, sagt der joviale Lohmann und erwartet nichts anderes als Anpassung und Einordnung seines Mündels in bestehende Muster. Benno aber sucht Abstand und Auslauf – Wackernagel (der einige Jahre später Mitglied der Rote Armee Fraktion werden wird) spielt den so energiegeladenen wie ziellosen Jugendlichen mit einem flunschmündigen Trotz, der nur aufbricht, wenn das frisierte Moped knattert, oder wenn die Leuchtraketen der Grenzer über dem Mauerstreifen aufsteigen, oder wenn ein blutiger Italowestern über die Leinwand des Autokinos flimmert. Johannes Schaaf zeigt – mit der passenden visuellen und musikalischen Erregung –, daß Menschen nicht zu Rebellen werden, sondern zu Rebellen gemacht werden: Das gutbürgerliche Wohlwollen, das ihn tragen und formen will, treibt den desorientierten Benno zielsicher in die Verzweiflung und, an einem kirschblühenden, goetheversgeschwängerten Frühlingstag, zur radikalen Befreiungstat: »Macht kaputt, was euch kaputt macht.«

1971 | »Trotta«

»Es geschieht ihnen ganz recht, wenn’s jetzt Krieg gibt. Es gibt so viel Haß hier.« Wien, Sommer 1914. Leutnant Franz Ferdinand Trotta (András Bálint) heiratet kurz vor Beginn der Feindseligkeiten Elisabeth Kovacs (Doris Kunstmann), die Tochter eines geschäftigen Uniformschneiders. Nachdem der Tod eines alten Dieners die Hochzeitsnacht verpfuscht hat, reist Trotta tags darauf, unter dem hysterischen Jubel der Massen, im Erster-Klasse-Coupé an die Front ab. Als er vier Jahre später in einem Güterzug zurückkehrt, herrscht gespenstische Stille: Die Donaumonarchie ist untergegangen, die Welt von Gestern liegt in Trümmern. Johannes Schaafs freie Adaption des Romans »Die Kapuzinergruft« von Joseph Roth verdichtet die Katastrophe des Ersten Weltkrieg zu einer kurzen Schwarzblende, um sich sodann den Erscheinungsformen der angerichteten Zerstörung zu widmen: eine Gesellschaft zwischen Katatonie und Revolution, Menschen zwischen halbherziger Agilität und elegischer Wurstigkeit. »Kommt eh der Komet«, lautet eine alte Wiener Lebensweisheit, und Schaaf illustriert diese profunde Erkenntnis in Szenen von surrealer Ironie: Ob (vor dem Krieg) fettleibige Militärs wie träge Walrösser aus dem Heilwasser eines Thermalbades auftauchen, oder (nach dem Krieg) das ehrwürdige Trotta’sche Stadtpalais in eine Familienpension von zweifelhafter Vornehmheit umgewandelt wird – alles Tun ist Ausdruck von Schwäche, von Zwiespalt, von Lähmung. Das Leben wird zur Reminiszenz, zur Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit, die nie mehr war als eine schöne Lüge im Walzertakt. »Ich bin nichts, ich hab nichts, ich kann nichts«, resümiert der Titelheld, der Krieg, Land und Frau verloren hat, und beharrt dennoch auf seiner Identität: »Ich bin der Trotta.« Ein anderer Gescheiterter, einer, der sich konsequenterweise selbst ins Irrenhaus eingewiesen hat, entgegnet ihm: »Trotta? Der ist schon längst tot. Mir scheint, Sie sind ein Schwindler.«

1973 | »Traumstadt«

»Flucht ist kein Ausweg.« Bundesdeutsche Gegenwart. Der Künstler Florian Sand (Per Oscarsson) sitzt im tiefen Loch einer Sinn- und Schaffenskrise, als ihn eine mysteriöse Offerte erreicht: Sein Schulfreund Klaus Patera lädt ihn ein, in die »Traumstadt« zu übersiedeln, einen Ort fernab der modernen Zivilisation, wo das Reich der absoluten Freiheit errichtet wurde. Zusammen mit seiner Frau Anna (Rosemarie Fendel), einer Börsenmaklerin, bricht Florian auf, reist durch felsige Wüstengegenden Zentralasiens, gelangt in ein biedermeierlich-mitteleuropäisch anmutendes Utopia – hier hat jeder Bürger das Recht, seine Individualität »unmittelbar und rein« zu verwirklichen, unter der Voraussetzung des völligen Respekts vor der Individualität des anderen, hier findet man das Domizil, das man sich immer schon wünschte, hier wird einem das Schnitzel serviert, bevor man sein Verlangen noch geäußert hat … Basierend auf dem einzigen Roman des visionären böhmischen Zeichners und Graphikers Alfred Kubin, inszeniert Johannes Schaaf einen Bilderstrom, der windungsreich vom Bizarr-Phantasmagorischen übers Panisch-Absurde ins Destruktiv-Apokalyptische flutet – Goya und Ensor, Buñuel und Fellini lassen grüßen. Pateras libertäre Wunschwelt (von Wilfried Minks genial als verplüscht-angestaubtes Puppenstuben-Shangri-La zwischen Trödelladen und Vorstadtkirmes ausgestattet) erweist sich schnell als geisttötender Alptraum ohne Ausweg: Totale Freiheit führt zur totalen Lähmung und mündet schließlich in totale Zerstörung. Auch der Film selbst nimmt sich (für den Betrachter nicht ganz unstrapaziös) das Recht zur bildwütigen Anarchie: Eine Fabel hängt lediglich fetzenhaft zwischen den Stationen dieses prunkvoll-assoziativen Happenings; es gelten die Gesetze der Décollage – bis nur noch ein schriller Schrei die Leinwand füllt.