29. Januar 2012

Fahrt ans Ende der Nacht

Kino | »Drive« von Nicolas Winding Refn (2011)

First-rate-second-hand-Poser-Kino. Alles ist bekannt: Die von Ryan Gosling gespielte, besser gesagt: verkörperte, oder eher: in Bewegung gesetzte (natürlich namenlose) Zentralfigur ist Nachkomme einer weit in die Filmgeschichte zurückreichenden Dynastie von Lonern (›Walker‹, ›Driver‹, ›Frank‹ oder wie auch immer sie sich nannten); die Inszenierung imitiert zunächst (sehr kunstvoll) die Coolness von Friedkin, Hill, Mann (die ihrerseits Clouzot, Melville, Antonioni imitierten, deren Geister auf diese Weise ebenfalls herumspuken), um schließlich die archaischen Gewaltausbrüche italo-amerikanischer Regisseure wie Coppola, Scorsese, Cimino auf den neuesten Stand zu bringen; die Story – Profi zeigt Gefühl und zahlt den Preis dafür – war schon ein Klassiker, als Nicolas Winding Refn das Licht (bzw. die Dunkelheit) der Welt noch nicht erblickt hatte. So bekannt Form und Inhalt sind, so ernsthaft und rigoros, so humorlos und fatalistisch werden sie rekapituliert: »Drive« ist Tarantino-Kino für Tragiker.

20. Januar 2012

Yet each man kills the thing he loves

Kino | »J. Edgar« von Clint Eastwood (2011)

Der beste Freund eines Mannes, wußte Norman Bates, ist seine Mutter, der zweitbeste, hätte J. Edgar Hoover ergänzen können, ist sein Stellvertreter. Clint Eastwood unternimmt den Versuch, das Bild eines der einflußreichsten Amerikaner (und fanatischsten Antikommunisten) des 20. Jahrhunderts (mürrisch-reizbar verkörpert von Leonardo DiCaprio) aus der emotionalen Spannung zwischen der fordernden Liebe seiner resoluten Mama (Dame Judi Dench) und der abgewürgten Liebe zu seinem wichtigsten Mitarbeiter Clyde Tolson (Armie Hammer als lebendes GQ-Cover) zu entwickeln: Fast 50 Jahre lang (bis zu seinem Tod 1972) war J. Edgar Hoover Chef des FBI, dessen Arbeitsmethoden er wissenschaftlich revolutionierte und dessen mediales G-Man-Image er erfand; Eastwood greift einige seiner Karriere-Highlights heraus (Palmer-Raids, Entführung des Lindbergh-Babys, Kampf gegen die Mobster) und läßt sie vom bejahrten, geltungssüchtig-verklemmten Hoover selbst in Form eines (selbstfiktionalisierenden) Berichts zu Protokoll gegen – wobei sich eine gewisse erzählerische Behäbigkeit einschleicht, die bisweilen an besseres Bildungsfernsehen erinnert. Von Tom Stern kunstvoll-schattenreich fotografiert, leidet »J. Edgar« in erster Linie unter der maskenhaften Altersdarstellung von DiCaprio und Hammer (der gegen Ende seines Filmlebens aussieht wie ein Brandopfer): Das Gezitter und Getatter der Möchtegerngreise verwandelt das Melodram der Macht in eine traurig-bizarre »Odd Couple«-Vorstellung.

16. Januar 2012

Design for Killing

Kino | »The Girl with the Dragon Tatoo« von David Fincher (2011)

Ein beruflich angeschlagener Jounalist und eine sozial inkompatible Hackerin, beide auf ihre Art vom Leben gezeichnet, ermitteln in einem seit 40 Jahren ungeklärten Mord(?)fall. Auftraggeber: Henrik Vanger (Christopher Plummer), Patriarch des reichsten schwedischen Industriellenclans, der das nebulöse Schicksal seiner verschwundenen Nichte enträtselt wissen will. Bei ihren Recherchen tauchen Herr Blomkvist (Daniel Craig) und Fräulein Salander (Roony Mara) ein in die dunklen Geheimnisse einer weitverzweigten, haßverwobenen Sippschaft: Verglichen mit dem erbarmungslosen Familienleben der Vangers herrschte bei den Atriden eitel Sonnenschein. David Fincher (der sich bei der formalen Aufbereitung komplexer Nachforschungen sichtlich wohler fühlt als bei der Inszenierung endloser Nutzdialoge) versiegelt den Schmutz, die Abgründe, das Verhängnis mit hochglänzender Style-Politur – wäre »The Girl With the Dragon Tatoo« ein Fußboden, würde man darauf ausrutschen.

10. Januar 2012

Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle

Kino | »Carnage« von Roman Polanski (2011)

Eine Handvoll Personen, von äußeren Umständen an einem eng begrenzten Ort zusammengebracht und -gehalten – seit einem halben Jahrhundert nutzt Roman Polanski dieses dramaturgische Prinzip für seine Filme, und immer wieder bricht in seinen Huis-clos-Stücken durch eine dünne zivilisatorische Fassade die wahre, Seelen und/oder Körper metzelnde, Natur des Menschen. »Carnage« bedient das bekannte Muster in Form einer urbanen Salonkomödie um zwei Ehepaare, die sich wegen eines Zusammenstoßes ihrer rauflustigen Söhne begegnen; von penetrant klingelnden Telefonen über brechreizerregende Süßspeisen bis zum enthemmenden Einsatz von Alkoholika läßt Boulevard-Profi Yasmina Reza kein Mittel aus, um ihren Protagonisten die Masken der Gesittung von den Gesichtern zu reißen. Tiefes Loten in gesellschaftspsychologische und/oder interpersoneller Abgründe ist ihre Sache dabei nicht: Rezas Vorlage bietet in erster Linie vier Paraderollen für gehobene Rampensäue. Foster und Reilly, Waltz und Winslet (sowie Polanski) nehmen diese Gelegenheit dankbar wahr, so daß sich 80 Minuten lang könnerhaftes Overacting studieren läßt.

6. Januar 2012

Lügen und andere Wahrheiten

Kino | »The Ides of March« von George Clooney (2011)

Politik ist … Class? Anyone? Anyone? … ein schmutziges Geschäft. Auch George Clooney gelangt mit dem Thrillerdrama »The Ides of March« zu dieser wahrhaft profunden Erkenntnis, die gegen Ende der Erzählung in der erschütternden Enthüllung gipfelt, daß Idealisten die schlimmsten Zyniker sind. Seine Allgemeinplätze läßt der Regisseur – nach dem deutlichen Vorbild von Gordon Willis’ Low-Key-Look für Alan J. Pakulas Paranoia-Trilogie – gekonnt düster verschatten (Kamera: Phedon Papamichael): Die handelnden Personen des Intrigenspiels hinter den Kulissen eines Vorwahlkampfs (es geht dabei letztlich, wie so oft im Leben, um Sex und Karriere) agieren bevorzugt im Zwie-, Dämmer- oder Gegenlicht. Bei aller formalen Gewandtheit und schauspielerischen Prägnanz hat Clooneys Film mit seinem vorgeblichen Sujet, der Politik, soviel zu tun wie das Blenderlächeln des Protagonisten mit moralischer oder intellektueller Integrität.