23. Januar 2014

Berichte vom Planeten der gefesselten Frauen

Filme von Alain Robbe-Grillet

»La chair des femmes a toujours occupé, sans doute, une grande place dans mes rêves.« (»La maison de rendez-vous«, 1965)

1963 | »L’immortelle«

L’année dernière à Istanbul: N, ein Lehrer aus Frankreich, begegnet L, einer schönen, geheimnisvollen Frau – ihr »wirk­licher« Name (Leila oder Lale (was auf Türkisch ›Tulpe‹ bedeutet) oder vielleicht auch Lucille) bleibt ebenso unbestimmt wie ihre Herkunft, ihre Absichten, ihre Identität. L ihrerseits wird von M, einem Mann, der stets zwei Dobermänner an der Leine führt, begleitet oder überwacht oder verfolgt. Als L, nach einer Reihe gemeinsam verbrachter Tage (und Nächte), plötzlich verschwindet (oder bei einem Unfall stirbt), begibt sich N auf die Spur der Verschollenen (oder Toten) – bis L eines Tages (oder Nachts) unvermittelt wieder auftaucht … Alain Robbe-Grillet präsentiert sein Regie­debüt als imaginatives Rätselspiel, als unterkühlt-erotisches Abenteuer, als extravaganten »film intérieur«: »L'immortelle« – die unsterbliche Frau, die unsterbliche Stadt – wird von N gesehen, gehört, erdacht – Wahrnehmung und Einbildung sind dabei eins, Objektivität und subjektives Empfinden verschwimmen. L changiert unter Ns insistierenden Blicken zwischen Dame der Gesellschaft, herabgestiegener Göttin und Luxusprostituierter; Istanbul erscheint als betont exotische Kulisse, als Melange aus histo­risch-literarischer Phantasie, Bühne eines mysteriösen Melodrams und Kitschpostkarte der Moscheen, Paläste, Ruinen. Neben den stilvoll gestalteten, immer wieder zu lebenden Bildern gefrierenden Oberflächenreizen und den beschwörenden erzählerischen Wiederholungen (oder Variationen oder Echos oder Déjà-vus) ist es vor allen Dingen die sorgfältig komponierte Tonspur – das unaufhörliche Knattern der Bootsmotoren auf dem Bosporus, das Schlagen der Wellen gegen die Kaimauern, der schrille Gesang der Grillen, das bedrohliche Bellen der Hunde, die monotonen Rufe der Muezzine –, die eine höchst eigentümliche, traumhaft-sinnliche Atmosphäre schafft.

1967 | »Trans-Europ-Express«

»Quel sujet?« – »Trafic de drogues. Tu sais … quelque chose d’animé, des bagarres, des viols, des truc qui sautent.« Alain Robbe-Grillet würde – mit Produzent und Assistentin – in den Trans-Europ-Express von Paris nach Antwerpen steigen und ersönne, weil ein Schnellzug ein attraktives Setting und »Trans-Europ-Express« ein guter Titel wäre, eine Filmhandlung aus, die im Trans-Europ-Express von Paris nach Antwerpen spielte (oder jedenfalls dort begänne): irgendetwas mit Drogenhandel, Krawall, Vergewaltigung – eine handfeste (und dabei amüsant paradoxe) Räuber­pistole. Die Hauptrolle, einen Mann namens Elias, spielte Jean-Louis Trintignant, der als Kurier eines Kokainschmugglerrings anheuerte und einen Koffer mit doppeltem Boden von Paris nach Antwerpen zu bringen hätte, wo er – Beobachtungen, Verfolgungen und Prüfungen seiner Loyalität ausgesetzt – auf die schöne Eva träfe, deren Rolle Marie-France Pisier übernähme, Eva, die sich Elias für Geld anböte und dessen (sowie Robbe-Grillets) sado-erotischen Phantasien zu Willen wäre. Die Filmemacher würden den ausgesponnenen Plot ihres Thriller-Pasticcios fortwährend reflektieren, korrigieren, verkomplizieren, zum Beispiel dahingehend, daß der Schmuggel gar kein Schmuggel wäre sondern die Generalprobe eines Schmuggels, was der Schmuggler selbst aber erst erführe, wenn er den Koffer mit dem doppelten Boden bei seinen Auftraggebern ablieferte. »Trans-Europ-Express« verwebte – als parodistisch-klischierte Fiktion, sowohl des erdachten Kriminal­falles als auch des schöpferischen Prozesses – Rahmenhandlung und imaginiertes Gesche­hen immer wieder glasklar-verwirrend ineinander, um nach zweifachem (ein­mal unbewußten, einmal vorsätzlichen) Verrat sowie zwei Morden – einer lustvollen Erdros­se­lung und einem gezielten Todesschuß – mit einer doppelten Wiederauferstehung zu enden.

1968 | »L’homme qui ment«

»Je vais vous raconter mon histoire … ou du moins je vais essayer.« Soldaten verfolgen einen Mann durch den Wald. Schüsse. Explosionen. Der Mann wird getroffen. Bricht zusammen. Stirbt. Erwacht. Steht auf. Läuft weiter. Der Mann erzählt seine Geschichte. Oder er versucht es zumindest: »Mon nom est Robin … Jean Robin.« Dem Kopf des Mannes (Jean-Louis Trintignant), seinen (inkonsistenten) Ausführungen entwächst ein fiktives (Erzähl-)Universums, dessen unauflösliche Widersprüche Alain Robbe-Grillet kinematokulinarisch zelebriert. Ein Mann kommt aus dem Wald. Gelangt in ein Dorf. Macht seine Aufwartung im Schloß. Auf dem Schloß warten drei Frauen auf die Heimkehr von Jean Robin: die Schwester, die Ehefrau, ein Dienstmädchen. »Il est mort! Mort! Mort!« heißt es über Jean Robin, von dem man glaubt, daß er eines schönen Tages zurückkommen werde. Der Mann aus dem Wald nennt sich Boris Varissa. Er berichtet von seinem Freund, von seinem Kampfgefährten Jean Robin. Der ein Held des Widerstandes gegen die Besatzer war. Der ein Kollaborateur war. Der fliehen konnte. Der erschossen wurde. Den man in eine Falle lockte. Der seine Kameraden verraten hat. Ein Mann erfindet eine wahre Geschichte. Ein Mann erfindet seine wahre Geschichte. Oder er versucht es zumindest. Immer wieder von neuem. Drei Frauen warten auf einen Mann. Sie spielen Blindekuh im Schloß. In der Bibliothek. Auf dem Speicher. Zwischen Büchern und Spiegeln. Zwischen alten Möbeln und leeren Bilderrahmen. Träumen die drei Frauen von einem Mann, der kommt, um ihnen seine wahren Geschichten zu erzählen? Geschichten von Tod und Überleben, von Heldentum und Verrat, von Geheimnis und Zweifel. Geschichten, die Hingabe fordern, Auslieferung, Unterwerfung. Geschichten von der zeremoniellen Gewalt eines sexuellen Rollenspiels. Geschichten wie Gefängnisse, wie unterirdische Höhlen ohne Ausgang. Die Welt Robins, Varissas, Robbe-Grillets, dieser Legendenwald der Gespenster und Vorahnungen, des Spechtklopfens und Glockengeläuts, der Rollenspiele und Anachronismen, des Stöhnens und Schreiens, ist nichts als eine Lüge, nichts als eine Erzählung, und eben darum ist diese Welt wahr. »Et maintenant je vais vous raconter ma vraie histoire … ou du moins je vais essayer.«

1970 | »L’éden et après«

»Bien entendu ce jeu est idiot.« – »Pas plus idiot que n’importe quoi.« Zwölf Themen. Imagination. Gefängnis. Männliches Geschlecht. Sperma. Blut. Türen. Labyrinth. Doppelgänger. Wasser. Tod. Tanz. Bild. Zwölf Themen, in zehn Reihen variiert. Selbstverständlich ist dieses Spiel idiotisch. Nicht idiotischer als irgendetwas anderes. Ein Café, das aussieht, wie von Mondrian gebaut. Darin eine Gruppe von Studenten. Ihre gedanklichen Experimente. Ihre imaginären Abenteuer. Russisches Roulette. Diebstahl eines wertvollen Gemäldes. Nie passiert etwas. Suche nach einem Ausweg aus der Erstarrung. »Ihr jongliert mit Ideen«, sagt der geheimnisvolle Fremde, der eines Tages das Café der verlorenen Jugend besucht, »aber ihr schreckt davor zurück, euch dem Leben zu stellen.« Alain Robbe-Grillet lockt seine Protagonisten (und das Publikum) mittels eines unwiderstehlichen »poudre de peur« in ein filmisches Labyrinth, in ein illusorisches Laboratorium, in ein künstliches Paradies, schreckt dabei nicht vor grenzintellektuellen Verblüffungseffekten zurück (»L’image d’une somme est la somme des images.«), jongliert seinerseits fröhlich mit Ideen: mit extravaganten Bildern und obsessiven Arrangements, mit quälenden Reprisen und psychedelischen Spiegelungen, mit geometrischer Abstraktion und sexuellem Fetischismus. Und wie beim Domino legt Robbe-Grillet einen Spielstein an den anderen: écriture, architecture, composition, représentation. Das Café ›Éden‹. Eine moderne Fabrik am Fluß. Eine alte arabische Stadt am Meer. Serialität und Kombinatorik, Mathematik und Assoziation. Parodie eines Abenteuerfilms. Andeutung eines Krimis. Ein Toter im Wasser. Ein gemeiner Giftmord. Eine Entführung. Ein Kunstraub. Eine Folterung. Keine Tiefe, nur Flächen. Kein Geschehen, nur Erzählmuster. Kein Motiv, nur ein MacGuffin. Un fantasme, un fantôme. Une image, une imagination. Ein wertvolles Gemälde. Darstellung eines weißen Hauses in einer arabischen Stadt. Hinter der blauen Tür, unter der flachen Kuppel: Frauen in Käfigen, ein Geheimnis, vielleicht. Scharfkantige Objekte. Fließendes Blut. Klebrige Flüssigkeiten. Cinéma. Réalité. Ma vie.

»Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi.« (»Le miroir qui revient«, 1985)

À suivre …

22. Januar 2014

Reden lassen

Zwei biographische Dokumentationen

»Die Macht der Bilder« von Ray Müller (1993)

Führer und Fische, Neger und Berge – die Welt der Leni R., ausgebreitet in einem monumental-erschöpfenden, gut dreistündigen Doku-Panorama. Die Riefenstahlsche Mischung aus stark begrenzter intellektueller Kapa­zität und politisch-moralischer Verblendung, aus unbestechlichem Blick fürs visuell Überwältigende und hochsensiblem Händchen für wirksame filmische Montage ist (um mit einem glücklosen Bundestagspräsidenten zu sprechen) »selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum«. Zwischen Nürnberger Reichsparteitagsgelände und Berliner Olympiastadion, zwischen Alpenkamm und Nuba-Dorf, zwischen Korallenriff und Schneideraum gewährt Ray Müller der ebenso umstrittenen wie streitbaren alten Dame (die während der Dreharbeiten ihren 90. Geburts­tag feiert) viel Zeit und Raum, sich zu inszenieren, ihre Persönlichkeit vor der Kamera sprachlich wie gestisch zu enthüllen (»Das sind alles Dinge, über die ich gerne spreche – aber bei diesem Scheiß-Licht doch nicht!«), läßt dem Betrachter dabei reichlich Luft zur freien Meinungsbildung: »Die Macht der Bilder« übt zu keinem Zeitpunkt frontale Kritik am Studienobjekt; gerade darum gelingt es Müller, tief in die Abgründe eines eisernen (wenn auch nicht immer triumphierenden) künstleri­schen Willens zu loten.

»The Fog of War« von Errol Morris (2003)

Nach welchen Maßgaben werden Entscheidungen zum und im Kriege ge­troffen? Welche moralischen Maßstäbe gelten in militärischen Extrem­situationen? Wie weit muß sich auf »das Böse« einlassen, wer doch eigentlich »das Gute« will? Diese und weitere Fragen stellt Errol Morris einer der ambivalentesten amerikanischen Politikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Robert McNamara, Harvard-Absolvent, WWII-Veteran, Ford-Manager, US-Verteidigungsminister unter JFK und LBJ. Antworten gibt es nicht in jedem Falle, denn wie sagt Medien-Profi McNamara: »Beantworte niemals die Fragen, die dir gestellt werden.« Daß der Film trotzdem von einigem Erkenntniswert ist, mag daran liegen, daß Morris sich dem kühlen Technokraten (»Empathize with your enemey.«) gleichsam »von innen« nähert, ihm Gelegenheit gibt, sein Denken und Fühlen vor der Kamera zu entwickeln. So entsteht aus dem Porträt eines herausragenden Protagonisten des »militärisch-industriellen Kom­plexes« ein Bild der politischen Klasse und ihrer (unserer) kriegerischen Welt. Morris verweigert sich konsequent griffiger Schwarz-Weiß-Malerei, zeichnet stattdessen die Realitäten in, bisweilen neblig verschleierten, Abstufungen von kaltem, metallisch schimmerndem Grau. Die Erzählung ist glasklar (aber nie vorhersehbar) strukturiert und bis ins letzte filmische Detail brillant (doch nie selbstverliebt) gestaltet. Die sehr reflektierten Aussagen McNamaras, der für die minutiöse Planung der Flächenbombardements Japans ebenso (mit)verant­wortlich war wie für die erstmalige Einführung von Sicherheitsgurten in Autos, werden ergänzt oder subtil konterkariert durch historisches Material – besonders beeindruckend: die Mitschnitte von Oval-Office-Gesprächen aus der Zeit des Vietnamkrieges. »The Fog of War« liefert keine einfachen Wahrheiten; Morris legt sein Material zur Prüfung vor: Aufklärung ohne Melodramatisierung und allwissende Sprüche.