19. September 2020

Schwarz sehen (7)

Die »trilogia del milieu« von Fernando Di Leo

Nach einem abgeschlossenen Jurastudium und einigen Semestern am römischen Centro Sperimentale di Cinematografia schrieb Fernando Di Leo (1932-2003) die Drehbücher zu einer Reihe von Italowestern, bevor er 1969 seinen ersten Spielfilm inszenierte. Di Leo, der auch einige Gialli und Erotikfilme drehte, war ein Bewunderer des amerikanischen Noir-Kinos und wurde vor allem für seine Poliziotteschi bekannt. Die italienische Genrevariante des Gangster- und Polizeifilms erfreute sich in den von Terror und Gewalt geprägten 1970er Jahren (den sogenannten »anni di piombo«) besonderer Beliebtheit. Drei Werke, die Di Leo in den Jahren 1972/73 als Autor und Regisseur realisierte, bilden eine thematische (und formale) Einheit, ohne aber eine durchgehende Geschichte zu erzählen.

1972 | »Milano calibro 9« (»Milano Kaliber 9«)

Das fulminante Preludium des Films (getragen von einem feierlich-aggressiven Score des Komponisten Luis Enríquez Bacalov und der Prog-Rock-Formation Osanna) verfolgt den Weg eines mit 300.000 Dollar gefüllten Päckchens durch das novembertriste Mailand. Mehrere Kuriere lassen die Sendung ober- und unterirdisch von Hand zu Hand gehen: ein dicklicher Fliegenträger, ein Verkäufer von Taubenfutter, eine modische Blondine, ein intellektuell wirkender Vollbart. Bei Ablieferung hat sich die Valuta in Papierschnipsel verwandelt, die Empfänger sind wütend, die Boten müssen sterben. (Natürlich werden die Mittelsleute nicht einfach irgendwie abgemurkst, man bringt sie, nach übelster Mißhandlung, mit Dynamit zur Explosion.) Drei Jahre später kommt ein gewisser Ugo Piazza (stoisch: Gastone Moschin) aus dem Gefängnis frei. Seinerzeit wegen eines mißglückten Einbruchs verurteilt, wird er sowohl von seinen ehemaligen Spießgesellen in der Organisation des »Amerikaners« (Lionel Stander als international tätiger Geldwäscher) wie auch von der Ermittlungsbehörde und seiner Geliebten Nelly (fatal à go-go: Barbara Bouchet) dringend verdächtigt, sich die Dollars damals unter den Nagel gerissen zu haben – insbesondere der äußerst reizbare Rocco Musco (Mario Adorf in einer mitreißenden Borderline-Performance) zweifelt an den Unschuldsbeteuerungen seines früheren Kumpans. Di Leos schnörkellose Gangsterballade (nach Motiven des Kriminalromanciers Giorgio Scerbanenco), eine pulpig-coole Fantasie über Berechnung und Irrtum, Argwohn und Solidarität, Vertrauen und Verrat, treibt die rivalisierenden Waffenbrüder umbarmherzig der bitteren Endabrechnung entgegen, während bei der Polizei ein konservativ gestimmter und ein fortschrittlich denkender Kommissar darüber streiten, ob das Verbrechen als Ursache oder als Auswirkung gesellschaftlicher Übelstände zu gelten hat.

1972 | »La mala ordina« (»Der Mafiaboß – Sie töten wie Schakale«)

Einem New Yorker Drogengroßhändler kommt in Mailand eine Heroinlieferung abhanden. Der Geprellte schickt ein schwarzweißes Killerduo – Woody Strout (wortkarg) und Henry Silva (flamboyant) – über den Atlantik, um den mutmaßlichen Beutegreifer auf möglichst abschreckende Weise zu exekutieren. Besagter Luca Canali (Mario Adorf als Zuhälter mit Herz) erweist sich schnell als vom örtlichen Mafiapaten (fühllos: Adolfo Celi) zum Abschuß freigegebener Sündenbock. Vom Syndikat gejagt, entwickelt der ansonsten recht verträgliche Strizzi überraschende Widerstandskräfte und reift nach der Ermordung von Frau und Tochter zum unaufhaltbaren Rächer. Di Leo inszeniert einen energiegeladenen Reißer mit einigen virtuosen Actionsequenzen (unter anderem eine ziemlich unglaubliche Verfolgungsjagd kreuz und quer durch die Stadt) und farbenfrohen Seitenblicken auf die psychedelische Spaßgesellschaft der frühen 1970er Jahre, eine knallige Etüde über den Einzelnen und die (schlechte) Gesellschaft, vor allem aber das eindrückliche Porträt eines Mannes, der nach dem Verlust des Liebsten keine Angst mehr kennt. In einer verrohten (Unter-)Welt, die Fragen der Ehre allemal den Gesetzen der Gier nachordnet, findet der Showdown geradezu zwangsläufig auf dem Schrottplatz statt.

1973 | »Il boss« (»Der Teufel führt Regie«)

Überwachen und Strafen oder (Un-)Ordnung der Dinge: Di Leo konstruiert einen fast abstrakten Thriller über mafiotische Machtkämpfe sowie die Wechselbeziehungen zwischen Kriminalität, Polizei und Politik. Im Mittelpunkt des gewalttätigen Geschehens steht der ambitiöse Killer Nick Lanzetta (gleichmütig: Henry Silva), ein Mann aus dem Nichts, der sich durch eine vorteilsbewußte Mischung aus Loyalität und Tücke, Brutalität und Intelligenz (freilich nicht als einziger) dafür empfiehlt, in die Fußstapfen des in alle Richtungen gut vernetzten und (scheinbar) allmächtigen Palermitaner Paten Don Corrasco (ehrenwert: Richard Conte) zu treten. Di Leo interessiert sich in der Tradition des großen Schwarz- und Klarsehers Fritz Lang nicht so sehr für psychologische Befindlichkeiten, sondern vielmehr für organisatorische Strukturen und die Mechanik betrieblicher Prozesse (in diesem Fall des (des-)organisierten Verbrechens und seiner Konsorten). So entfaltet sich eine nihilistisch-lakonische Milieustudie voller Klang und Wut, ein rabiat-luzides Genrestück, das die ständige Beschwörung von Begriffen wie Familie und Treue, Recht und Gesetz als leeres Geschwätz entlarvt, indem es den systembedingten Sozialdarwinismus aller Beteiligten zu mörderischem Vorschein bringt.

11. September 2020

Tage des Lebens

Vier Filme von Luciano Emmer

Nachdem er seit 1941 rund zwei Dutzend dokumentarische Kurzfilme (zumeist über Künstler oder Kunstwerke) realisiert hatte, drehte Luciano Emmer (1918-2009) in den frühen 1950er Jahren eine Folge von vier Spielfilmen, deren Themen  in nebeneinander laufenden Erzählsträngen ent-(und ver-)wickelt werden. Die zeitlichen beziehungsweise örtlichen Rahmen der jeweiligen Handlungsgeflechte bilden ein Sommersonntag, eine Kurzreise, ein Modeatelier, ein Klassenzimmer. Sergio Amidei, Drehbuchautor von Rossellinis »Roma città aperta« und de Sicas »Sciuscia«, war der geistige Vater dieser von neorealistischen Grundsätzen inspirierten Dramaturgie. Emmer inszenierte die Filme mit durchaus kritischem Wirklichkeitssinn und Freude am pittoresken Detail; er drehte an Originalschauplätzen (überwiegend in und um Rom) und arbeitete größtenteils mit Laien und Nachwuchsschauspielern wie Marcello Mastroianni, Franco Interlenghi und Lucia Bosè.

1950 | »Domenica d’agosto« (»Ein Sonntag im August«)

Sonntag, 7. August: In Rom herrscht brütende Hitze, die Menschen ziehen massenweise hinaus, mit der morschen Familienkutsche oder im flotten Sportwagen, im überfüllten Vorortzug oder auf dem superschnellen Fahrrad geht es ans Meer, und Luciano Emmer begleitet einige dieser Ausflügler in parallel geführten Episoden durch den Tag. Die Erzählung springt zwischen den Erlebnissen der verschiedenen Protagonisten munter hin und her, die aufmerksame Kamera (die auch den einen oder anderen Blick in die fast ausgestorbene Stadt wirft) schafft lockere Verknüpfungen, erzeugt amüsante Gegensätze, betreibt gleichsam soziologische Sonntagsmalerei. Der Strand von Ostia erscheint als Laufsteg und Kontaktbörse, als allgemeines Volksvergnügen und Spiegel der Klassengesellschaft, als Bühne für sachte Romanzen, kleine Melodramen, beiläufige Intrigen, derbe Possenspiele. Es tummeln sich (unter anderem) krakeelende Kleinbürger und versnobte Geldsäcke, ölige Aufschneider und christlich behütete Ferienkinder, schmucke Jungmänner und vergnügungslustige Mädchen. Zusammen mit zwei Wegbereitern des Neorealismus (den Autoren Sergio Amidei und Cesare Zavattini) kreiert der erfahrene Dokumentarist Emmer einen lebensnahen Querschnittsfilm, der Authentizität und Kurzweil leichthändig miteinander verbindet.

1951 | »Parigi è sempre Parigi«

»Les ennuis / y’en a pas qu’à Paris, / y’en a dans l’monde entier ...« 24 Stunden aus den Leben einiger Römer in Paris – eigentlich sind sie angereist, um beim Länderspiel Italien gegen Frankreich dabeizusein, doch die meisten der Gruppe (unter ihnen Familien, Kumpane, Verlobte, Einzelgänger – allesamt eher kleinkariert als weltläufig) gehen (gewollt der ungewollt) andere Wege. Man sucht (und verfehlt großteils) den mondänen Chic und das sprichwörtliche Oh-là-là, auf große Erwartungen folgen (in den meisten Fällen) bittersüße Enttäuschungen. Jagt der Film bei Tage im Schweinsgalopp in den Louvre und auf den Eiffelturm, zu Sacre Cœur und über die Champs-Élysées, geht es bei Nacht durch Transvestitenschuppen und Nepplokale, Kellerbars und Music Halls (mit einem Auftritt des leibhaftigen Yves Montand). Aus allerlei Aufregungen und Zufällen, Mißverständnissen und Frivolitäten zaubert Luciano Emmer einen anekdotischen Bilderbogen ohne unnötige Schwere, eine sanft ironische Betrachtung des um sich greifenden touristischen Rummels mit viel Sinn für Atmosphäre und Situationskomik – und immerhin einer der Kurzurlauber findet in Paris (par hasard) sein Glück »... Oui, mais dans l’monde entier / y’a pas partout Paris, / v’là l’ennui.«

1952 | »Le ragazze di piazza di Spagna« (»Die Mädchen vom Spanischen Platz«)

Luciano Emmers dritter Ensemblefilm verfolgt die Schicksale dreier junger Frauen, die als Schneiderinnen in einem exklusiven römischen Modehaus (das reale Vorbild liefert das Atelier der berühmten Sorelle Fontana) an der Piazza di Spagna arbeiten. Ein soignierter Professor, der das Trio als außenstehender Beobachter mit taktvollem Interesse begleitet, fungiert als Erzähler und beschreibt neben dem beruflichen Alltag die (zumeist turbulenten) Familienverhältnisse, die (eher bescheidenen) Lebenswelten und die (generell komplizierten) Liebesangelegenheiten des Trios: Die temperamentvolle Marisa läßt sich zum Mißvergnügen ihres proletarischen Freundes Augusto als Mannequin engagieren, die introvertierte Elena leidet unter der Bigotterie ihres spießbürgerlichen Verlobten Alberto, die schnippische Lucia übergeht ihren kurzgeratenen Verehrer Amleto immer wieder zugunsten hochgewachsenerer Kandidaten. Auch wenn – dem Zeitgeist der hochkonjunkturell-konservativen Nachkriegsjahre geschuldet – die Sehnsüchte der Protagonistinnen (fast) ganz auf den Lebensbund mit einem passenden Traumprinzen (zum Beispiel in Gestalt eines netten Taxifahrers) gerichtet sind, beweist Emmer, wie schon in seinen früheren Werken, ein sympathisches Gespür für stimmige Milieuschilderung und plastische Figurenzeichnung.

1954 | »Terza liceo« (»Der letzte Schultag«)

In vierten (und letzten) seiner filmischen Gruppenbilder nimmt Luciano Emmer eine Handvoll Schülerinnen und Schüler der Abschlußklasse eines römischen Gymnasiums in den Blick, wobei – vom Beginn des Schuljahres bis zum Tag der Reifeprüfung – in erster Linie die amourösen Irrungen und Wirrungen der Adoleszenten thematisiert werden: die Beziehung zwischen dem Eisenbahnersohn Andrea und der höheren Tochter Lucia scheitert an den unüberwindlichen Klassenschranken, Giulia verliebt sich in den Schwarm ihrer besten Freundin Maria, die kokette Teresa hält sich mehrere männliche Optionen offen und so weiter, und so fort. Zwar sorgt das ungekünstelte Spiel der jungen Laiendarsteller für eine gewisse Lebensnähe, doch Emmers skizzenhafte Prägnanz weicht in diesem Falle einer gefälligen Oberflächlichkeit, zumal die eher klischeeartigen Begebenheiten das Werk bisweilen wie eine reportagig angehauchte Seifenoper erscheinen lassen.

1. April 2020

Zwanzig Zwanzig

Idee für ein kleines Welttheater

Personen der Handlung
Markus Möglich (42)
Melanie Möglich (39)
Mia Möglich (12)
Max Möglich (9)
Tschiang Tsching, chinesisches Au-pair-Mädchen bei Möglichs
Hausarzt Dr. Mabuse
Präsident
Gesundheitsministerin
Wissenschaftsredakteur einer überregionalen Tageszeitung
Patient Null
Panikforscherin
Pizzabote
Alter Mann mit Fieberthermometer
Junge Frau mit Geldbündeln
Nachtschwester Angela
Glaube, Liebe, Hoffnung
Ritter, Tod, Teufel
Paare, Passanten, Polizisten
Angehörige von Risikogruppen
Arbeitskräfte in systemrelevanten Berufen
Drei Hexen (Anne, Maybritt, Sandra)
Chor der Viren
Chor der Virologen

I. Akt (Exposition)
in der Wohnküche der Möglichs
Irgendwo bricht eine Krankheit aus.

II. Akt (Steigerung)
im Supermarkt
Das Klopapier wird knapp.

III. Akt (Höhepunkt)
im Bunker
Die Regierung verbietet das Leben und das Sterben.

IV. Akt (Retardierendes Moment)
auf der Straße
Das Volk maskiert sich.

V. Akt (Auflösung)
im Garten der Möglichs
a) Es kommt zur Katastrophe: alle sind glücklich.
oder
b) Es geht gut aus: alle sind tot.

1. Januar 2020

2019 2/2

Aktuelle Filme im zweiten Halbjahr

Juli


Yesterday von Danny Boyle (2019) : Die hübsche Prämisse ihrer kontrafaktischen Erzählung – einzig ein (ziemlich erfolgloser) Musiker erinnert sich nach einem rätselhaften globalen Zwischenfall an die Songs der Beatles – nutzen Regisseur Boyle und Autor Curtis nicht zur Kreation einer popkulturellen Anderswelt sondern lediglich als Grundlage einer soliden romcom mit kontinuierlich ansteigendem Schnulzpegel (»All You Need is Love« as usual). Weder ›tangerine trees‹ noch ›marmalade skies‹ – aber mit einer überzeugenden Besetzung und launigen Seitenhieben auf Funktionsweisen der Unterhaltungsindustrie schlägt sich »Yesterday« redlich ins (leicht modifizierte) Hier und Jetzt durch.

Kursk von Thomas Vinterberg (2018) : Ein Drama ohne Rettung: wie im historischen Fall, so geht auch in Vinterbergs durchaus bewegender Adaption die Besatzung des Atom-U-Bootes Kursk ihrem von den Weltläuften gesponnenen Schicksal entgegen. Die Rolle, die im richtigen Leben Wladimir Putin spielte, übernimmt im Film der greise Max von Sydow – sein fiktiver Admiral erscheint wie die Wiederkehr des russischen Erzschurken vergangener Kinozeiten als unsagbar trauriges Gespenst.

Dolor y gloria von Pedro Almodóvar (2019) : Nach »La ley del deseo« und »La mala educación« erzählt Almodovar zum dritten Mal mit autobiographischem Unterton von Glanz und Elend der filmemacherischen Kreativität. War das erste Stück der losen Reihe noch von wilder Leidenschaft erfüllt, ertrank das Folgewerk in nostalgisch-selbstreferentieller Melancholie, zeichnet der gereifte Meister nun (in gewohnt erlesenen Farben) das versteinert-redselige, kokett-selbstmitleidige Bildnis des Künstler als (schöner) alter (kranker) Mann.

August

La chute de l’empire américain von Denys Arcand (2018) : »Komödie ums Geld« heißt ein Film von Ophüls, und auch Arcands herzensgut-blutiger Traktat über die zersetzenden Kräfte des Kapitals und deren subversive Unterwanderung könnte diesen Titel tragen, oder: »Das Geld anderer Leute«, oder: »Für ein paar Dollar mehr«, oder »Die Farbe des Geldes« oder: »Jagd nach Millionen«, oder ganz einfach: »Das Geld« PS: »The more I see of the moneyed classes, the more I understand the guillotine.« (Shaw)

Toy Story 4 von Josh Cooley (2019) : Eine Wiederbegegnung mit den üblichen Verdächtigen aus dem Kinderzimmer (und ein paar bizarren Neuzugängen): wieder eine abenteuerliche Rettungsmission und wieder das grüblerische Ringen der Objekte um die Subjekthaftigkeit. Ein wenig redundant das alles, dabei aber immer noch einigermaßen unterhaltsam.

Ich war zuhause, aber ... von Angela Schanelec (2019) : (»There’s such a lot of world to see.«) Vielleicht hat Schanelec ja einen Science-Fiction-Film gemacht, einen Film über Wesen, die aussehen wie Menschen, aber eigentlich Aliens sind, die zu verstehen versuchen, was es heißt, ein Mensch zu sein, die sich herumschlagen (müssen) mit den Fragen von Sein und Werden, Lüge und Wahrheit, Liebe und Tod. (Oder ist es ein Film über die Welt, gesehen mit den Augen eines Esels, eines Hundes, eines Hasen, einer Wachtel?)

September

Late Night von Nisha Ganatra (2019) : Nach 28 Jahren auf Sendung schlägt Moderatorin (Dame) Katherine Newbury die Stunde: zu alt, zu weiß, zu unpersönlich sei ihre allnächtliche Performance. »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«, wußte schon Hölderlin – als da in diesem Falle wären: Frische, Farbe, Selbstentblößung. (Dame) Emma Thompsons (ziemlich fulminante) The-Show-Must-Go-On-Darbietung muß Ganatras (ziemlich lahmer) Medienposse unterdies immer wieder aus der sentimentalen Patsche helfen.

Synonymes von Nadav Lapid (2019) : Stationendrama einer Identitätskrise oder Ein Israeli in Paris. Lapid folgt seinem verrückt spielenden (oder tatsächlich verrückten?) Protagonisten auf der (einigermaßen enervierenden) Flucht vor dem eigenen Herkommen durch eine ((Alp-)Traum-)Welt, die nicht zur neuen Heimat werden will. Das vaterländisch-muttersprachliche Ideen-Pêle-Mêle wird von Tom Mercier in der Hauptrolle auf atemberaubende Weise zusammengehalten.

Once Upon a Time ... in Hollywood von Quentin Tarantino (2019) : Im Grunde gleicht Tarantino einem Sammler, der kaum an den Objekten seiner Begierde interessiert ist, dem es vielmehr um deren massenweises Zusammenraffen und stolze Zurschaustellung geht. Über das Unbehagen in der Kulturindustrie hat er so wenig Erhellendes (oder Originelles) zu sagen (oder zu zeigen) wie über die Abgründe der Gegenkultur – so bleiben am Ende nur inhaltsleeres Gerede und fanfictionhaftes Entweichen in ein Es-war-einmal-Spiegelland, wo die Toten heute noch leben. (Aber gestorben sind sie leider doch.)

Ad Astra von James Gray (2019) : Was beginnt wie eine Weltraumodyssee ins Herz der Finsternis (Suche nach außerirdischer Intelligenz meets Wahnsinn im Grenzgebiet der Zivilisation), endet als trivialpathetischer Vater-Sohn-Konflikt. Weder die außergewöhnliche audiovisuelle Eleganz der Inszenierung noch Grays bohrende introspektive Ernsthaftigkeit (einsame Männer in unendlichen Weiten) können verhindern, daß die ins Kosmische zielende Erzählung abschmiert wie eine feuchte Silvesterrakete.

The White Crow
von Ralph Fiennes (2019) : Was Callas für die Oper und Picasso für die moderne Malerei sind, ist Nurejew für den Tanz: ein Inbegriff. Fiennes liefert einen (formal äußerst gediegenen) filmbiographischen Abglanz der Ikone, der den ichbefangen-hochfahrenden Charakter des Protagonisten halbwegs zu fassen kriegt, von dessen künstlerischer Bedeutung aber kaum eine Ahnung gibt; gegen Ende der Erzählung gelingt ihm immerhin die spannungsreiche Darstellung einer ebenso folgenschweren wie denkwürdigen Lebensentscheidung.

Oktober

Gemini Man von Ang Lee (2019) : Will Smith und Will Smith (und Will Smith) in einem ultrakünstlichen Action-Killer-Thriller, dessen thematisches Potential (Individualität, Genmanipulation, Kriegsindustrie) von Lee gelegentlich touchiert, zumeist aber im hektischen Hin und Her zwischen Lüttich und Georgia, Kolumbien und Budapest ungerührt weggeballert wird.

Joker von Todd Phillips (2019) : Ein kaputter Typ in einer kaputten Gesellschaft lacht kaputt, was ihn kaputt macht. Mit seiner auf New Hollywood geschminkten exzentrisch-brutalen Sozialallegorie nimmt Phillips sich so wichtig wie der apokalyptische Protagonist. Daß Robert De Niro, der vergleichbare Rollen einst deutlich abgründiger zu gestalten wußte, in diesem Fall lediglich Stichworte geben darf, sagt mehr als tausend Clownsmasken.

Terminator: Dark Fate von Tim Miller (2019) : Ewige Wiederkunft des Gleichen: Mensch gegen Maschine gegen optimierte Mensch-Maschine gegen optimierte Maschinen-Maschine. Einer respektvoll erschüttertem Welt wird offenbar, welch dunkles Schicksal Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton ereilt hat, und Miller läßt dazu die Trümmer der jüngeren Filmgeschichte tanzen.

November

Lara von Jan Ole Gerster (2019) : Vierundzwanzig Stunden aus dem (nicht gelebten) Leben einer Frau – nach dem episodischen Oh-Boy-Prinzip heftet sich Gerster einen Tag lang an die Fersen einer ziemlich unliebenswürdigen Sechzigerin (Corinna »Stone Face« Harfouch). Geriet dem Regisseur das Debüt zum salopp-pointierten Zeitbild, reiht sein lang erwarteter Zweitling nur mehr stylisch-verquälte Abziehbilder aneinander.

Last Christmas von Paul Feig (2019) : Sentimentale Weihnachtsromanze aus einem London, das so unwirklich erscheint wie die Anwesenheit einer Elfe in der Suppenküche für Obdachlose. Trotz beiläufiger Fingerzeige auf Brexit-Problematik und fortschreitende Prekarisierung versinkt diese übersinnliche Herzensangelegenheit (zu schmusigen George-Michael-Klängen) vollständig im eigenen Schmalz.

Dezember

The Good Liar von Bill Condon (2019) : Was beginnt wie eine gemächliche Trickster-Romanze unter wohlerhaltenen Senioren (Ian McKellen meets Helen Mirren), entwickelt sich sukzessive zum (ziemlich unglaubhaften) Rache-Melodram um die Begleichung uralter Rechnungen. Condon verliert sich so tief in abstrusen Rückblenden, daß auch die böse Schlußpointe keine rechte Wirkung mehr entfalten kann.

A Rainy Day in New York von Woody Allen (2019) : Eine elegante Petitesse über junge Leute in der großen Stadt. Mit der sogenannten Realität hatte Allen nie besonders viel am Hut, und so bewegen sich seine Figuren auch in dieser leichtgewichtigen Liebes- und Gesellschaftskomödie durch ein kinematographisch-literarisches Paralleluniversum, das mit dem Hier und Jetzt höchstenfalls dekorative Äußerlichkeiten gemein hat.

Motherless Brooklyn von Edward Norton (2019) : Anklänge an Polanskis »Chinatown« sind überdeutlich: die Aufklärung eines Mordfalles führt in ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus Sex, Verbrechen und (Macht-)Politik. Nortons geschmackvoll-überlange Adaption des Romans von Jonathan Lethem ersetzt Los Angeles durch New York, die 1930er durch die 1950er, die coole Spürnase durch einen Schnüffler mit Tourette-Syndrom. Die Auflösung erscheint jedoch banal gemessen an der behaupteten Größe des Mysteriums.

Deux moi von Cédric Klapisch (2019) : Rémy und Mélanie, beide um die 30, wohnen Wand an Wand mit Blick über Bahngleise und die Dächer des grauen Pariser Nordens. Sie ist ständig müde, er kann nicht schlafen, sie trauert ihrem Ex nach, er findet keine Freundin, sie grollt mit ihrer Mutter, er lebt auf Distanz zur Familie. Klapisch inszeniert eine kluge psychologische Tragikomödie über Menschen, die sich nah sind, ohne voneinander zu wissen, folgt dem Weg zweier Parallelen, die sich (mit etwas Glück) nicht erst im Unendlichen treffen.