30. April 2013

The Black Rider

Nicht alles von Tim Burton

1982 | »Vincent«

»Vincent« ist vielerlei, vor allem aus der Rückschau, also in Kenntnis eines einzigartigen künstlerischen Lebenswerkes (ein Begriff, der auf das Schaffen Tim Burtons, auch wenn da noch einiges kommen mag, durchaus schon zutrifft): »Vincent« – die lyrische Animationsminiatur über den siebenjährigen, explosiv frisierten Vincent Malloy, der, anstatt draußen zu spielen und Spaß zu haben, lieber im Dunkel seines Zimmers dem Welt­schmerz frönt, Edgar Allen Poe verehrt und sich einbildet, er sei Vincent Price, sei besessen und verdammt – ist Visitenkarte und Standort­be­stimmung, Vorgriff und Versprechen, Autobiographie und Selbsterfindung, Hommage und Schöpfung, Test und Meisterwerk. In »Vincent« finden sich, in fünfminütiger Verdichtung, all die großen Themen, die Burton in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ausformulieren, all die Leidenschaften, denen er erliegen wird: Unverstandensein und Einsamkeit, Einzelner und Gesellschaft, gotischer Horror und everyday life … dazu der ausgeprägte Sinn für Atmosphäre und die erzählerische Sprunghaftigkeit, die glückhaften Schußfahrten in die Abgründe in die Phantasie und und Erwachen, das nur ein böses sein kann: »And my soul from out that shadow that lies floating on the floor / Shall be lifted – nevermore!«

1988 | »Beetlejuice«

»Being dead really doesn’t make things any easier.« Fritz Lang sagte (in Jean-Luc Godards »Le mépris«) den bemerkenswerten Satz: »La mort n'est pas une solution.« Und auch die Eheleute Maitland (»Cute couple. Look nice and stupid, too.« – Geena Davis und Alec Baldwin) finden die Ewigkeit eher zweitklassig: Komplizierte Gebrauchsan­weisungen für die postume Existenz und elend lange Wartezeiten in der Bürokratie des Jenseits schlagen ihnen aufs frisch verstorbene Gemüt; vor allem aber fühlen sich sich von den aufgeblasenen Großstädtern belästigt, die sich in ihrem idyllischen Landhaus breitmachen. Abhilfe verspricht ein zerlumpt-anarchischer Ungeist (entfesselt: Michael Keaton), der seine zweifelhaften Dienste unter dem Label »The afterlife’s leading Bio-exorcist« feilbietet … »Beetlejuice« verquickt eine bonbonbunt eingefärbte Anhäufung von Filmzitaten – angefangen beim deutschen Expressionismus über das frühe amerikanische Horrorkino bis hin zu Klassikern wie »Topper« und »Les jeux sont faits« – mit frotzelnder Klein- und Großbürger-Verarsche, die leicht beschränkte Provinzler, selbstgefällige Immobilienexploiteure, hysterische Pseudo-Künstlerinnen, schmarotzende Inneneinrichter und weltschmerzgeplagte Gothic-Kids gleichermaßen fidel durch den Kakao zieht. Die kreative Unverfrorenheit, mit der Tim Burton alle filmischen Zutaten in den Häcksler wirft, um die Bruchstücke (teilweise mittels Stop-Motion-Animationen sowie Masken- und Modelltricks) liebevoll neu zu montieren, und zu guter Letzt auch noch die Toten mit den Lebenden versöhnt, bleibt vollkommen zeitlos – vermutlich weil die sympathisch-krude Mischung schon im Moment ihrer Entstehung (bis auf ein paar Äußerlichkeiten) in keiner Weise zeitgenössisch war. PS: Und merke: »Nobody says the ›B‹ word!«

1990 | »Edward Scissorhands«

»We're looking for the man with the hands.« Über »Edward Scissorhands« könnte Tim Burton mit Edward D. Wood Jr. sagen: »This is the one I'll be remembered for.« Der Film zählt zu jener Handvoll originärer Ausnahme­werke, mit denen die (wirklich) großen Kinoerzähler ihr jeweiliges Lebens­thema auf den künstlerischen (Gipfel-)Punkt bringen. So wie Melville in »Le samouraï« von der existenziellen Einsamkeit spricht, Ozu in »Tokyo Monogatari« vom unvermeidlichen Abschied, Hitchcock in »Vertigo« von der inneren Gefangenschaft, Fellini in »8½« von Glanz und Elend der Imagination, so spricht Burton in »Edward Scissorhands« von Außen­seitertum und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Die märchenhaft-abgründige Gutenachtgeschichte um die Figur des schwarzen Scherenmannes, der aus dem alten, dunklen Schloß oben auf dem Berg in die pastellfarbene Vorortsiedlung zu dessen Füßen gerät, wo er die Menschen kennen, lieben und fürchten lernt, verschmilzt die Reflexion über das Spannungsverhältnis zwischen Konformismus und Devianz (bzw. Dumpfheit und Phantasie) mit einem Schneesturm (pop-)kultureller Referenzen – von Faust bis Frankenstein, von »La belle et la bête« bis hin zu Vincent Price als greiser Anspielung auf sich selbst. Formal und erzählerisch virtuos, zugleich satirisch und hochemotional, seziert »Edward Scissorhands« eine Normalität, die dem Andersartigen zwar (vorrübergehend) den Reiz des Exotischen abgewinnnen kann (»That was the single most thrilling experience of my entire life.«), es im tiefsten Inneren jedoch nur als Krankheit begreift (»I know a doctor who might be able to help you.«), es als unerklärliche Bedrohung fürchtet, die es abzusondern (»You must push him from you, expel him!«) oder, besser noch, totzuschlagen gilt: »He isn't even human!« Dem maverick mit der zehrenden Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit (Johnny Depp rührt in (fast) jeder Einstellung zu Tränen) bleibt schließlich nur der Weg zurück in die Einsamkeit seines hoch über der Stadt gelegenen Domizils, von wo er sich (und das Andere) der Welt dort unten gelegentlich in Erinnerung bringt: »If he weren't up there now ... I don't think it would be snowing.«

1994 | »Ed Wood«

Eine schummrige Bar in Hollywood. Ein berühmter actor-writer-producer-director sagt zu einem weniger berühmten Kollegen: »Visions are worth fighting for. Why spend your life making someone else's dreams?« Ja, warum eigentlich? »Ed Wood« ist so etwas wie ein Schlüsselfilm für alle (Möchtegern-)Cinéasten und solche, die es werden wollen. Natürlich liefert Tim Burton mit seinem abgründig-ironischen »nightmare of ecstasy« auch eine liebevoll ausgestattete (Szenenbild: Tom Duffield), kongenial fotografierte (Kamera: Stefan Czapsky) und delikat orchestrierte (Musik: Howard Shore) Hommage an das golden age of B movies (»Is there a script?« – »Fuck no! But, there's a poster!«), vor allem aber zeichnet er das bewegende Porträt eines Besessenen, eines Mannes, der – ungeachtet aller Widrigkeiten – seinen Leidenschaften bedingungslos huldigt, sei es Filmkunst oder Frauenkleidung (vorzugsweise aus Angora). Johnny Depps strahlend-naive Jungenhaftigkeit verwandelt einen hoffnungslos untalentierten Mann in einen visionären Kämpfer: »Really? Worst film you ever saw? Well, my next one will be better.« Will sagen: Das Ergebnis der Bemühung wird zur Nebensache, solange nur die Träume, die den Strebenden tragen, groß genug geträumt sind. In diesem Sinne gönnt Burton seinem Titelhelden einen (wenn auch verregneten) kleinen Triumph – und verschiebt geschickt den tragischen Akzent seiner großen Erzählung von der Figur Edward D. Wood Jr. (der in Wirklichkeit bitteren Schiffbruch erlitt) auf den abgehalfterten Horror-Star Bela Lugosi (erschütternd: Martin Landau): Wenn der morphiumsüchtige alte Herr (»I'm just an ex-boogeyman.«) am Ende seiner Karriere (und seines Lebens) in einen ungeheizten Wasserbassin steigen und mit den Armen eines schlaffen Plastikkraken kämpfen muß, verdichtet sich der ganze Jammer der (Alp-)Traumfabrik (und vielleicht der menschlichen Existenz überhaupt) zu einem einzigen kläglich-spektakulären Kinobild … »Cut! That was perfect!«

1996 | »Mars Attacks!«

»We come in peace!« oder: the extra-terrestrial-movie to end all extra-terrestrial-movies. Schon die allererste Sequenz, in der Tim Burton eine Herde brennender Rinder über eine Landstraße im Mittleren Westen stampfen läßt, stimmt ein auf den Wahnwitz, der da kommen wird. Die anschließende credit sequence bringt – in ballettartig arrangierten Formationen – vom Mars ausschwärmende, silbrig schimmernde Fliegende Untertassen in Stellung gegen den blauen Planeten. In ausladend-episodischer Erzählweise präsentiert »Mars Attacks!« sodann einige hervorragende, bis zur Kenntlichkeit entstellte Exemplare der Gattung Mensch (allesamt von boshaft-klug chargierenden Hollywoodgrößen verkörpert): wundersam plastische Comic-Charaktere, die im Kampf mit den grünen Invasoren (»Martians! Funny little critters!«) ihre jeweils besten, vor allem aber schlechtesten Seiten hervorkehren. Mit seiner tiefen Verbeugung vor den Landmarken des Sci-Fi-Trashkinos gelingt Burton (nicht nur) nebenbei eine hämische Gesellschaftssatire: Fernsehfressen und Geschäftemacher, Medienprofis und Wissenschaftsschwätzer, Rechtsanwälte und Karrieristen, Friedenswinsler und Kriegstreiber – vor den grellbunten marsianischen Todesstrahlen sind sie alle gleich. Und endlich, endlich einmal bekommen ein Präsident (»Rest assured that we will soon come out at a very real outcome.«) und seine First Lady (famous last words: »The Nancy Reagan chandelier!«) das, was sie verdienen. Verschont werden dagegen – neben routinierten Showzelebritäten, die sich von niemandem mehr etwas vormachen lassen (»It's not unusual …«) – esoterische Alkoholikerinnen, schlagkräftige Ex-Boxer, taffe Busfahrerinnen, unerschütterliche Großmütter und sanftmütige Jungs. Das Ende des Films sieht eine schwer angeschlagene Menschheit in unverzagtem Wiederaufbau. Sie sollte besser innehalten und auf Richie Norris hören: »Maybe instead of houses we could live in tepees, ’cause … it’s better in a lot of ways.«

1999 | »Sleepy Hollow«

»Watch your heads.« 1799 – nur wenige Jahre zuvor wurden im revo­lu­tionären Paris Ströme von Blut im Namen der Ratio vergossen, Tausende Köpfe mit sausender Klinge von ihren vermeintlich unvernünftigen Körpern getrennt –, 1799 also, am Vorabend eines neuen Jahrhunderts, treibt in einem verschlafenen Nest nördlich von New York ein kopfloser Reiter sein mörderisches Wesen: Zahllose Opfer verlieren ihre Häupter durch den scharfen Streich seines Schwertes. Constable Ichabod Crane, ein nur auf den ersten Blick unerschrockener Jünger der (wissenschaft­lichen) Aufklärung, (Johnny Depp – the man from outside) wird nach Sleepy Hollow entsandt, um das Rätsel des angeblich untoten Schlächters zu lösen – und dort zugleich mit den Dämonen seiner eigenen Vergan­genheit konfrontiert. Angelehnt an nebeldurchzogene, schwarzromantische Spukklassiker à la Hammer, Corman oder Bava, zugleich der ätzenden Gesellschaftskritik eines Francisco de Goya verpflichtet, balanciert Tim Burton seinen atemberaubend gut fotografierten (Kamera: Emmanuel Lubezki) Horror-Whodunit mit traumwandlerischer Sicherheit auf der feinen Nahtlinie zwischen Rationalität und Transzendenz, zwischen kühler Beherrschtheit und wildem Wahn. »Seeing is believing«, heißt es einmal, aber Crane (»bewitched by reason«) lernt schmerzlich erkennen, daß jenseits von Augenschein und methodischer Erklärung noch andere, tiefere, dunklere Wahrheiten begraben liegen. Am Ende gelingt die Aufdeckung einer komplizierten Intrige, und die Liebe verspricht dem verunsicherten Helden die Linderung seines quälenden Leides – doch »Sleepy Hollow«, ein bei aller Blutrünstigkeit erstaunlich zarter Film über Menschen auf ihrem schwierigen Weg durch den dunklen Wald der Welt, hält die Gewißheit bereit, daß sich der Schlund zum tödlich Unerwarteten jederzeit öffnen kann … PS: »Adieu, dit le renard. Voici mon secret. Il est très simple: on ne voit bien qu'avec le cœur. L’essentiel est invisible pour les yeux.«

2003 | »Big Fish«

»It’s unbelievable …« – »The story of my life.« »Big Fish«, Tim Burtons opulent-phantastischer Generationenkonflikt der narratologischen Art, setzt einen Vater, seines Zeichens saftiger Geschichtenerzähler und liebens­werter Mythomane seiner selbst, gegen dessen Sohn, einen trockenen Faktenhuber und leicht verkniffenen Anti-Illusionisten. Während der Alte noch auf dem Totenbett die hohe Kunst des erfindungsreichen storytelling in eigener Sache zelebriert, versucht der Junge erbsen­zählerisch lebensgeschichtliche Dichtung von biographischer Wahrheit zu trennen. Aber wie heißt es in einem Film von John Ford: »If the legend becomes fact, print the legend.« Was für den Wilden Westen gilt, erweist sich auch im amerikanischen Süden als richtig: »A man tells his stories so many times that he becomes the stories. They live on after him, and in that way he becomes immortal.« Die pikareske, nicht der Folgerichtigkeit sondern vielmehr dem Überraschungs- und Schaueffekt verpflichtete Struktur der Erzählung, in der alles schon allein deswegen wahr ist, weil es eben erzählt (bzw. gezeigt) wird, erlaubt es Burton, wann und wie immer es ihm beliebt, seine bizarren Traumkulissen – vom tief im Märchen­wald versteckten Kleinstadtidyll bis zur nordkoreanischen Show­bühne – für die wundersamen Geschehnisse zu errichten; seinen üblichen visuellen Fingerzeigen auf die Klassiker des Horrorkinos weitgehend abhold, entwickelt er dabei eine zarte, irreale, metaphernreiche Poesie, die – nicht ohne Sentimentalität – an die kinematographischen Lebens­reisen und -bilanzen eines Bergman (»Smultronstället«) oder Fellini (»8½«) anschließt: »It doesn't always make sense and most of it never happened ... but that's what kind of story this is.«

2007 | »Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street«

»There's a hole in the world like a great black pit / And it's filled with people who are filled with shit.« Stephen Sondheims inhaltlich monströse, kompositorisch feinziselierte Slasher-Show um den legendären Londoner Barbier, der Frau, Kind und Glück an die krankhafte Begierde eines schur­kischen Richters verlor und für das ihm sowie den Seinen zugefügte Leid grausame Vergeltung übt, verbindet Dickens’sche Schicksalsdramaturgie und mörderischen Grand-Guignol-Schrecken zu einer bluttriefenden Rachetragödie von elisabethanischem Ausmaß. Tim Burton verbietet sich in seiner optisch fulminanten und (trotz (oder gerade wegen) der eingeschränkten stimmlichen Kapazität der Akteure) musikalisch ergreifenden Adaption praktisch jede ironische Distanz: Auf der lichtlosen melodramatischen Schauermär (die mit Sweeney Todds Diktum »We all deserve to die!« ihre erzählerische Richtungsangabe erhält) lastet eine Atmosphäre unentrinnbarer Depression, gleich dem schweren, öligen Ruß aus Myriaden von Kaminen (unter denen einer einen ganz besonderen Qualm ausstößt), der die fahlen Backsteinbauten der englischen Metropole mit einem pechschwarzen Schleier überzieht. Bitterer Spott blitzt in jenen Passagen des Films auf, die sich als sarkastischer Kommentar auf das menschenverschlingende Zeitalter der Maschine und des Hochkapitalismus lesen lassen, ansonsten scheint die psychische Erstarrung des Protago­nisten (jenseitig: Johnny Depp), der ausdruckslos seine Mission erfüllt, Burton zum Vorbild für die theatralische Kälte der Inszenierung zu gereichen. Die Welt von »Sweeney Todd« kennt keine Tränen, sie kennt nur Blut, sie kennt weder Liebe noch Hoffnung, sie kennt nur Obsession und Einsamkeit – und auch jene, die diesen pervertierten Familienroman überleben, wünschten sich wohl, sie wären tot. Denn sie ahnen, daß sie diesem Ort und seinem Unsegen nicht entfliehen können: »When we’re free of this place, all the ghosts will go away.« – »No, they never go away.«

2010 | »Alice in Wonderland«

»You’re mad, bonkers, off your head. But I tell you a secret: All the best people are.« Gemessen an diesen Sätzen, die Alices Vater, der visionäre Geschäftsmann Mr. Kingsleigh, im Prolog des Films zu seiner Tochter spricht, zählt Tim Burton, Regisseur von »Alice in Disneyland« (aka »Alice in Wonderland«), wohl nicht eben zu den Besten: Lewis Carrols versponnenes Nonsense-Universum erlebt die Umrechnung in eine pompös-virtuelle Fantasy-Welt, die zwar phantasiereich designt, jedoch auf recht ermüdende Weise übersichtlich geordnet ist: Gut (weiß) gegen Böse (rot), das magische Schwert (Vorpal) besiegt den bösen Drachen (Jabberwocky), dazu dramatische Selbstfindung der Hauptfigur in der, nur zögernd angenommenen, Erlöser(innen)rolle – und wenn sie nicht gestorben sich, dann leben sie alle (nun ja, nicht wirklich alle) happily ever after. In den besseren Momenten erinnert »Alice« fern an die ironisch-psychedelischen Weltrettungsvisionen des Zeichentrick-Klassikers »Yellow Submarine«, in den schlechteren deutlich an Steven Spielbergs auf ähnliche Weise gescheiterte »Peter Pan«-Revision »Hook«. Am Amüsantesten erscheint noch die Figur der usurpatorischen Red Queen (in der Rolle ihres Lebens: Helena Bonham Carter), die – umgeben von kriecherischen Hofschranzen und einer drolligen Menagerie (schweinische Fußbänkchen, vogelgetragene Kronleuchter, froschige Pagen) – mit ihrem unbezwingbaren Faible für Hinrichtungen immerhin einen erhellenden Einblick in die aristokratische Geisteswelt gestattet: »Off with their heads!«

18. April 2013

Sex & Crime (& Transcendence)

Einige Filme von Paul Schrader

1979 | »Hardcore« (»Hardcore – Ein Vater sieht rot«)

»Turn it off! Turn it off!! TURN IT OFF!!!« oder »Völlige Verderbtheit, bedingungslose Er­wäh­lung, begrenzte Versöhnung, unwiderstehliche Gnade und die Beharrlichkeit der Heiligen.« Schraders Schmuddel-Meditation über Calvinismus und Pornographie: Die halbwüchsi­ge Tochter des tiefreligiösen Mittelwestlers Jake VanDorn (George C. Scott) geht auf einer Klassen­fahrt in Kalifornien verloren. Die Polizei ist ratlos. Ein schmierig-fusselhaariger Privat­schnüff­ler (Peter Boyle) findet die Spur des Mädchens – und präsentiert dem schockierten Vater den Auftritt seines Kindes in einem billigen Hard­core-Streifen … Als Reinkarnation von Ethan Edwards begibt sich der moderne »searcher« auf eine Reise durch das neonbunte Inferno der amerikanischen Lustindustrie, tarnt sich mit Toupet, falschem Schnauz und großgemusterten Hemden, deren Kragenspitzen bis (fast) zum Bauchnabel reichen, trifft auf großkalibrige Typen mit so klingenden Namen wie ›Jism Jim‹ oder ›Big Dick Blaque‹ – und muß der schrecklichen Wahrheit ins Auge sehen. Die Welt des Sex und das Reich des Glaubens sind spiegelbildliche Universen, deren Bewohner ähnliche Blessuren tra­gen. Die sonderbare Unentschiedenheit des schroffen Werkes zwischen moralischem Thrill und zynischer Parodie sorgt gleichermaßen für Irritation wie für Intensität.

1980 | »American Gigolo« (»Ein Mann für gewisse Stunden«)

»Emotions come I don't know why.« Schrader präsentiert in geschmackvollen Bildern, erzählerisch aber relativ mitleidlos die Höllenfahrt eines schönen, eitlen, dummen Mannes, des professionellen Frauenbeglückers und scheinbaren Glückskindes Julian Kay (für die Rolle geboren: Richard Gere). Etwas gemildert wird die Fallhöhe allein dadurch, daß Los Angeles, der Ort, an dem dieser Pfau seine Federn spreizt, auch schon wie ein Kreis der Hölle wirkt. Gerettet (jedenfalls emotional) wird der tief (auf sich selbst zu­rück-)gefallene Engel des Stolzes durch die (echte) Liebe einer (verheirateten) Frau (mit sexy Zahn­lücke: Lauren Hutton). Was durch Look (John Bailey), Kostüm (Giorgio Armani) sowie (freundlich gesagt) Musik (Giorgio Moroder) ganz dem Geist (?) seiner Zeit (den frühen Achtzigern, dem Laissez-faire der beginnenden ›Reagan Revolution‹) verhaftet scheint, erhält durch Schraders materiell prä­zi­sen, gleichwohl trans­zendentalen Style über­ra­schend gül­tige, dem flüchtigen Moment dauerhaft enthobene Bedeutung: »Was hülfe es dem Men­schen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Nichts.)

1985 | »Mishima: A Life in Four Chapters« (»Mishima«)

Yukio Mishima war wohl eine der seltsamsten Figuren des an seltsamen Figuren nicht eben armen 20. Jahrhunderts: schwuler Erzreaktionär, westlich geprägter japanischer Nationalist, intellektueller Partylöwe, todesbesessener Ästhet, Gründer einer Privatarmee. »Wenn du schon Schriftsteller werden willst«, soll der Vater zum jungen Yukio gesagt haben, »dann gefälligst der beste Japans.« Schrader verarbeitet das Leben, das Werk und den, ebenso spektakulären wie fotogenen, Tod des Romanciers Mishima zu einem formal und narrativ ausgefallenen Kaleidoskop in vier Kapiteln – »Beauy«, »Art«, »Action«, »Harmony of Pen and Sword« –, das Dank einer luziden Kamera (John Bailey), einer überaus kunstvollen Ausstattung (Eiko Ishioka) und einer treibend-aufwühlenden Musik (Philip Glass) zu keinem Zeitpunkt papiern oder theoretisch bleibt. In die Parallelerzählung von prägenden biographischen Stationen und dramatischem letzten Lebenstag Mishimas schiebt Schrader geschickt drei fulminante kinematographische Kondensate von Werken des Dichters: Weiter als »Mishima« kann eine filmische Lebensbeschreibung vom Flachsinn gängiger Biopics kaum entfernt sein. Bemerkenswert: Ohne die Unterstützung von Francis Ford Coppola und George Lucas (!) hätte dieses exzentrische Werk wohl niemals realisiert werden können.

1990 | »The Comfort of Strangers« (»Der Trost von Fremden«)

Befremdlich-bestrickendes venezianisches Rondo nach einem Roman von Ian McEwan über zwei Paare (die Jungen: Rupert Everett & Natasha Richardson, die Älteren: Christopher Walken & Helen Mirren), die sich in einem sexualisierten Ballett aus Anziehung und Abstoßung auf einen definitiven Höhepunkt zubewegen. Schrader inszeniert die in Schönheit sterbende Lagunenstadt als schwülen Abgrund tödlicher Leidenschaft, stattet seine stilvoll-morbide Etüde (Kamera: Dante Spinotti, Musik: Angelo Badalamenti) über Erziehung und Begierde, Lust und Zerstörung, Gewalt und Geschlech­terbilder mit erlesenen Requisiten aus: angefangen bei samtenen Fortuny-Lampen, über weiße Armani-Anzüge und handbestickte seidene Haus­mäntel bis hin zu imaginären mascara-gefärbten Schnurrbärten.

2002 | »Auto Focus«

Die sexuelle Revolution frißt ihre Kinder … Schrader verfolgt wiederum mit insistie­rendem Blick die menschliche Talfahrt eines gefühlsbehinderten Mannes, lehnt sich diesmal an historisch verbürgtes Geschehen an. Greg Kinnears Darstellung des dauergrinsend-verlogenen, immergeil-weibstollen, fick- und videobesessenen TV-Stars Bob Crane (beliebter Darsteller der Sixties-Sitcom »Hogan’s Heroes«), eines inwendig vereinsamten Typen, der sein ganzes Leben lang nichts rafft und noch als Leiche glaubt, daß Männer einfach nur Spaß haben sollten, hat seltene, abgründige Größe. Willem Dafoe gibt die falschlächelnde Nemesis des erotomanen Antihelden so reptilienhaft-unheil­schwanger, wie man es von ihm erwarten darf. »Auto Focus« ist eine klaustrophobische Charakterstudie über Sucht, Entfremdung und totalen Ich-Verlust, eine bitter-komische Tragödie ohne Katharsis.

2007 | »The Walker«

Schrader liefert eine Um- und Neuinterpretation seines ewigen lonely drifter als näseln­der fifty-something mit toupetverbrämter Halbglatze. Nach dem »Taxi Driver« (to drive!) Travis Bickle, dem »American Gigolo« Julian Kay (ein ›K‹ à la Kafka), dem »Light Sleeper« John Le Tour (tour = Reise, Fahrt) nun also »The Walker«. Nach N.Y. und L.A. diesmal Washington D.C. Nach urbaner Gewalt, Prostitution und Drogen nunmehr Politik. Im Grunde immer wieder der gleiche Film – immer wieder ein Mann allein in der Welt, alleine gegen die Welt. Carter ›Car‹ Page III – künstlich bis zur Echtheit gespielt von Woody Harrelson –, unwürdiger Sproß einer Dynastie von Stützen der Gesellschaft, gerät in den Strudel einer Intrige, die ihn Freiheit und Ehre (ja, die hat er) kosten könnte. Aber Car (»I’m not naïve ... I’m super­ficial.«) wartet nicht auf Erlösung, er wehrt sich: Der schwule Verächter und scharfzüngige Profiteur des Systems wird zum letzten Moralisten im Sumpf der Interessen ... Eher um ihn herum als an seiner Seite: Kristin Scott Thomas, Lily Tomlin, Lauren Bacall – die Schranzen und Parzen des Politbetriebs. Ein seltenes Vergnügen, ihnen allen beim oberflächlich-hintergründigen Tun zuzuschauen.