8. Januar 2023

Standbild (25)

Schienen

Außen. Bahnstrecke. Tag. Von einem nebelhaften Himmel überwölbt verläuft die eingleisige Trasse schnurgerade zwischen zwei grasbewachsenen Dämmen, zur Linken flankiert von einer Reihe schlanker hölzerner Telegrafenmasten, zur Rechten eingewachsen von niedrigem Gebüsch, aus dem ein junger, winterlich unbelaubter Baum ragt. Auf dem Gleiskörper, genauer gesagt auf den Bahnschwellen, steht ein kleiner Mann mit dünnem, seitlich gescheitelten Haar, der einen kastigen, zweireihigen Wintermantel aus schwerem Fischgrätstoff trägt. Den breiten Kragen des Kleidungsstücks gegen die offensichtlich herrschende Kälte bis unter die Ohren hochgeschlagen, hat der Mann seine linke Hand tief in der Manteltasche versenkt, während er die rechte vor das faltenzerfurchte Gesicht hält, so als wolle er seine sowieso geschlossenen Augen vor einem schrecklichen Anblick bewahren. Indessen nähert sich von hinten, aus der Tiefe des Raumes heranrasend, eine rußgeschwärzte Dampflokomotive. Ihrem Schlot entsteigt dichter weißer Rauch, ihre gewölbten Windleitbleche scheinen den auf den Schienen stehenden Mann, einen Arzt, der vor Jahren unter bedrückenden Umständen im Affekt zum Mörder an der Geliebten wurde, der später denjenigen, welcher ihn mutmaßlich ins Verderben trieb, kaltblütig ums Leben brachte, sie scheinen diesen von den Zeitumständen zum Monster Gemachten, der nun selbst den erlösenden Tod erwartet, gleichsam liebevoll zu umarmen.

7. Januar 2023

Standbild (24)

Kikeriki

Innen. Revuelokal. Nacht. Den kleinen, mit Schiffstauen dekorierten Saal bevölkert ein sehr gemischtes Publikum: gutbürgerliche Herren mittleren Alters, Arbeiter, Seeleute, Gaunertypen, dazwischen einige Frauen, manche damenhaft, die meisten eher proletarisch wirkend, mit gebrannten Locken und tiefen Blusenausschnitten. Ein Teil der Zuschauer sitzt auf Kaffeehausstühlen an Tischen, die schier überquellen von halbvollen Gläser und Bierschalen, die anderen betrachten das Bühnengeschehen stehend, mit gereckten Köpfen, die Körper aufmerksam vorgebeugt. Das Podium wird gerahmt von zwei filigranen Beistelltischen mit Fransendecken, das linke trägt einen Henkelkorb, eine Ballonflasche und ein Metallgefäß, über das ein zerbeulter Zylinderhut gestülpt ist, auf dem rechten liegt ein Haufen von einfarbigen Stoffen und Kleidungsstücken. Vom Schnürboden hängen drei große Anker herab, den Hintergrund der Szene bildet ein gebauschter Voilevorhang, hinter dem schemenhafte Lichter zu erkennen sind, die möglicherweise ein überdimensioniertes Gesicht mit fächerförmigem Kopfputz darstellen, vielleicht auch eine nächtliche Großstadt mit erleuchteten Fenstern. In der Bühnenmitte stehen nebeneinander zwei etwa gleichgroße Männer, beide von einer gewissen Korpulenz gekennzeichnet. Links produziert sich ein etwas schmieriger Elegant um die vierzig mit stolzgeschwellter Brust und feistem Gesicht. Auffallend sind seine prallen Wangen, die fleischigen Lippen und der boshaft stechende Blick. Er trägt einen schwarzen Frack, schmal geschnittene Hosen, spitze Schuhe, Weste, weißes Hemd, weißen Binder und einen hochglänzenden Zylinder. In seiner erhobenen rechten Hand hält er ein Hühnerei. Der andere, etwa zehn Jahre ältere, Mann ist bekleidet mit einem unförmigen, knielangen Kittel und schlackernden Hosen aus kleinkariertem Stoff, tütengroßen Manschetten und einem riesigen steifen Kragen, der mit einer absurd kleinen Fliege zusammengebunden ist. Aus dem Kragen ragt ein kugelförmiger, grotesk geschminkter Kopf mit Halbglatze und zerzaustem Haarkranz, Knebelbart und angeklebter dicke Nase. Dieser traurig vor sich hinstarrende Clown unterrichtete einstmals als Professor an einem Gymnasium, bevor er einer Tingeltangelsängerin verfiel, diese heiratete und seinen Beruf aufgab, um sich der reisenden Varieté-Truppe anzuschließen. Zu einem Gastspielauftritt in seine Heimatstadt zurückgekehrt, muß sich die ehemalige Autoritätsperson nun vor den früheren Mitbürgern ein rohes Ei an die Stirn schlagen lassen und hat, solchermaßen gedemütigt, einen Hahnenschrei zu imitieren.

5. Januar 2023

Märchen aus der Wirklichkeit (Nachtrag)

Noch ein Meisterwerk von Rudolf Thome (Regie) und Max Zihlmann (Buch)

Vor langer Zeit habe ich über drei Filme von Thome und Zihlmann geschrieben (hier) – heute geht es um ein weiteres Werk des Gespanns, mit dem die fruchtbare Zusammenarbeit zu einem vorläufigen Abschluß kam. Der Text versteht sich auch als kleines Memento für Roger Fritz und Max Zihlmann, zwei Protagonisten der »Münchner Schule«, die beide unlängst verstorben sind.
 

1972 | »Fremde Stadt«

»Man with a million – but what to do?« Ein Mann (Roger Fritz) kommt mit dem Intercity am Münchner Hauptbahnhof an. Souverän bewegt er sich durch die Menge, groß, gutaussehend, mittellanges Haar, Trenchcoat. Er nimmt ein Taxi und läßt sich zu einem Hotel fahren. Es ist ihm egal, wo er wohnt: »Ich bin fremd hier.« Den Koffer trägt er lieber selbst aufs Zimmer. Darin sind zwei Millionen D-Mark, die Beute eines Banküberfalls in Düsseldorf. Der Mann – ein gewesener stellvertretender Filialleiter, der den eigenen Tod im Indischen Ozean inszenierte – betrachtet sein Gesicht im Spiegel und sagt zu sich: »Philipp ... Philipp Kramer. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.« Der Mann begibt sich auf die Suche nach einer Frau, Sybille Lerchenfeld, seiner Verflossenen (Karin Thome), die ihn unter dem Namen Franz kannte. Er trifft sie mit dem gemeinsamen Sohn vor einer Schule. Sie fragt: »Phlipp Kramer – wer ist das?« Er antwortet: »Ein Mann mit Zukunft.« ... Eine B-Film-Variation in Schwarzweiß und CinemaScope, ein ironisch-saloppes Spiel mit Motiven und Settings, mit Klischees und Schablonen, ein Kriminalfilm ohne vordergründigen Thrill (»Würdest du auf jemanden schießen?« – »Das kann man vorher nicht sagen.«), ein Beziehungsfilm ohne menschliches Drama (»Na, du Bankräuber.« – »Gangsterbraut!«), ein Genrefilm ohne gattungsmäßige Festlegung (»Das ist alles zu viel für mich.« – »Für mich auch.«). Thome und Zihlmann erzählen einerseits trocken, fast emotionslos registrierend, andererseits voller Lust auf Abschweifungen, mit aller Zeit der Welt für Randbeobachtungen und Nebenfiguren, wie etwa den Zimmerkellner, der eigentlich Schauspieler werden wollte, die Barbekanntschaft, die Captagon einwirft, um beim Flirten nicht einzuschlafen, den Untermieter, der Zierfische züchtet und damit eines Tages reich zu werden hofft. Verwicklungen ergeben sich durch weitere (mehr oder weniger schrullige) Personen, die dem Raubgut nachjagen: ein Kriminalbeamter, der Spekulationsschulden zu begleichen hat, ein anderer Polizist, der von einer Weltumseglung träumt, ein Gaunerpärchen, das im Porsche Ralleys fahren will. Geld als Projektionsfläche für Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte, als Treibstoff für Verwandlungen: »Ich bin ein anderer«, erkennt Philipp alias Franz, der als neuer Mensch in Liebes- und Lebensdingen an früher anknüpfen kann, ohne in alte Muster zurückzufallen. Als es nach einer Verfolgungsjagd durch die labyrinthische B-Ebene unter dem Stachus zum Showdown auf der benachbarten U-Bahn-Baustelle kommt, wirkt das Geld gar als mirakulöser Impulsgeber für eine (zunächst im kleinen Kreis erprobte) soziale Utopie: »Warum teilen wir nicht?« – »Ja, warum nicht?« – »Wir fangen am besten mit den großen Scheinen an.«