22. Juni 2017

Schwarz sehen (1)

Drei Filme von Alain Corneau

Alain Corneau wurde 1943 in Meung-sur-Loire, einer Kleinstadt in der Nähe von Orléans, geboren. In seiner Jugend spielte er Schlagzeug in diversen Jazzformationen, später absolvierte er ein Studium an der Pariser Filmschule IDHEC. Nach einer Zeit als Regieassistent (unter anderem bei Costa-Gavras und Nadine Trintignant), debütierte Corneau 1974 mit dem gesellschaftskritischen Science-Fiction-Film »France Société Anonyme« als Regisseur. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden, neben Historiendramen und Romanadaptionen, psychologische Thriller und Gangsterfilme. Corneau starb 2010 in Paris.

1976 | »Police Python 357« (»Im tödlichen Kreis«)

In und um Orléans jagt Inspektor Marc Ferrot (»tout seul, toujours«: Yves Montand) den Mörder seiner Geliebten, die (was er nicht weiß) auch die Geliebte seines Chefs, Kommissar Ganey (François Périer), war, der (ohne seinerseits die Identität des Nebenbuhlers zu kennen) aus Eifersucht zum Gewaltverbrecher wurde; das fatale Problem des Inspektors: Spuren, Hinweise, Aussagen lassen ihn selbst unter Tatverdacht geraten ... Basierend auf Kenneth Fearings Roman »The Big Clock« (der schon die Vorlage zu John Farrows gleichnamigem film noir von 1948 lieferte), mit gestalterischen Anklängen an die eisigen Stilübungen von Jean-Pierre Melville, aber auch an die kriminalistischen Sozialstudien eines Claude Chabrol, untermalt von Georges Delerues düster-dissonanten Chorälen, gestaltet Alain Corneau nicht nur ein intensives Spannungsdrama sondern vor allem eine Galerie eindrücklicher Charakterporträts: Ferrot, ehemaliger Heimzögling, ein Waffenfetischist, der für seinen Colt Python hingebungsvoll die .357er-Kugeln gießt, ein Loner, dem die Begegnung mit der offensiven Sylvia (Stefania Sandrelli) unversehens eine Ausflucht aus seiner unpersönlichen Existenz zu eröffnen scheint; Ganey, nach außen hin das Musterbild des korrekten Beamten, ein kultivierter Schizophrener, der sich im Gefühlslabyrinth seines Doppellebens verliert; schließlich Ganeys gelähmte Gattin Thérèse (Simone Signoret), Erbin eines stattlichen Vermögens, die nolens volens alle Geheimnisse ihres Mannes teilt, erbarmungswürdiges Symbol einer seelisch und emotional versteinerten Bourgeoisie. »Police Python 357«: Protokoll einer vertrackten Ermittlung, kalt-obsessives Sittenbild, Darstellung eines erbitterten Kampfes, der keinen Gewinner kennt.

1977 | »La menace« (»Lohn der Giganten«)

Beschreibt »Police Python 357« die verzweifelte Bemühungen eines unter Mordverdacht Geratenen, seine Unschuld zu beweisen, schildert »La menace« (≈ die Bedrohung) den Versuch eines Mannes, seine Geliebte von dem Verdacht zu entlasten, ein Verbrechen begangen zu haben, das nie stattgefunden hat: Nachdem sich der Ex-Trucker Henri Savin (Yves Montand) von seiner langjährigen Lebensgefährtin Dominique (Marie Dubois) getrennt hat, fällt diese in eine Depression und bringt sich schließlich um – ein Suizid, der wie ein Mord aussieht, für den Savins neue Freundin Julie (Carole Laure) zur Rechenschaft gezogen werden soll. Savin, Alleinerbe der Verstorbenen, legt Spuren, die ihn als Täter ausweisen, und setzt sich nach Kanada ab, um dort, in einem risikoreichen Befreiungsmanöver, seinen Tod zu inszenieren und ein neues Leben zu beginnen … Alain Corneau knüpft zunächst mit geduldiger Akribie das fatale Netz der irreführenden Hinweise, der falschen Schlüsse, der schicksalhaften Bedrängnisse, um im letzten Viertel des Films ein furioses Actionfinale zu entfesseln, das einen Vergleich mit kinematographischen Vorbilder wie Henri-Georges Clouzots »Le salaire de la peur« und Steven Spielbergs »Duel« nicht zu scheuen braucht. Gerry Mulligans bald lyrisch-introspektiver, bald fiebrig-nervöser Jazz-Soundtrack begleitet und treibt das heikle Geschehen bis zur sarkastischen Pointe.

1979 | »Série noire«

»Nous serons, toi et moi, les plus riches du monde.« Eine schlammige Brachfläche, irgendwo in der Pariser Banlieue, im Hintergrund Kräne und seelenlose Wohnblocks. Ein junger Mann im Trenchcoat steigt aus seinem Simca und improvisiert unter regenschwerem Himmel eine sonderbare Choreographie, spielt mit sich selbst Räuber und Gendarm, mimt zu den Klängen von Duke Ellingtons »Moonlight Fiesta« einen leidenschaftlichen Musiker, einen mondänen Tänzer, einen galanten Liebhaber. Der Prolog des Films gibt einen Vorgeschmack auf die Rollenspiele, die Franck Poupart, genannt »Poupée« (frenetisch: Patrick Dewaere), im Lauf der folgenden schmutzig-bizarren Geschichte darbieten wird. Franck ist ein Mann am Rand – am Rand der Stadt, am Rand der Gesellschaft, am Rand des Nervenzusammenbruchs; unterwegs als Handelsvertreter des Kaufmanns Staplin (aasig: Bernard Blier), gefangen in einer heruntergekommenen Ehe, trifft er eines Tages auf Mona (somnambul: Marie Trintignant), eine Halbwüchsige, die von ihrer schmierigen (und überraschend begüterten) Tante als Prostituierte gehalten wird – die ebenso lebhafte wie klägliche, zwischen Ekel und Ekstase schwankende Beziehung der beiden führt fast unweigerlich zu (Raub-)Mord und Totschlag ... Alain Corneau inszeniert Georges Perecs freie Adaption des Jim-Thompson-Romans »A Hell of a Woman« als pechschwarze Komödie, als hysterische Genreparodie, als galgenhumorige soziologische Betrachtung, als bis zur Kenntlichkeit verzerrtes Zeitbild voller Gewalt und Niedertracht. Aus Transistorradios plärren fröhliche Schlager und beschwingte Chansons von Boney M. und Gérard Lenorman, von Dalida und Sacha Distel, während Francks kaputte Welt restlos in Stücke fällt. Immerhin scheint im Totalverlust so etwas wie eine letzte Hoffnung auf: »On a plus rien à craindre, maintenant.«

8. Juni 2017

Standbild (15)

Indien

Innen. Speisesaal eines Palastes. Nacht. Auf dem weißen Marmorboden steht ein Behältnis in der Art eines großen Wäschekorbes mit annähernd ovaler Grundfläche, leicht ausgewölbten Seiten und flachem Deckel. Das Behältnis ist ringsum mit hellem grüngrauen Stoff bezogen, um seine untere Kante zieht sich ein zopfartig geflochtenes strohfarbenes Band. Zwei dünne Lederriemen, welche um die an den Schmalseiten befindlichen Handgriffe geschlungen sind, verschließen den Deckel. Insgesamt fünf Säbel mit goldschimmernden Beschlägen an den schwarzen Griffen und leicht gebogenen silberglänzenden Klingen, in denen sich die Lichter des Saales spiegeln, durchdringen das Behältnis in verschiedenen Richtungen: zwei der Stichwaffen bohren sich vom hinteren Rand des Deckels diagonal zur mittleren Höhe der Vorderseite, zwei weitere stoßen darunter von der mittleren Höhe der Rückseite zur unteren Kante der Vorderseite, der fünfte Säbel durchsticht das Behältnis waagerecht von der linken zur rechten Schmalseite. An der vorderen linken Rundung der geflochtenen Bodenkante sickert aus dem Behältnis eine grellrote Flüssigkeit, die eine tellergroße Lache auf den Marmorfliesen bildet. Es handelt sich um das Blut einer jungen Dienerin, die infolge einer am Hofe des Maharadschas gesponnen Intrige ihr Leben bei einem absichtsvoll mißglückenden Fakirkunststück lassen mußte.