27. Oktober 2016

Das war nur ein Moment

Manfred Krug 1937 / 2016

Störche zogen südwärts in die wärmere Welt.
Unser grünes Schilf am See verfärbte sich gelb.
Dann der Schnee ...


Fünf Lieblingsrollen:

• als jazzender Stahlschmelzer Martin Hoff in Ralf Kirstens »Auf der Sonnenseite« (1961)

• als unangepaßter Ingenieur Tom Breitsprecher in Ralf Kirstens »Beschreibung eines Sommers« (1963)

• als aufmüpfiger Brigadier Hannes Balla in Frank Beyers »Spur der Steine« (1966)

• als donjuanesker Fernfahrer Fred Stein in Roland Oehmes »Wie füttert man einen Esel« (1974)

• als götterspeiselöffelnder Rechtsanwalt Robert Liebling in Jurek Beckers »Liebling Kreuzberg« (1986 ff.)

... Erster Mai: Ich suche dein Gesicht
am Marx-Engels-Platz. Ich find es nicht.

25. Oktober 2016

Standbild (14)

Retorte

Innen. Salon. Nacht. Auf dem Boden des großen Raumes liegen dezent gemusterte Teppiche, klassizistisch anmutende Malereien und Stukkaturen schmücken die Wände. Rechts steht ein Schreibtisch im Stil des Rokoko mit einem dazu passenden stoffbezogenen Armlehnstuhl. Dahinter erlaubt eine offenstehende zweiflügelige Fenstertür den Blick über eine Terrasse in einen südlichen Garten. Im Hintergrund des Salons, zwischen einer mit gerafften Portieren verbrämten Kaminnische sowie einem deckenhohen Wandspiegel und dem verschlossenen Durchgang ins Nebenzimmer, sind auf einem üppig geschnitzten Konsolentisch mit exaltiert gebogenen Beinen in symmetrischer Anordnung zwei Kerzenleuchter und eine weiße Urnenvase aufgestellt. Darüber hängt ein bronzener Lüster, dessen geschwungene Arme elektrifizierte Kerzen tragen. Weiter links ist eine bauchige, mit polierten Beschlägen besetzte Kommode plaziert. Auf der Marmorplatte des dunklen Möbels steht mittig eine Figurengruppe aus Porzellan, die zwei identische birnenförmige Prunkvasen mit girlandenartigen Henkeln und kleinen Deckeln flankieren. Ebenfalls auf der linken Seite des Raumes bescheint eine Stehlampe mit hell bezogenem Schirm einen Diwan, der mit einem einfarbigen Überwurf und einer großen Menge von bestickten, rüschenbesetzten Kissen in verschiedenen Formen bedeckt ist. Auf dem Tagesbett lagert, den leicht erhobenen Oberkörper auf die angewinkelten Unterarme gestützt, eine schlanke, etwa zwanzigjährige Frau. Sie trägt einen eng um den Kopf gebundenen Turban, lange Perlenohrhänger sowie eine halsnahe Kette mit einem runden, in Brillanten gefaßten Medaillon. Der von glitzernden dünnen Straßbändern eingesäumte v-förmige Ausschnitt ihres schulterfreien Abendkleides läßt den Ansatz ihrer Brüste erkennen, deren aufgerichtete Warzen sich deutlich unter dem Stoff abzeichnen. Die übereinandergelegten Füße stecken in spitzen Pumps mit kreuzweise über den schmalen Spann gezogenen Riemchen. Kopfbedeckung, Kleid und Schuhe der Frau sind sämtlich aus schimmernder weißer Seide gefertigt. Aus lasziv halbgeschlossenen Augen blickt die schöne Liegende auf den älteren stämmigen Mann im nachtschwarzen Gesellschaftsanzug, der neben ihr auf der Seitenkante des Diwans sitzt. Sein dichtes welliges Haar ist aus der breiten Stirn gekämmt, schlitzförmige Augen und hohe Wangenknochen verleihen ihm ein beinahe asiatisches Aussehen. In der Hand seines ausgestreckten rechten Armes hält er ein silbernes Feuerzeug, mit dem er die von den leicht geschürzten Lippen der Frau gehaltene Zigarette entzündet. Der Mann, ein weltberühmter Gelehrter, eine Kapazität der Kreuzung von Erbanlagen, betrachtet sein aufreizendes Gegenüber mit finsterem Gesichtsausdruck. Noch ahnt er nicht, daß die junge Frau, die er als seine Tochter ausgibt, kurz zuvor das Geheimnis ihrer wahren Herkunft ergründet hat. Im Laboratorium des vermeintlichen Vaters als Kind eines Gehenkten und einer Dirne künstlich gezeugt, ist sie das Ergebnis des Versuchs, einen mittelalterlichen Aberglauben wissenschaftlich zu erforschen und dabei ein Wesen zu erschaffen, dessen ererbte Eigenschaften nicht durch die Gefühle der Eltern gestört werden. Die solchermaßen experimentell in die Welt Gesetzte hat geschworen, sich an ihrem Schöpfer zu rächen, indem sie ihn durch ein kaltblütig inszeniertes Wechselspiel von Verlockung und Versagung langsam um den Verstand bringt und seelisch zugrunde richtet.

11. Oktober 2016

Standbild (13)

Wissenschaft

Innen. Operationssaal. Nacht. Die makellos weißen Wände und der spiegelnde Linoleumboden verleihen dem hohen fensterlosen Raum eine sterile Atmosphäre. Auf der linken Seite befinden sich eine mehrteilige elektronische Schaltanlage, ein Wandschrank mit gläsernen Türen, im dem sich zahlreiche Flaschen auf schmalen Regalböden reihen, außerdem ein emailliertes Kontrollpult mit einer Vielzahl von Knöpfen und Reglern sowie ein kühlschrankgroßes Aufzeichnungsgerät, dessen breite schlitzartige Öffnung einen mit mehreren parallellaufenden Meßkurven bedruckten Papierstreifen ausgibt. Rechts steht ein etwa zwei Meter hoher, organisch gebogener Wandschirm aus halbtransparenten senkrechten Kunststofflamellen. Dahinter ist schemenhaft ein höhenverstellbarer Operationstisch zu erkennen, über dem eine halbkugelförmige, innwandig verspiegelte Lampe hängt. Die Mitte des Raumes beherrscht eine komplizierte technische Installation, deren Zentrum ein doppelstöckiges Gestell aus dünnem runden Stahlrohr bildet. Die filigrane Etagere umgeben zwei Gasflaschen und drei Stangen, an denen zylindrische, mit unterschiedlichen Substanzen gefüllte Infusionsgefäße befestigt sind. Das untere Fach des offenen Gestells enthält einen quaderförmigen Glaskasten, in dem eine wasserklare Flüssigkeit sprudelt. Dutzende von durchsichtigen Schläuchen in verschiedenen Stärken verbinden die diversen Behältnisse sowie ein bogenförmig über die obere Platte der Etagere ragendes Gebilde in der Form eines Brausekopfs mit dem in einer viereckigen Gummimanschette ruhenden Kopf eines Mannes von ungefähr siebzig Jahren. Struppige graue Haare umrahmen die fleischigen Gesichtszüge, ein kräftiger Schnauzbart überwölbt den zum Schreien geöffneten Mund. Aus aufgerissenen Augen betrachtet er sich selbst, das heißt sein vom Körper abgetrenntes Haupt, in einem hohen rechteckigen Spiegel. Links neben dem Spiegel steht, mit einem weißen Arztkittel bekleidet, ein blonder Mann mit markanten Augenbrauen, der zufrieden lächelnd auf den schreienden Kopf blickt. Der Mann in Weiß ist etwa halb so alt wie das willenlose Objekt seines Experiments, ein genialer Wissenschaftler, dem es gelungen war, den vom Rumpf geschiedenen Kopf eines Hundes in der von ihm konstruierten, mit einer Nährlösung namens »Serum Z« gespeisten Apparatur über mehrere Monate hinweg am Leben und bei Bewußtsein zu erhalten, und der nun am eigenen Leib das nämliche Schicksal erfährt.

10. Oktober 2016

Ewige Wiederkehr

Kino | »Miss Peregrine's Home for Peculiar Children« von Tim Burton (2016)

Ein (gar nicht so durchschnittlicher) Durchschnittsjunge unterstützt eine Gruppe von Kindern mit besonderen Fähigkeiten, die sich, unter der Obhut einer sehr verwandlungsfähigen Dame, in einer Zeitschleife vor den Nachstellungen von Monstren mit einem unstillbaren Appetit auf Augen verstecken ... Absurde Handlungsvorwürfe haben Tim Burton einstmals, von »Edward Schissorhands« bis »Sleepy Hollow«, nicht daran gehindert, außergewöhnliche Werke zu schaffen; seit geraumer Zeit scheint er sich jedoch damit zufriedenzugeben, die visuellen und erzählerischen Bausteine seiner Vorstellungswelt – mit mehr oder weniger Anstrengung – hin- und herzuräumen, wie ein Altwarenhändler, der immer mal wieder die Kuriositäten in der Auslage umstellt, um der Kundschaft den Anschein eines erneuerten Angebotes vorzugaukeln: die pastellfarbene Vorstadt und das viktorianische Spukhaus, der junge Mann ohne Freunde und die Flucht in eine düstere Fantasie. »Miss Peregrine's Home for Peculiar Children« gehört zu den gelungeneren Exemplaren dieser Arrangements (zumal Johnny Depp einmal nicht mit von der Partie ist, die extravagante Eva Green an den Lisa-Marie-Spirit vergangener Tage anknüpft und Samuel L. Jackson eine wirklich amüsante Spukgestalt abgibt), doch der beschriebene Zustand des Gefangenseins in einem time loop, der für die Eingeschlossenen gleichermaßen Fluch und Segen bedeutet, wirkt wie ein unbewußter (?) Hinweis auf Burtons eigene künstlerische Situation.

Tage und Nächte eines Genies

DVD | »Saint Laurent« von Bertrand Bonello (2015)

Die Filmgeschichte kennt einige dieser merkwürdigen Duplizitäten: 1955 brachten G. W. Pabst und Falk Harnack gleichzeitig die Ereignisse des 20. Juli 1944 auf die Leinwand, Ende der 1980er Jahre nahmen sich Stephen Frears und Milos Forman simultan die »Liaisons dangereuses« vor, und kürzlich nun: »Yves Saint Laurent« und »Saint Laurent«, zwei parallel produzierte Filme über Leben und Zeit des 2008 verstorbenen großen Modeschöpfers. Begnügt sich Jalil Lesperts Werk – hergestellt mit Unterstützung und Segen des Saint-Laurent-Lebensgefährten, -Geschäftspartners und -Erben Pierre Bergé – weitgehend mit dem braven Abklappern einiger biographischer Eckpunkte, versucht Bertrand Bonello etwas Interessanteres: in as- und dissoziativen erzählerischen Rück- und Voraussprüngen entwirft er das Portrait eines von seinen Dämonen gehetzten Jahrhundertkünstlers. »Begabt sein: Immer! / Genie: Nein danke! / Talent: Der Gesunde. / Genie: Das Kranke.« schrieb Robert Gernhard, und Bonello zeigt anschaulich, was es heißt (und wie anstrengend es für alle Beteiligten ist), ein Genie zu sein: rauschhafte Kreativexplosionen, Schußfahrten in die Depression, gesteigerte Sensibilität, Drang zur  Selbstzerstörung, ekstatisches Verschmelzen, totale Einsamkeit. Im Rennen gegen Lespert hat Bonello auch durch die Auswahl der Schauspieler die Nase vorn: wo der feingliedrige Pierre Niney in der Titelrolle vor allem durch verblüffende Ähnlichkeit überzeugte, bringt Gaspard Ulliel eine triebhaft-erotische Note in die Darstellung ein, die, statt lediglich eine deviante Sexualität auszumalen, das Wesen von Saint Laurents Schöpferkraft erhellt, etwa wenn der Meister im Ankleideraum eine spröde Kundin (Valeria Bruni Tedeschi) gleichsam umtanzt und auflockert; Louis Garrel spielt YSLs große Liebe und Nemesis Jacques de Bascher mit der Laszivität eines verführerischen Höllenprinzen und Helmut Berger, der mit abgefuckter Grandezza den alten Saint Laurent verkörpert, steuert gleich seine eigene Legende bei: die Szene, in der sich der retirierte Couturier im Fernsehen Viscontis »Die Verdammten« mit dem jungen Helmut Berger ansieht, ist kein bloßer Cineasten-Gag sondern eine melancholische (Selbst-)Reflexion über die Vergänglichkeit von Schönheit und Ruhm. Nur der Schlußsequenz ist anzumerken, was es bedeutet, einen Saint-Laurent-Film ohne die Zustimmung des Lordsiegelbewahrers Bergé zu machen: der finalen Modenschau fehlen schlichtweg der Reichtum, die Dichte, der Luxus – da helfen auch keine Splitscreen-Montagen. Ein originelleres Kinostück als Lespert ist Bonello aber allemal gelungen.

6. Oktober 2016

Standbild (12)

Schiffbruch

Außen. Meer. Tag. Die leicht bewegte Wasseroberfläche breitet sich bis zum fernen Horizont unter einem milchig bedeckten Himmel. Inmitten der Wellen treibt das etwa drei mal drei Meter großes Bruchstück einer hölzernen Kajütenverkleidung. Auf der rechten Seite der in leichter Schräglage schwimmenden Fläche ragen die spärlichen Reste der zerborstenen Bodenbeplankung empor. Am anderen Rand des behelfsmäßigen Floßes liegt, neben einer kreisrunden Fensterluke, ein dunkelhaariger junger Mann mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ein locker um den Bauch geschlungenes Schiffstau sichert den reglosen Körper gegen das Hinabgleiten ins Wasser. Die Kleidung des Mannes ist schmutzig und durchnäßt. Faustgroße Löcher durchziehen seinen ärmelloser Wollsweater, unter zerfetzen Hosenbeinen schauen seine bloßen Füße hervor. Ohne Versorgung mit Trinkwasser und Proviant gibt es für den einzigen Überlebenden der Besatzung eines schrottreifen Frachters, der von den Eignern in der Absicht, die Versicherungssumme zu kassieren, auf hoher See versenkt wurde, keine Aussicht auf Rettung.