21. April 2014

Pierre et son Yves

Kino | »Yves Saint Laurent« von Jalil Lespert (2014)

Von Yves Saint Laurents Impressario und Lebensgefährten Pierre Bergé unterstützt und autorisiert, bebildert Jalil Lespert nicht ohne Geschmack diverse Episoden aus der bewegten Biographie eines der bedeutendsten Couturiers des 20. Jahrhunderts. Für Kreativität und Mode interessiert sich der Regisseur dabei nur in dem Maße, wie sie die ausgiebige Darstellung der manisch-depressiven Schübe, der Partyexzesse und der Beziehungsprobleme des prominenten Genies nicht stören. Über den herausragenden künstlerischen Stellenwert des Porträtierten informiert eine Schrifttafel am Ende des Films.

16. April 2014

Offenbarungen des Johannes

Die Simmel-Filme der siebziger Jahre

Johannes Mario Simmel (1924–2009) war einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit – weltweite Gesamtauflage: über 70 Millionen. Geboren und aufgewachsen in Wien, veröffentlichte Simmel Ende der vierziger Jahre erste literarische Arbeiten, in den fünfziger Jahren schrieb er Reportagen und Fortsetzungsromane für die Illustrierte »Quick« und verfaßte, häufig zusammen mit dem ehemaligen Brecht-Mitarbeiter Emil Burri, rund 20 Drehbücher. 1960 gelang Simmel der Durchbruch als Schriftsteller: mit dem Schauspiel »Der Schulfreund«, einer Auftragsarbeit für das Nationaltheater Mannheim, die an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland nachgespielt wurde, vor allem aber mit dem modernen Schelmenroman »Es muß nicht immer Kaviar sein«, der schon kurz darauf, mit O. W. Fischer in der Hauptrolle, als Zweiteiler fürs Kino adaptiert wurde. In der Folge erschien durchschnittlich alle zwei Jahre ein neuer Simmel-Roman, allesamt Bestseller, immer nach der gleichen Erfolgsformel gestaltet: Verarbeitung von zeitgeschichtlich brisanten Themen mit Mitteln des Krimis und des Melodrams. Der Münchner Produzent Luggi Waldleitner sicherte sich die Filmrechte an Simmels Werken und brachte ab 1971 in rascher Folge sieben Adaptionen heraus, wobei er auf einen festen Stamm von Mitarbeitern setzte: Die Regie übernahm, mit einer Ausnahme, Alfred Vohrer; sämtliche Drehbücher schrieb Manfred Purzer; Charly Steinberger führte sechsmal die Kamera; Erich Ferstl schrieb fünfmal die Musik; Darstellerinnen und Darsteller wie Judy Winter, Doris Kunstmann, Herbert Fleischmann, Klaus Schwarzkopf, Konrad Georg und Maurice Ronet wurden jeweils in mehreren Filmen besetzt.

1971 | »Und Jimmy ging zum Regenbogen« von Alfred Vohrer

Der junge Argentinier Manuel Aranda (Alain Noury) geht in Wien auf die Spur des Mordes an seinem Vater (einem wohlhabenden Wissenschaftler, der eine brisante Erfindung machte) und verliebt sich in die schöne Nichte (Doris Kunstmann) der durch Suizid abgeschiedenen Täterin … Simmels gewiefte literarische Masche, mittels schmalziger Kolportage vom unterhaltsamen Hölzchen aufs gesellschaftskritische Stöckchen zu kommen und damit das verbrecherische Gestern im unbekümmerten Heute zu entlarven, hat der kon­genialische Alfred Vohrer mit viel Fischauge und noch mehr Vaseline auf der Linse (Kamera: Charly Steinberger) in spleeniges Kinoentertainment transferiert. »Und Jimmy ging zum Regenbogen« handelt gleichzeitig vom Schicksal eines fanatisch-faschistischen Halbjuden­jungen im Wien der Nazizeit sowie von der Formel eines massenvernichtenden chemischen Kampfstoffs, hinter der alle Groß­mächte (und solche, die sich dafür halten) im Wien der erzählerischen Gegenwart geheim­dienst­lich her sind. Vohrers comichafte Größe zeigt sich, wenn er die konkurrierenden Spione (Peter Pasetti, Heinz Baumann, Herbert Fleischmann) ganz einfach mittels entsprechender Fähnchenwimpel auf ihren Schreibtischen kennzeichnet. Dazu gibt es Judy Winter als unsterbliche Luxushure (und ewige Doppelagentin), Horst Frank als verliebten SD-Schergen, Horst Tappert als patenten Winkeladvokaten, Ruth Leuwerik als biedere Buchhändlerin (und Rächerin, die ein halbes Leben auf die passende Gelegenheit wartet). Ganz und gar nicht zu vergessen: der märchenhaft-lyrische Score von Erich Ferstl, der die simmelgemäß tragisch endende Liebesbeziehung zwischen den jungen Leuten unter- oder auch übermalt.

1971 | »Liebe ist nur ein Wort« von Alfred Vohrer

Eine düstere Burgruine. Strömender Regen. Eine Leiche wird abtransportiert. Schaulustige unter schwarzen Schirmen. In einer Pfütze schwimmen die Fetzen eines zerrissenen Briefs. »Liebe ist nur ein Wort«, steht in zerlaufender Schrift auf einem der Schnipsel. Auftakt zu einem süffigen Melodram … Oliver, 21, verspäteter Abiturient, charmanter Taugenichts, Sohn eines gesuchten Wirtschaftkriminellen, der mit seinen Spekulationen zu fabelhaftem Reichtum gekommen ist, verliebt sich (ernsthaft!) in die zehn Jahre ältere Verena, Gattin eines Geschäftspartners (= Komplizen) seines Vaters. Wenn auch die sozialkritischen Implikationen des Stoffes eher als modisches Dekorum dienen, entwirft der Film das Aufgehen im großen Gefühl wie ein Gegenprogramm zur schäbigen Welt des Profits und der Kabale. Eine Chance auf Erfüllung des Traumes wird freilich nicht gewährt: Zwar gönnen Simmel und Regisseur Alfred Vohrer den füreinander entbrannten Protagonisten, dem jugendfrisch-hitzigen Mann und der befangen-aufgewühlten Frau (gespielt von Malte Thorsten und Judy Winter) Momente des schablonierten Glücks (sommerliche Blumenwiese, verlassener Bergfried, luxuriöses Hotelzimmer), doch letztlich bleiben dem, der nicht mitspielt, der die gesellschaftlichen Machenschaften nicht akzeptiert, nur der Weg in die Klapsmühle (wie etwa Olivers Mutter die in ihrer Umnachtung frappierende Gedichte schreibt: »Das Leben ist überraschend, / und manchmal denkt man es etwas klein. / Aber in Ewigkeit ist es sehr schön.«) oder aber: der Tod im strömenden Regen.

1972 | »Der Stoff, aus dem die Träume sind« von Alfred Vohrer

Schon der knallharte Gegenschnitt von einem tödlich endenden Fluchtversuch an der deutsch-tschechischen Grenze (kurz nach dem Prager Frühling) auf eine Revolverblatt-Redaktionskonferenz zum Thema Verkaufsförderung durch Tittentitel (mit jeder Menge marktforscherisch präzise aufbereitetem Anschauungsmaterial) gleich zu Beginn des Films läßt Alfred Vohrers souverän-triviale Meisterschaft erkennen. In der Romanvorlage verarbeitete Simmel seine langjährigen Erfahrungen als rasender Reporter und Allesschreiber der Illustrierten »Quick« zu einer (hypo-)kritischen Abrechnung mit den Boulevardmedien und ihrem unstillbaren Hunger auf menschliches Schicksal. »Der Stoff, aus dem die Träume sind« verbindet – vor allem Dank der delirierenden (Hand-)Kamera von Charly Steinberger – ohne große Anstrengung Themen wie Schizophrenie, Spionage, Scheckbuchjournalismus, sexuelle Befreiung, politischen Mord, ideologischen Verrat und Nackttanz zu einem filmischen Quodlibet der Sonderklasse. Dazu kommen eine Reihe eindrücklicher Schauspielerleistungen: Neben alten Kämpen wie Arno Assmann, Paul Edwin Roth oder Walter Buschhoff geht insbeson­dere Edith Heerdegen als betagte Jugendpflegerin mit dem zweiten Gesicht zu Herzen – ihr stimmenhörendes, langsam in ein (hoffentlich) besseres Jenseits abdriftendes Fräulein Luise bleibt als eine der spukhaftesten Erscheinungen der deutschen Filmgeschichte im Gedächtnis.

1973 | »Alle Menschen werden Brüder« von Alfred Vohrer

Zwei Brüder, zwischen ihnen eine Frau und die Schatten der deutschen Vergangenheit. Der Film beginnt exotisch, mit einem Schwenk über den Marktplatz von Marrakesch, die untergehende Sonne streut Lichtflecke in die Linse. Zwei Europäer unterwegs in der Stadt. Verfolgung durch die Souks. Einer der Männer wird in seinem Hotelzimmer ermordet, der andere reist zurück in die Heimat, wird noch am Flughafen verhaftet. Seine Geschichte führt aus den sechziger Jahren in die Nachkriegszeit. Zwei Brüder, zwei Schriftsteller: Werner (Harald Leipnitz), einst mit den Nazis im Bunde, darf nicht mehr schreiben; Richard (Rainer von Artenfels), als Dolmetscher für die Amerikaner (Roberto Blanco als Besatzungsoffizier!) tätig, fehlt es an Talent. Die beiden arrangieren sich zum gegenseitigen Vorteil, entzweien sich jedoch über die verführerische Lillian (Doris Kunstmann). Werner »hilft« fortan alten Kameraden in der westdeutschen Provinz, Richard betreibt mit einem jüdischen KZ-Überlebenden ein Bumslokal in Frankfurt (wo sich Elisabeth Volkmann nackt zum Gesang von Ingrid van Bergen räkelt). Zwei Brüder, zwei Todfeinde: Alfred Vohrer und Johannes Mario Simmel erzählen von Schuld und Schwäche, von Haß und Rache, von offenen Rechnungen und manipulierten Gefühlen, von stetig blubbernden braunen Sümpfen und immer wieder enttäuschter Hoffnung, sie leuchten ins Niemandsland zwischen Gut und Böse, berichten aus einer Welt, in der Brüderlichkeit nur ein frommer Wunsch ist – oder ein spitzer Dolch, der sich in einen Rücken bohrt.

1973 | »Gott schützt die Liebenden« von Alfred Vohrer

Wer kennt schon den anderen? Wer kennt schon sich selbst? Paul Holland (Harald Leipnitz) liebt Sybille Loredo (Gila von Weitershausen), macht ihr einen Heiratsantrag. Als Paul von einer Geschäftsreise nach Hause zurückkehrt, ist Sybille verschwunden, und als er sie wiederfindet, ist sie nicht mehr Sybille … Ein Drama des Mißtrauens und der Täuschung, ein Todesspiel der verwirrten Gefühle und der verwischten Identitäten: Sybille heißt eigentlich Viktoria Brunswick, war Undercover-Ermittlerin, angesetzt auf eine berüchtigte Familie von Drogenhändlern. Mamma Trenti residiert in einer nordspanischen Bergfestung, ihre drei Söhne erledigen das Tagesgeschäft. Viktoria verliebt sich in Emilio, den Jüngsten (Nino Castelnuovo), der auch der Liebling seiner Mutter ist und der Verlobte von Laura, die sich wiederum, von Emilio verlassen, in Anna verwandelt, äußerlich eine Hure mit Herz, innerlich ein Engel der Rache, bereit kaputtzumachen, was sie kaputtmacht … Nach und nach werden sämtliche Beteiligten vom heißlaufenden Karussell der Doppelungen ins Aus geschleudert, während Alfred Vohrer, alle Handlungsfäden souverän in der Hand haltend, die ungemütlichen Abseiten von Berlin, Wien und Barcelona erkundet. Mit Glaubensfragen oder Religiosität hat der Film, anders als der Titel nahelegt, kaum etwas zu tun. Zwar versteckt sich Sybille/Viktoria auf ihrer Flucht vor der Vergangenheit vorübergehend in einem Nonnenkloster, aber Gott, macht Simmel glauben, schützt in dieser unseren Welt niemanden mehr. Er scheint nicht nur tot zu sein, man könnte fast meinen, es habe ihn nie gegeben.

1974 | »Die Antwort kennt nur der Wind« von Alfred Vohrer

Die Welt der Schönen und Reichen und Gemeinen. Cannes: Palmen, Villen, Strand, Meer, eine explodierende Luxusyacht. Der in die Luft geflogene Eigner war ein Bankier in Geldnöten, sein Schiff war hoch versichert. Assekuranz-Detektiv Robert Lucas (Maurice Ronet), desillusioniert und herzkrank, reist an, um die Hintergründe der Tat aufzuklären: Mord oder Suizid? Unterstützung erfährt der Ermittler durch die attraktive Prominenten-Malerin Angela (!) (Marthe Keller), die ihm nicht nur die Bluse öffnet sondern auch den Zugang zu den pompösen Salons der durch und durch verlotterten Gesellschaft … Nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles. Simmel (der einen Cameo-Auftritt als Nabob im weißen Smoking absolviert) zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die bösen Finanzkapitalisten, die die Welt ausleeren wie eine Flasche Champagner (1964er Krug); Alfred Vohrer inszeniert Simmels Anklage straff und geradlinig, mit Gefühl für melodramatische Effekte und Sympathie für den Weg des fragwürdigen Helden: Auch Robert will sein Stück vom Kuchen. Warum alles den gewissenlosen Spekulanten überlassen? Warum nicht auch Handel treiben? Warum nicht ein paar gewonnene Informationen nutzbringend verwenden? Warum nicht selbst ein Nummernkonto (Kennwort: »Angela«) in der Schweiz eröffnen? Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Schweine bleiben lieber unter sich, tun alles, um ihren exklusiven Club zu schützen: Attentate, Bestechung, Autobomben. Kein Wunder, wenn ob dieser Schlechtigkeit irgendwann das gebrochene Herz stehen bleibt. Einfach so.

1975 | »Bis zur bitteren Neige« von Gerd Oswald

Vor 20 Jahren war Paul Jordan (Maurice Ronet) ein großer Hollywood-Star, dann heiratete er eine reiche Frau (Suzy Kendall), verfiel dem Alkohol, schwängert schließlich seine Stieftochter (Susanne Uhlen). Der abgehalfterte Mime will wieder spielen, um sowohl dem noblen Elend wie auch den emotionalen Familienverwicklungen zu entfliehen; er akzeptiert das Angebot eines europäischen Nachwuchsregisseurs, fährt nach Wien, wo er die Hauptrolle in einem Film mit dem beziehungsreichen Titel »Oppression« übernehmen soll … Gerd Oswald, der sich aller formalen Manierismen der frühen Vohrerschen Simmel-Verfilmungen konsequent enthält, und Manfred Purzer, dessen Bearbeitung die im Roman beschriebene lastende Schuld aus der Backstory des Protagonisten tilgt, destillieren aus der sentimentalen Säuferkolportage eine surreal-existenzialistische Studie über Schwermut und Stolz, über Sucht und die Suche nach dem Glück im Vergessen. Ronets erbarmenswert verlebte Weltläufigkeit beschwört in mehr als einer Szene die Erinnerung an seine Performance in Louis Malles Depressionsdrama »Le feu follet« herauf: Ebensowenig wie Alain Leroy taugt Paul Jordan zum Sympathieträger, und erweckt doch in seiner verzweifelten Hilf-, Halt- und Hoffnungslosigkeit, so etwas wie unwillkürliches Mitleid. Der Gegensatz zwischen der kühlen, bisweilen mokanten Distanz der Inszenierung und der eigentümlichen, fast desorientierenden Sprunghaftigkeit des Handlungsverlaufs verbindet anschaulich die Schilderung äußerer und innerer Zustände um und in einem Helden von der besonders traurigen Gestalt.

Aufgrund des enttäuschenden Einspielergebnisses von »Bis zur bitteren Neige« beendete Luggi Waldleitner die Vorbereitungen zu zwei weiteren von ihm geplanten Simmel-Verfilmungen, »Niemand ist eine Insel« und »Lieb Vaterland, magst ruhig sein«. Letzteres Projekt übernahm der Produzent Bernd Eichinger.

1976 | »Lieb Vaterland magst ruhig sein« von Roland Klick

Mauer, Tote, Sensationen, deutsch-deutsche Kolportage, politische Puppenkiste – Roland Klicks zupackendes Händchen für genrehaft-lebenspralle Kinounterhaltung prädestiniert ihn geradezu für die Adaption eines Simmel-Romans. Seine stark verknappte Bearbeitung des Mammutwerks über ost-westlichen Menschenhandel und großschnauzigen Gossenjournalismus, über geheimdienstliche Intrigen und tödliche Doppelspiele der Liebe ist ein melancholisch-schöner, schlagzeilig-lokalkolorierter Berlin-Film, der zwar Straßen, Plätze und Menschen der geteilten Stadt keine Sekunde lang so aussehen läßt wie 1964 (Zeitpunkt der Spielhandlung des knalligen Fluchthilfemelodrams), aber vom unwirklichen Fluidum der zerschundenen, zerschnittenen Met­ro­pole durchströmt ist wie kaum ein anderes Werk der Epoche. Das bunt zusammengewürfelte Ensemble wird zum Abbild einer gespaltenen Gesellschaft: Günter Pfitzmann als jovialer Westberli­ner Kommissar, Rudolf Wessely als zwielichtiger Stasi-Mann, Rolf Zacher als schnoddrig-charmanter Kleinkrimineller, Margot Werner als abgeklärte Nutte, Catherine Allégret als hingebungsvolle Verräterin, Georg Marischka als fetter Händler der Freiheit und: der lakonische Anti-Held Heinz Domez (ein ehemaliger Hamburger Kiezmatador, der schon in Klicks St.-Pauli-Sozialactioner »Supermarkt« einen Zuhälter gab) als archetypischer »kleiner Mann«, der zwi­schen die Stühle, Betten und Zellen der Ideologien gerät. Streckenweise wirkt das Groschenepos wie die ruppige Skizze eines Films, immer wieder jedoch schwingt sich Jost Vacanos Kamera, unterstützt von Jürgen Kniepers pathetischem Score, zu großen, schrägen Kinobildern auf.

Zwei weitere Simmel-Werke wurden in den achtziger Jahren für die große Leinwand bearbeitet. Günter Rohrbach produzierte 1983 mit großem Aufwand die Verfilmung des Romans »Hurra, wir leben noch«. Nach dem Tod des ursprünglich für die Regie vorgesehenen Rainer Werner Fassbinder wurde Peter Zadek mit der Inszenierung betraut. Wegen heftiger Proteste des Autors kam der Film unter dem veränderten Titel »Die wilden Fünfziger« in die Kinos. 1986 unternahm Luggi Waldleitner den vergeblichen Versuch, mit der Adaption von »Bitte laßt die Blumen leben« (Regie: Duccio Tessari) an seine großen Kassenerfolge der siebziger Jahre anzuknüpfen.

14. April 2014

Stick together

Kino | »The Lego Movie« von Phil Lord und Chris Miller (2014)

»Everything is awesome!« Es ist die gute alte, wieder und wieder erzählte Messias-Geschichte: Einer wird kommen und die Welt vor dem Verderben retten, einer wie alle anderen, der ein ganz Besonderer ist, kein Superheld mit Superkräften, sondern einer, der unbezwingbare Stärke entwickelt, indem er zu sich selber findet. Emmett, der einfache Arbeiter, das kleine Rädchen im Getriebe, ist der von der Prophezeiung des weisen Vitruvius (!) angekündigte »Special«, der antritt, das Lego-Universum, diesen unendlich variablen Kosmos frei kombinierbarer Bausteine dem Zugriff des Bösen in Gestalt des dämonischen Lord Business zu entziehen, nach dessen Willen alles Veränderliche in kalter Perfektion erstarren soll … Experiment gegen Anleitung, Imagination gegen Konformismus. Die geist-, tempo- und anspielungsreiche Heilsmission führt Emmett und seine Mitstreiter durch zahlreiche noppige Parallelwelten, durch Städte, Wüsten, Himmel, Meereswogen, Feuerwalzen und Mahlströme aus Myriaden von bunten Klötzchen, durch ein Reich, dessen Schönheit im ewigen Wandel liegt, nicht in der Vollendung.

7. April 2014

Damals im Fernsehen

TV | »Es werde Stadt!« von Martin Farkas und Dominik Graf (2014)

»Was haben wir das Fernsehen einst geliebt.« Anläßlich der 50. Vergabe des Marler Grimme-Preises schauen Regisseur Dominik Graf und Kameramann Martin Farkas nicht nur zurück in die Annalen des Fernsehens, sie ziehen Bilanz, erörtern den Stand der Dinge, wagen einen (betrübten) Ausblick – und: sie verbinden, indem sie ein aufmerksam-gefühlvolles Portrait der Stadt Marl zeichnen, am Beispiel eines Gemeinwesens die Geschichte des Mediums mit der Geschichte der Bundesrepublik. Beide, so vermitteln die Autoren, haben einst zu Hoffnungen Anlaß gegeben, beide sind in die Jahre gekommen, beide sehen einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Marl, eine Planstadt für das Personal des Wirtschaftswunders, ein provinzstolzes Brasilia am Nordrand des Ruhrgebietes, und das Fernsehen der frühen Jahre, ein Laboratorium zur Verschmelzung von Avantgarde und Popularität – zwei visionäre Ideen der Nachkriegsmoderne, zwei Freiräume, in denen Geld und Geist keine Gegensätze darstellen, Orte des Aufbruchs, der Bildung und der Kultur: neue Architektur, neue Medien, neue Menschen. Der schöne Traum ist nicht von langer Dauer: Die dramatischen Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen lassen mit dem gesellschaftlichen Reichtum auch die Basis für Offenheit und Vielfalt, für Freiheit und Experimente schwinden. Das Ende von Bergbau und Industrie macht aus Marl eine bevölkerte Geisterstadt, so fern und so rätselhaft schön wie eine antike Tempelanlage; die Einführung des kommerziellen Fernsehens – in der Lesart des Films eine gezielte politische Maßnahme zur Brechung des aufklärerischen Willens der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – verwandelt die Medienlandschaft in einen umkämpften Markt, führt in der Folge zu Formatierung und Standardisierung von Programmen, zum Verlust des Selbstbewußtseins von Redaktionen und Produzenten, zu massivem Quotendruck und einer fast neurotischen Angst vor jedem inhaltlichen oder formalen Wagnis. Farkas und Graf verzichten zur Untermauerung ihrer Kernthese (»Wir waren schon einmal mit allem wesentlich weiter.«) fast völlig auf Sendeausschnitte, nennen einfach nur Namen, die an das einstige künstlerische Niveau erinnern: Heinrich Breloer, Roman Brodmann, Helmut Dietl, Rainer Erler, Eberhard Fechner, Rolf Hädrich, Peter Lilienthal, Helmut Käutner, Horst Königstein, Egon Monk, Michael Pfleghar, Edgar Reitz, Georg Stefan Troller, Bernhard Wicki. Zudem kommen zahlreiche Fernsehmacher, -kritiker und -funktionäre zu Wort, die über Vergangenheit und Gegenwart des Mediums reflektieren. Das Konzert der Stimmen, die Aufeinanderfolge der sprechenden Köpfe rückt »Es werde Stadt!«, stärker als Dominik Grafs frühere Essayfilme, in die Nähe konventioneller TV-Dokumentationen; wie ein bewußter, spielerischer Bruch mutet da die eingefügte Geschichte der vergessenen Fernsehansagerin Inger Stolz an, die als Allegorie eines vormaligen, geradezu erotischen Verhältnisses zwischen Machern und Publikum, zwischen Sender und Empfänger figuriert. Heute, nach dem Zerfall von Stadt- und Medienutopien, nachdem die Kunst ihre Funktion als Sinnstifterin und Verständigungsmittel der Gegenwartskultur weitgehend verloren hat, erscheint das »Dschungelcamp« Grimme-Preis-würdig: als getreues Abbild der real-existierenden postindustriellen (Konsum- und Konkurrenz-)Gesellschaft. »Aber«, fragt Graf in seiner unnachahmlich raunenden, ironisch-melancholischen Artikulation, »wer hat diese Gesellschaft eigentlich gewollt?« Den Glauben an die Kraft des Mediums zur »Verbesserung der Welt« mag der zehnfache Grimme-Preisträger dennoch nicht aufgeben. Viel Zeit bleibt ihm und uns nicht mehr: »Haltet euch ran, Freunde.«

2. April 2014

Herzschmerz 3.0

Kino | »Her« von Spike Jonze (2013)

»Worte, Worte, nichts als Worte.« (Robert Gernhardt) Der hoch-/spät-/postmoderne Mensch und seine Schwierigkeiten mit sich und den Zeitgenossen: Liebesnöte und Beziehungsstreß, Kuschelsucht und Distanzierungspanik, Suche nach dem idealen Gegenüber und unausweichliche Enttäuschung, das einsame, entfremdete Ich unter lauter anderen einsamen, entfremdeten Ichs – Antonioni, ick hör dir trapsen. In Spike Jonzes futuristisch-melancholischer Beziehungskomödie »Her« sind Einsamkeit und Entfremdung appetitlich durchgestaltet, so als hätte sich Tyler Brûlé die nahe Zukunft ausgedacht, und: Es wird nicht verstockt geschwiegen, sondern (was auf das Gleiche hinauskommt) ununterbrochen geschwätzt. Theodore (mit modisch-ironischem Schnauzer: Joaquin Phoenix), der seinen gehobenen Lebensstil (à la Cyrano de Bergerac) mit dem Verfassen von gefühlvollen Liebesbriefen für andere Leute verdient, verfällt mit Haut und Haar (und Zunge) seinem neuen, künstlich beseelten, mit sexy Stimme (Scarlett Johansson) plaudernden Betriebssystem Samantha. (»I love you, Samantha / And my love will never die«, schmachtete ja schon weiland Bing Crosby.) Aus der originellen Konstellation zieht Jonze keine besonders originellen erzählerischen Konsequenzen: Mensch und Maschine durchlaufen lediglich wohlbekannte Beziehungsstadien: Romantik und Rausch, Krise und Herzbruch. »Her« ist so schick, so glatt, so flach wie ein State-of-the-art-Touchscreen, den Protagonisten des Films eignen denn auch keine besonderen Eigenschaften: zwei redselige Monaden des Informationszeitalters auf ewig getrennten Wegen.