17. August 2019

Böhmische Dörfer (1)

Die frühen Filme von Miloš Forman

Miloš Forman kam 1932 in der tschechischen Kleinstadt Čáslav zur Welt. Seine Eltern wurden in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Nach dem Krieg besuchte er ein Internat für Kriegswaisen, das er aus politischen Gründen vor dem Abitur verlassen mußte. Seit Anfang der 1950er Jahre studierte Forman Dramaturgie an der Prager Filmhochschule FAMU. 1963 realisierte er seine ersten Werke als Regisseur, zwei mittellange »Halbdokumentationen«. 


1964 | »Konkurs« (»Wettbewerb«)

Die Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹ veranstalten einen Wettbewerb, um eine neue Vokalistin für das Ensemble zu finden. Vor den Musikern Jiří Suchý und Jiří Šlitr (in der wirklichen Wirklichkeit Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹) demonstrieren Dutzende junger Kandidatinnen mehr oder weniger überzeugend ihr stimmliches Können – unter ihnen eine Fußpflegerin mit Drang zu Höherem und die schmollmündig-hochnäsige Sängerin einer Rock’n’Roll-Combo, die im entscheidenden Augenblick keinen Ton herausbringt. Forman betrachtet die (halb arrangierte, halb lebensechte) Talentschau mit dokumentarischer Distanz, ohne sich über Hingabe und Zuversicht der Aspirantinnen lustig zu machen.

1964 | »Kdyby ty muziky nebyly« (»Wenn’s keine Musikanten gäbe«)

Eine halbdokumentarische Feldforschung zum Thema Tradition und Nonkonformismus, ein süffisanter Traktat über Eingliederung und Insubordination. Zwei junge Trompeter spielen in verschiedenen Kapellen, die sich auf die Teilnahme an einem bedeutenden Blasmusikfestival vorbereiten. Am Tag der Tage besuchen die Nachwuchsbläser indes lieber ein Motorradrennen. Für die stolzen Kapellmeister bricht eine Welt zusammen, die ehrvergessenen Orchestermitglieder werden umgehend entlassen. Wenig später finden die beiden Gefeuerten in der jeweils anderen Truppe ein neues blasmusikalisches Zuhause. Forman gibt den Stimmen von Disziplin und Reglement reichlich Raum, nur um die Phraseologie in einer aberwitzigen Schlußpointe lakonisch verpuffen zu lassen.

In den folgenden Jahren drehte Forman drei gesellschaftskritische Komödien, die zu den Hauptwerken der Tschechoslowakischen Neuen Welle zählen. Er besetzte fast ausschließlich Laien- oder Nachwuchsschaupieler und arbeitete bei allen Produktionen mit einem festen Team von Mitarbeitern und Freunden zusammen, u. a. Miroslav Ondříček (Kamera), Miroslav Hájek (Schnitt ) Jaroslav Papoušek und Ivan Passer (Drehbuch und Assistenz). 

1964 | »Černý Petr« (»Der schwarze Peter«)

Für Petr (Ladislav Jakim), 17 Jahre alt, beginnt das Berufsleben in einem Lebensmittelgeschäft. Seine erste Aufgabe ist die Überwachung der hochgeschätzten, doch stets verdächtigen Kundschaft. Ein vermeintlicher Langfinger, den der Auszubildende durch die halbe Stadt verfolgt, erweist sich als guter Bekannter des Chefs, eine Diebin, die ihre Handtasche mit Bonbons füllt, läßt der Detektiv wider Willen gleichgültig laufen. Zuhause hält der rechthaberische Vater lange Vorträge über das Leben und wie es richtig zu leben sei, während die liebende Mutter mit passiv-repressiver Ausdauer die Forderung nach Gegenliebe erhebt. Forman zeigt die Welt, in die hineinzuwachsen jedermanns Bestimmung ist, als Bühne eines absurden Theaters, wo sich die Verunsicherung als Gewißheit tarnt und jede Hinwendung zum Vorwurf wird. Aber auch die Wirklichkeit der Jugendlichen – neben dem Protagonisten richtet Miloš Forman seinen Blick insbesondere auf Petrs Flamme Pavla sowie auf die beiden desorientiert-präpotenten Mauerlehrlinge Cenda und Zdenek – erscheint nicht als Himmel auf Erden, sondern als Sphäre der Verklemmung und der Aufschneiderei, der Unübersichtlichkeit und des (Selbst-)Zweifels. Ob im Schwimmbad oder auf der Sommerwiese, ob auf dem Tanzfest oder in der Wohnzimmergruft, überall zeigt Formans skizzenhafter Realismus – mit bissigem Witz und ironischer Anteilnahme –, wie schwer es fällt, sich nicht den schwarzen Peter zuschieben zu lassen.

1965 | »Lásky jedné plavovlásky« (»Die Liebe einer Blondine«)

Die 18jährige Andula (Hana Brejchová) arbeitet in einer Schuhfabrik irgendwo in der langweiligen tschechischen Provinz. Sie geht mit Tonda, der ihr einen Ring geschenkt hat, flirtet mit einem Förster, der ihr vom abwechslungsreichen Paarungsverhalten der Tiere erzählt, landet nach einem Tanzvergnügen mit notgeilen mittelalten Reservisten im Bett des aus Prag angereisten Pianisten Milda, der ihr nach dem Schäferstündchen erklärt, sie sei wie eine Gitarre, aber nicht so weich geschwungen wie eine echte, sondern so kantig wie eine von Picasso gemalte. Ob es sich dabei um ein Kompliment handelt, bleibt offen. Forman komponiert aus sensibel beobachteten Alltagsmomenten das pointillistische Portrait einer ebenso sehnsüchtigen wie launenhaften jungen Frau sowie das Bild einer Gesellschaft, in der die Sehnsüchte und Launen einer jungen Frau keinen Platz haben. Als Andula, von einer glücklichen Zukunft in der großen Stadt träumend, ihrem One-Night-Lover nachfährt, erlebt sie in Mildas Familie Gleichgültigkeit, Befremden, Zurückweisung. Ihre Illusionen läßt sie sich gleichwohl nicht nehmen: Ein wunderschöner Ausflug sei es gewesen, berichtet Andula ihrer besten Freundin nach der Rückkehr in die Fabrik, die Eltern des Geliebten hätten sich als reizend erwiesen, und von nun an werde sie wohl häufiger nach Prag reisen.

1967 | »Hoří, má panenko« (»Der Feuerwehrball)

Ein glanzvoller Abend soll es werden, mit Mißwahl und Tombola und Auszeichung des verdienten ehemaligen Hauptmanns. Die Feuerwehr gibt ein Fest für das ganze Städtchen, und alles geht schief. Die zur Schönheitskonkurrenz ausgewählten (man könnte auch sagen: abkommandierten) jungen Frauen flüchten von der Bühne auf die Damentoilette, die Gewinne der Geschenkverlosung (unter anderem eine Torte, eine Flasche Cognac, eine Preßwurst) werden samt und sonders gestohlen, der greise Ehrengast (von dem alle außer ihm selbst wissen, daß er tödlich erkrankt ist) sieht sich über einen in der Nachbarschaft ausbrechenden Hausbrand schlichtweg vergessen – und nicht einmal ihrer eigentlichen Aufgabe zeigen sich die Feuerwehrleute gewachsen: angesichts der lodernden Flammen streiten sie vor allem darüber, ober der alte Mann, dessen Hof abbrennt, dem unaufhaltsamen Zerstörungswerk des Feuers zusehen sollte oder besser nicht. In ihren schmucken Uniformen, mit ihrem selbstgefälligen Befehlston, im stolzen Bewußtsein ihrer führenden Rolle erweisen sich die Angehörigen der Organisation als Musterbilder von Inkompetenz, Betriebsblindheit, Wichtigtuerei. Die Frage, ob Forman mit seiner kaleidoskopischen (vorzüglich besetzten) Typenkomödie lediglich allzumenschliche Schwächen karikieren will, oder er ob er die parabolische Spiegelung real-existierender Herrschafts- und Lebensverhältnisse im Sinn hat, mag der Betrachter getreu seines Klassenstandpunkts beantworten.

Während der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 hielt sich Forman in New York auf und entschloß sich, nicht in die Tschechoslowakei (wo sein letzter Film inzwischen »für immer« verboten worden war) zurückzukehren. Er konnte – nach gewissen Startschwierigkeiten – seine Karriere in den USA erfolgreich fortsetzen. Miloš Forman starb 2018 in Connecticut.