18. Oktober 2013

Studio D: 3 x 3 x Herbert Reinecker

Vielschreiber Herbert Reinecker war schon mehrfach Thema im Magazin des Glücks. In der zweiten Folge von »Studio D« geht es um die drei Krimi-Dreiteiler, die den Grundstein für Reineckers Karriere als TV-Autor legten.

Seit Ende der 1950 feierte die ARD mit mehrteiligen Kriminalspielen nach Vorlagen des Engländers Francis Durbridge (u. a. »Das Halstuch«, »Tim Frazer«) regelmäßig große Publikumserfolge. In Konkurrenz zu diesen »Straßenfegern«, die Sehbeteiligungen von 90 % und mehr erreichten, beauftragte das ZDF den Produzenten Helmut Ringelmann, der für den Sender bereits die Serien »Die fünfte Kolonne« und »Das Kriminalmuseum« entwickelt hatte, mit der Herstellung vergleichbarer Programme. Insgesamt entstanden drei Krimi-Dreiteiler in drei Jahren. Herbert Reinecker schrieb die Drehbücher, die Regie übernahm jeweils Wolfgang Becker – beide hatten zuvor schon für Ringelmann gearbeitet; Reinecker verfaßte zu dieser Zeit außerdem zahlreiche Edgar-Wallace- und Jerry-Cotton-Adaptionen für die große Leinwand.

In allen drei Filmen geht es um gefahrvolle Nachforschungen, um die Suche nach verschwundenen Personen, um die Jagd nach den Hintermännern gemeiner Verbrechen. Während das erste Werk, »Der Tod läuft hinterher«, mit dem Schauplatz London direkt an die »britische« Atmosphäre der Durbridge-Filme anknüpft, spielen die Nachfolger »Babeck« und »11 Uhr 20« in Deutschland und Italien bzw. in Istanbul und Nordafrika.

Die Texte werden durch knappe filmographische Angaben ergänzt:
K Kamera M Musik A Ausstattung S Schnitt D Darsteller | Länge | Datum der Erstausstrahlung

Der Tod läuft hinterher

Ein polnischer Satiriker sagte über die Wahrheit, daß sie eines Tages doch nach oben schwimme: als Wasserleiche. In »Der Tod läuft hinterher« hat die Wahrheit ihren finalen Auftritt dagegen in Gestalt einer eleganten jungen (Lebe-)Dame. Nach einer dreieinhalbstündigen Ermittlung, die vom grauen London über das provinzielle Boulogne-sur-Mer ins mondäne Paris führt, nach einer (strichweise ermüdenden) Recherche voller Irrwege, Hintertreppen und Sackgassen wäre demjenigen, der ihr (der Wahrheit) nachjagte, der Fund einer Wasserleiche vielleicht lieber gewesen … Joachim Fuchsberger spielt Edward Morrison, einen Heimkehrer aus Südamerika, dessen Schwester Alice verschwunden ist. Erst hört er, sie sei tot, dann vermutet man sie in der Gewalt eines mysteriösen, weitverzweigten Gaunersyndikats. Also macht sich Morrison auf die Suche. Sein Weg führt ihn hinter die Spiegel der bürgerlichen (Werte-)Welt – wo erlebnishungrige Mädchen in den tödlichen Strudel des Vergnügens gerissen werden, wo das Böse als kultivierter Nachtclubbesitzer auftritt, wo Unschuld nur eine Maske der gesellschaftlichen Fäulnis ist. Herbert Reinecker, biederes Schreibmonster und abgründiger Kolportagemoralist, schafft eine dreiteilige Groschenwelt der Bars und »Partywohnungen«, der Verlockungen und Illusionen, die von reichlich Film- und Theaterprominenz (Pinkas Braun, Elisabeth Flickenschildt, Marianne Hoppe, Marianne Koch, Josef Meinrad, Walter Richter, Gisela Uhlen) bevölkert wird. Der Autor, der von sich sagt, er schreibe griechische Tragödien für den kleinen Mann, knallt – nach einer Spurensuche voller (mehr oder weniger) attraktiver Unwahrscheinlichkeiten – seinem Helden, der stets nur sah, was er sehen wollte, ein frustrierendes Ende vor den Latz: die Begegnung mit der Wahrheit eben.

K Ernst W. Kalinke M Erich Ferstl A Wolf Englert S Ingrid Bichler D Joachim Fuchsberger, Marianne Koch, Pinkas Braun, Marianne Hoppe, Elisabeth Flickenschildt, Josef Meinrad | 72 & 73 & 66 min | 27., 28., 30. Dezember 1967

Babeck

»Einen Toten zu beschaffen, kann so schwer nicht sein.« Es beginnt mit dem Verschwinden eines Scherenschleifers am Starnberger See und endet mit einem internationalen get-together von Waffenschiebern in einer pompösen Villa bei Genua. Zwischendurch fällt immer wieder ein Name – ein Name, den der Geruch des Todes umweht. »Vergiß diesen Namen!« heißt es, oder: »Du darfst den Namen noch nie gehört haben!« oder auch: »Sag den Namen nicht!« Manfred Krupka (Helmuth Lohner), der Sohn des Scherenschleifers, ein wackerer junger Journalist, forscht nach und kommt (zusammen mit der Tochter eines weiteren Vermißten) auf die Spur des geheimnisvollen Unbekannten, der seinen Vater (und nicht nur den) auf dem Gewissen (?) hat. »Was wissen Sie von diesem Mann?« wird Krupka gefragt. »Nur seinen Namen.« – »Schon zuviel!« Herbert Reinecker, der Meister der erzählerischen Redundanz, webt eine schier endlose Stoffbahn aus vertuschter Schuld und verwischten Spuren, aus vager Bedrohung und schleichender Angst, aus parfümierter Amoral und verschobenen Identitäten; Menschen werden benutzt und weggeworfen, oder sie lassen sich bezahlen und verderben. Nach einer Vielzahl von Todesfällen gipfelt die tiefgründig-platte Etüde über eine kalte Welt des profiteering und der Käuflichkeit in der tristen Erkenntnis, daß das Böse bestenfalls schemenhaft zu erahnen, nicht aber kleinzukriegen ist: »Da war doch was. Haben Sie da eben nichts gehört?« – »Nein.« – »Hm.« Ein phänomenales Ensemble (Senta Berger, Karl John, Curd Jürgens, Helmut Käutner, Siegfried Lowitz, Charles Regnier, Cordula Trantow, Paul Verhoeven) haucht dem Panoptikum des televisionären Gesellschaftspsychologen so etwas wie richtiges Leben im falschen ein – »Babeck« (um den verfluchten Namen endlich zu nennen) ist Herbert Reineckers trivial-epi(sodi)sches Meisterwerk. PS: »Vergiß mich, wenn du kannst. / Ich weiß, es wird nicht geh’n. / Und glaub mir, es ist gut, / Wenn wir uns nicht wiederseh’n.«

K Rolf Kästel M Peter Thomas A Wolf Englert S Ingrid Bichler D Helmuth Lohner, Cordula Trantow, Senta Berger, Curd Jürgens, Charles Regnier, Helmut Käutner | 65 & 59 & 62 min | 27., 28., 29. Dezember 1968

11 Uhr 20

»Es ist alles so verrückt, so unerklärlich.« Eine Variation des Hitchcock’schen Lieblingsmotivs vom unschuldig in Verdacht Geratenen? Nur anfangs. Der deutsche Ingenieur Thomas Wassem (Joachim Fuchsberger) verbringt mit seiner hübschen Frau Maria (Gila von Weitershausen) einen Kurzurlaub in Istanbul. Eines Nachmittags sitzt ein Erschossener in seinem Auto. Wassem will die Leiche wegschaffen, um keine Schwierigkeiten zu kriegen – damit fangen die Probleme natürlich erst an. Kurz darauf ist die Leiche verschwunden, und Maria ist tot. Wassem, der für den Mörder seiner Gattin gehalten wird, geht auf die Suche nach den Tätern. Es beginnt eine labyrinthische und zunehmend uninteressanter werdende Schnitzeljagd, die vom Bosporus in die tunesische Wüste führt. Hintergrund der diversen Bluttaten sind irgendwelche geologischen Gutachten, die ihrem Besitzer sagenhaften Reichtum versprechen … Wie in den Vorgängerfilmen thematisiert Herbert Reinecker den (unauflöslichen) Gegensatz von Moral und Geschäft, die notorische Perfidie der Habsüchtigen. Im Gegensatz zu den ersten beiden Dreiteilern setzt »11 Uhr 20« dabei verstärkt auf Abenteuerelemente und auf die (erstmals farbig fotografierte) Exotik der Spiel- und Drehorte. Allerdings erweist sich die eigentliche Handlung, trotz einer Vielzahl von Toten, einer Reihe von Action-Einlagen und etlicher rätselhafter Frauen (Christiane Krüger, Esther Ofarim, Nadja Tiller), als zäher Whodunit ohne doppelten Boden. »Ich liebe dieses Land, wo die Märchen noch lebendig sind, die Märchen und die Träume«, sagt einer der Schufte, aber die Szenerien aus Tausendundeiner Nacht, die mondänen Villen am Meer, die Oasenstädtchen in der Sahara, die Gärten der Kasbah mit ihren kreischenden Vögeln, bleiben beliebige Kulissen, in denen der langatmige Fall schließlich eine banale Auflösung erfährt.

K Rolf Kästel M Peter Thomas A Wolf Englert S Hermann Haller D Joachim Fuchsberger, Christiane Krüger, Götz George, Werner Bruhns, Friedrich Joloff, Nadja Tiller | 60 & 70 & 70 min | 8., 9., 11. Januar 1970

Alle drei Titel sind auf DVD erschienen.

15. Oktober 2013

Strange Illusions

Drei Science-Fiction-Filme von Edgar G. Ulmer

1951 | »The Man from Planet X«

Ein unbekannter Planet nähert sich der Erde. Professor Eliot begibt sich mit seinem Assistenten auf eine abgelegene schottische Insel, wo der geringste Abstand des vorbeifliegenden Himmelskörpers zur Erdoberfläche erwartet wird; mit von der Partie sind die patente Tochter des Professors und ein taffer amerikanischer Reporter. In der kargen, einsamen Moorlandschaft wird zunächst eine rätselhafte Sonde aus einer fremdartigen Metallegierung (x-fach leichter und härter als Stahl) entdeckt, dann ein Raumfahrzeug extraterrestrischer Provenienz … Ob die gespenstige Kreatur, die dem Flugobjekt entsteigt, in friedlicher oder feindlicher Absicht gekommen ist, bleibt zunächst rätselhaft. Das blicklose Gesicht des kindlich-greisenhaften Wesens, halb Jawlensky-Kopf, halb afrikanische Maske, läßt keine mimische Regung erkennen, wird dabei zum Spiegel widerstreitender menschlicher Interessen zwischen wissenschaftlicher Aufklärung und wirtschaftlicher Ausbeutung der kosmischen Geheimnisse – bis sich mit der (traurigen) Geschichte des Planeten X auch die Pläne des außerirdischen Besuchers enthüllen … Edgar G. Ulmer läßt zeittypische Themen wie Gedankenkontrolle, Invasionsangst und die drohende (Selbst-)Auslöschung der Zivilisation anklingen, spielt in seiner bescheiden märchenhaften B-Inszenierung effektvoll mit elektronischen Tönen und puppentheatralen Miniaturmodellen, formt aus tiefen Schatten, dichtem Nebel und schimmernden Lichtern (Kamera: John L. Russell) surreal-poetische Momente voller Ambivalenz und (trivialen) Zaubers.

1960 | »Beyond the Time Barrier«

»None of this is real. It’s all an illusion to me.« Als Major Bill Allison, Testpilot der US-Luftwaffe, von einem Überschallflug in großer Höhe zurückkehrt, findet er seine Air Base in Trümmern liegend. Er wandert durch desolate Landschaften und gelangt zu einer strahlenden Stadt, deren Bewohner ihn gefangen setzen. Langsam begreift Allison, daß er durch die Zeit ins Jahr 2024 geschleudert wurde. In der »Zitadelle«, einer caligaresken Art-Déco-Festung, deren phantastische pyramidal-trianguläre Innenwelten (Bauten: Ernst Fegté) die eigentliche Attraktion des Films ausmachen, haben sich die Überlebenden einer (durch Kernwaffenversuche herbeigeführten) Pandemie verschanzt, die im Jahre 1971 fast die gesamte Erdbevölkerung dahinraffte. Von aggressiven »Mutanten« bedroht, stumm (bis auf den alten, weisen Anführer) und unfruchtbar (bis auf die hübsche Enkelin des Chefs), sehen die letzten Menschen in Major Allison ihre letzte Hoffnung: Er soll in die Zeit vor der Katastrophe zurückkehren, um das große Sterben zu verhindern … Chris Marker wird ein ähnliches Szenario drei Jahre später in seinem vielschichtigen photo-roman »La jetée« auf ungleich höherem philosophischen und visuellen Niveau entwickeln, Edgar G. Ulmer verarbeitet Themen wie Atomangst und mögliche Zerstörung aller Lebensgrundlagen zu einer naiv-linkischen Pulp-Dystopie mit warnender Schlußbelehrung: »Gentlemen, we’ve got a lot to think about.«

1960 | »The Amazing Transparent Man«

»Amazing« ist an diesem in jeder Beziehung billigen Sci-Fi-Thriller nicht besonders viel: Ein durchgeknallter Ex-Major träumt von der Aufstellung einer unsichtbaren Armee, zu welchem Behufe er einen genialen deutschen Wissenschaftler erpreßt, der schon zwangsweise den Nazis zu Willen sein mußte. Der fiese Schurke läßt zudem einen Meisterdieb aus dem Gefängnis befreien, damit dieser Nuklearmaterial »X-13« aus Staatsbesitz beschaffe, das zur weiteren Verbesserung der Unsichtbarkeitsmaschine erforderlich ist … Im Gegensatz zum back-to-back produzierten »Beyond the Time Barrier« gelingt es Edgar G. Ulmer nicht, dem hanebüchenen Stoff jenseits oberflächlichster Fortschrittskritik ein gewissen Maß von Größe (oder Größenwahn) einzuhauchen. Ein verschnarchtes texanisches Farmhaus als Zentrale des Bösen, ein klappriges Wellblechlaboratorium unterm Dach – beginnt hier die Weltherrschaft? Neben dem holprigen Erzählbogen des kurzen Films, den uninspirierten (Nutz-)Dialogen und den primitiven, allzu augenfälligen Effekten enttäuscht vor allem die weitgehend lustlose, statische Inszenierung; lediglich einige schwebende subjektive Einstellungen aus dem »Blickwinkel« des Unsichtbaren verraten etwas von Ulmers außergewöhnlicher Fähigkeit, buchstäblich mit Nichts visuelles Aufsehen zu erregen.

1. Oktober 2013

Land im Dämmerschein

Vier Heimat-Filme von Niklaus Schilling

Wer kennt noch den Namen Niklaus Schilling? Ende der 1960er Jahre arbeitete er als Kameramann für Klaus Lemke, Rudolf Thome und May Spils. In den 1970er Jahren galt der gebürtige Schweizer als wichtiger Regisseur des (bundes-)deutschen Kinos. »Entschiedener noch als Werner Herzog verweigert er sich der allgemein herrschenden Auffassung vom Film als einem realistischen Medium, als Transportmittel für Inhalte, die man getrost nach Hause tragen kann«, schrieb Hans-Christoph Blumenberg 1978 über Niklaus Schilling. Mit der Krise des Autorenfilms sank in den 1980er Jahren auch Schillings Stern; 1995 drehte er sein bislang letztes Werk, wie alle vorhergehenden produziert von seiner Lebensgefährtin (und häufigen Hauptdarstellerin) Elke Haltaufderheide. Ein Projekt über den Sohn eines Wehrmachtsgenerals, der seit über einem halben Jahrhundert im Labyrinth einer unterirdischen Bunkerstadt südlich von Berlin lebt, ist, wie es heißt, in Vorbereitung. 


1972 | »Nachtschatten«

Blaß ist die Heide, mondbleich und berückend, irgendwie jenseitig. Langsam ist die Heide, todmüde und weltvergessen, seltsam aus der Zeit gefallen. Von Hamburg kommt der Musikverleger Jan Eckmann (John van Dreelen) in die Heide, um ein zum Verkauf stehendes Gutshaus zu besichtigen. Elena Berg (Elke Haltaufderheide), die Besitzerin des Hauses gibt sich merkwürdig spröde, desinteressiert am Geschäft, sie wirkt zerstreut, mysteriös, auf geisterhafte Art absent, ständig verbrennt sie etwas im Kamin, verweigert ohne Erklärung den Zugang zu einem bestimmten Zimmer, und eben wegen ihrer sonderbaren Abwesenheit entfaltet Elena eine unentrinnbare verführerische Wirkung auf den diesseitigen Besucher, fesselt ihn magisch an den ihm so fremden, so vertrauten Ort. Des Nachts träumt Jan von einem weißen Stein, auf dem sein Name steht, er träumt von seinem eigenen Grab, über das sich die Gastgeberin beugt, über das sie blutrote Mohnblüten streut. Ist er vielleicht schon seit drei Jahren tot? Oder ist er der Wiedergänger eines längst Verstorbenen? Ein schlafwandlerischer Heimatfilm um eine sirenenhafte blonde Schönheit, die einen kreglen Geschäftsmann in ihren gespenstigen Abgrund zieht. Am Ende enthüllt Niklaus Schilling das Rätsel seiner ätherischen Heldin. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr Geheimnis zu bewahren, den erzählerischen Zauber nicht zu brechen. Die Auflösung stellt indes klar, daß Heimat kein Idyll ist, sondern ein Reich der Schatten, ein tiefes Moor, in dem man restlos versinken kann. Das solide Haus ist kein geschützter Raum, und der Liebreiz der Landschaft erweist sich als verderbliche Illusion.

1977 | »Die Vertreibung aus dem Paradies«

Nach dem Tod der Mutter kehrt Filmschauspieler Andy Pauls (Geburtsname: Anton Paulisch) abgebrannt in seine Geburtsstadt München zurück. Mit der großen Karriere hat es weder in Rom noch in Hollywood geklappt; über Nebenrollen in Italowestern und einen TV-Auftritt als »Mechanical Man« ist Andy Pauls nie hinausgekommen. Herb Andress (Geburtsname: Herbert Andreas Greuz), mit dessen großer Karriere es auch nicht so recht geklappt hat, der sich als Nebendarsteller in Italowestern verdingte und als »Mechanical Man« im Fernsehen auftrat, spielt Andy Pauls, dem statt des erhofften Geldes als Erbe lediglich eine dickgerahmte Reproduktion von Gustave Dorés Bibelgraphik »Die Vertreibung aus dem Paradies« zufällt … Niklaus Schilling erzählt in einer Abfolge von kurzen, mal ironischen, mal elegischen, bald zugespitzt sketchartigen, bald opernhaft surrealen Szenen aus dem Leben der Vertriebenen – neben Andy Pauls sind das dessen sanftmütige Schwester Astrid (Elke Haltaufderheide), die sich redlich müht, das verschuldete mütterliche Fotogeschäft weiterzuführen, und der schmierige Bankfilialleiter Berens und die mondäne Heiratsschwindlerin Isolde Gräfin zu Rosenburg und das allzeitbereite Starlet Evi. Die Personen der Handlung verwickeln sich in eine inszestuöse Liebesgeschichte und in eine gallige Satire auf den mausetoten bundesdeutschen Filmbetrieb und in ein schwüles Hochstapler(innen)drama und in einen kleinbürgerlichen Betrugsthriller. Auf allen Ebenen geht es um Geld und Träume, um Kunst und Wirklichkeit, um Spiel und Zwang. Am Ende weist ein Engel den Weg zurück ins Paradies; die Insel der Seligen aber ist nichts anderes als das Kino selbst.

1978 | »Rheingold«

»Jetzt machen wir ein Unglück.« Eine Eisenbahnfahrt entlang des deutschesten aller Flüsse, eine sentimentale Reise in den Tod, ein melodramatisches Dreieck: eine schöne Frau mit goldblonden Locken, ihr Geliebter, ihr eifersüchtiger Ehemann … Im Trans-Europ-Express »Rheingold« trifft Elisabeth Drossbach (Elke Haltaufderheide) eines Tages ihren besten Freund aus Kindertagen wieder, der auf der legendären Strecke als Zugkellner arbeitet. Eine Liebesgeschichte nach Fahrplan nimmt ihren Lauf, bis der gehörnte Gatte die Treulose im Affekt mit einem goldenen Brieföffner ersticht. Während Elisabeth langsam und geschmackvoll verblutet, ziehen vor dem Fenster ihres Abteils malerische Landschaften, nationale Mythen und persönliche Erinnerungen vorüber. Fremde steigen zu und wieder aus, begleiten die Sterbende jeweils einige Stationen auf ihrem letzten Weg: ein Mon-Chéri-süchtiger Astrologe, der Erfinder der kleinsten Nähmaschine der Welt, eine geheimnisvoll lächelnde Rothaarige, ein weißhaariger Großvater, der seiner gretelhaften Enkelin Geschichten erzählt, von der Loreley und ihren Opfern, von Raubrittern und ihren Burgen. Woge, du Welle, walle zur Wiege! Schäumende Klangwolken eines wagnerianischer Synthesizer-Sounds ballen sich über dem pathetischen Geschehen, durch das Niklaus Schilling immer wieder helle Blitze der Ironie zucken läßt. »Rheingold« – ein kinematographischer Luxuszug, ein Erster-Klasse-Bewußtseinsstrom, eine schillernde Assoziationskette aus Schwulst und Spott.

1979 | »Der Willi-Busch-Report«

»Mädchen, 5, sagt Wiedervereinigung voraus! Wie verhält sich Bonn?« Was der Antike die Säulen des Herakles waren, bedeutet zu Zeiten des Kalten Krieges der Eiserne Vorhang: non plus ultra … Friedheim ist ein Nest an der innerdeutschen Grenze; die ›Werra-Post‹ ist ein Provinzblättchen, dessen Verlaufszahlen seit Jahrzehnten rückläufig sind. Willi Busch (Tilo Prückner) und seine Schwester Adelheid betreiben die ererbte ›Werra-Post‹ im abgeschiedenen Friedheim mit dem liebenswert-vernagelten Eigensinn echter Hinterwäldler. Weil im Nichts der welthistorischen Peripherie nichts passiert, erfindet Lokalreporter Willi (»Wie wohl ist dem, der dann und wann / Sich etwas Schönes dichten kann!«) zur Steigerung der Auflage kurzerhand packende Neuigkeiten: einen mysteriösen Telefonzellenvandalen, ein politisches Verkündigungswunder, die mörderischen Aktivitäten eines Agentenrings. Die journalistische Imagination wird schließlich von der Wirklichkeit ein- und überholt: Das Leben ahmt nicht nur die Kunst nach sondern auch die Sensationspresse … In Niklaus Schillings schizophrener Heimat-Humoreske knattert (oder fliegt?) der rasende Berichterstatter in einem Messerschmitt Kabinenroller durch das Zonenrandgebiet; dem besessenen Nachrichtenjäger folgt, gleichsam schwerelos, das erste Steadicam-Equipment der Kinogeschichte (Kamera: Wolfgang Dickmann). Die ins Surreal-Hysterische kippende Borderline-Story verquickt Liebe und Spionage, Geschichte und Geschichten, Schöpfergeist und Wahnsinn; am Ende der mehr und mehr zerflatternden Schose steigen Wahrlügner Willi die selbsterdachten Nachrichten derart zu Kopfe, daß er nach einem schweren Anfall von Grenzkoller abtransportiert werden muß: »Na, jetzt hat er seine Ruh! / Ratsch! Man zieht den Vorhang zu.«

Alle Filme von Niklaus Schilling sind auf DVD im Direktvertrieb bei visualfilm.de erhältlich.