25. Oktober 2016

Standbild (14)

Retorte

Innen. Salon. Nacht. Auf dem Boden des großen Raumes liegen dezent gemusterte Teppiche, klassizistisch anmutende Malereien und Stukkaturen schmücken die Wände. Rechts steht ein Schreibtisch im Stil des Rokoko mit einem dazu passenden stoffbezogenen Armlehnstuhl. Dahinter erlaubt eine offenstehende zweiflügelige Fenstertür den Blick über eine Terrasse in einen südlichen Garten. Im Hintergrund des Salons, zwischen einer mit gerafften Portieren verbrämten Kaminnische sowie einem deckenhohen Wandspiegel und dem verschlossenen Durchgang ins Nebenzimmer, sind auf einem üppig geschnitzten Konsolentisch mit exaltiert gebogenen Beinen in symmetrischer Anordnung zwei Kerzenleuchter und eine weiße Urnenvase aufgestellt. Darüber hängt ein bronzener Lüster, dessen geschwungene Arme elektrifizierte Kerzen tragen. Weiter links ist eine bauchige, mit polierten Beschlägen besetzte Kommode plaziert. Auf der Marmorplatte des dunklen Möbels steht mittig eine Figurengruppe aus Porzellan, die zwei identische birnenförmige Prunkvasen mit girlandenartigen Henkeln und kleinen Deckeln flankieren. Ebenfalls auf der linken Seite des Raumes bescheint eine Stehlampe mit hell bezogenem Schirm einen Diwan, der mit einem einfarbigen Überwurf und einer großen Menge von bestickten, rüschenbesetzten Kissen in verschiedenen Formen bedeckt ist. Auf dem Tagesbett lagert, den leicht erhobenen Oberkörper auf die angewinkelten Unterarme gestützt, eine schlanke, etwa zwanzigjährige Frau. Sie trägt einen eng um den Kopf gebundenen Turban, lange Perlenohrhänger sowie eine halsnahe Kette mit einem runden, in Brillanten gefaßten Medaillon. Der von glitzernden dünnen Straßbändern eingesäumte v-förmige Ausschnitt ihres schulterfreien Abendkleides läßt den Ansatz ihrer Brüste erkennen, deren aufgerichtete Warzen sich deutlich unter dem Stoff abzeichnen. Die übereinandergelegten Füße stecken in spitzen Pumps mit kreuzweise über den schmalen Spann gezogenen Riemchen. Kopfbedeckung, Kleid und Schuhe der Frau sind sämtlich aus schimmernder weißer Seide gefertigt. Aus lasziv halbgeschlossenen Augen blickt die schöne Liegende auf den älteren stämmigen Mann im nachtschwarzen Gesellschaftsanzug, der neben ihr auf der Seitenkante des Diwans sitzt. Sein dichtes welliges Haar ist aus der breiten Stirn gekämmt, schlitzförmige Augen und hohe Wangenknochen verleihen ihm ein beinahe asiatisches Aussehen. In der Hand seines ausgestreckten rechten Armes hält er ein silbernes Feuerzeug, mit dem er die von den leicht geschürzten Lippen der Frau gehaltene Zigarette entzündet. Der Mann, ein weltberühmter Gelehrter, eine Kapazität der Kreuzung von Erbanlagen, betrachtet sein aufreizendes Gegenüber mit finsterem Gesichtsausdruck. Noch ahnt er nicht, daß die junge Frau, die er als seine Tochter ausgibt, kurz zuvor das Geheimnis ihrer wahren Herkunft ergründet hat. Im Laboratorium des vermeintlichen Vaters als Kind eines Gehenkten und einer Dirne künstlich gezeugt, ist sie das Ergebnis des Versuchs, einen mittelalterlichen Aberglauben wissenschaftlich zu erforschen und dabei ein Wesen zu erschaffen, dessen ererbte Eigenschaften nicht durch die Gefühle der Eltern gestört werden. Die solchermaßen experimentell in die Welt Gesetzte hat geschworen, sich an ihrem Schöpfer zu rächen, indem sie ihn durch ein kaltblütig inszeniertes Wechselspiel von Verlockung und Versagung langsam um den Verstand bringt und seelisch zugrunde richtet.

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