20. Juni 2014

Standbild (2)

Abschied

Innen. Vergnügungslokal. Nacht. Die allgemeine Saalbeleuchtung, eine große Zahl von bunten Glühbirnen, Wandlampen und Scheinwerfern, ist ausgeschaltet. Die einzige verbliebene Lichtquelle im Raum, eine rote Schirmlampe mit Fransenborte, die etwa einen Meter über einem runden, vierbeinigen Tisch hängt, verbreitet diffuses Zwielicht. Links ist eine Folge von Holzsäulen mit schnörkeligen Verzierungen und roter Bemalung zu erkennen. Diese geschmückten Pfosten und ein zwischen ihnen verlaufendes Geländer aus senkrechten Brettern umsäumen den zentralen Bereich des Lokals, der, aufgrund seiner Weitläufigkeit und wegen seines Sandbodens, an eine Zirkusmanege erinnert. Die Zuschauertische stehen erhöht auf einem kreisförmig um die Arena gebauten Podest, die Sitzgelegenheiten, viele zusammenklappbare Gartenstühle mit Metallgestellen und einige einfache Holzstühle, sind größtenteils übereinander auf den Tischen gestapelt. Über die gesamte Länge der Rückwand erstrecken sich ein hölzerner Bartresen und, dahinter, eine verspiegelte Etagere; in den Fächern des Regals reihen sich, dicht an dicht, Flaschen und Gläser unterschiedlichster Form und Größe. Rechts steht, im Augenblick ungenutzt, eine schmiedeeiserne Garderobenwand, in deren rechteckige Rahmung ein Geflecht aus Maschendraht gespannt ist. Von der Decke hängen zahlreiche künstliche weiße Tauben mit ausgebreiteten Schwingen herab. Im Schein der roten Schirmlampe verteilen sich, in gemäßigter Unordnung, die Reste eines Umtrunks auf der, mit einem gemusterten Tuch bedeckten, runden Tischplatte: zwei geöffnete Flaschen, etliche Schnapsgläser und Sektflöten, in denen jeweils eine Neige steht, daneben ein Zinnleuchter ohne Kerze, eine Zigarrenkiste und ein randvoller Aschenbecher, außerdem eine kleine Skulptur, es handelt sich um die figürliche Darstellung eines Afrikaners im Kolonialstil, und ein Aufsteller mit Wimpel, der die diagonale Beschriftung ›Stammtisch‹ trägt. Um den runden Tisch stehen vier leere, nicht zusammenpassende Stühle, sowie die einzige im nächtlichen Lokal anwesende Person, eine Frau von etwa fünfzig Jahren. Ihre müdes Gesicht wirkt wie versteinert, ihr starrer Blick ist auf ein nicht mehr sichtbares Objekt gerichtet. Der Körper der Frau neigt sich fast unmerklich zur Seite, ihre linke Hand stützt sich leicht auf die Tischkante. Sie trägt ein ärmelloses, enganliegendes, tief ausgeschnittenes Kleid aus schwarzem, perlenbesetzten Stoff mit entsprechendem Halsband, mehrere klobige Ringe und einen sehr breiten silbernen Armreif. Der linke Schulterträger ihres Kleides hängt verrutscht nach unten, die Frisur ihres dichten roten Lockenhaares ist zerzaust, über ihre Wangen rinnen Tränen und zerlaufende Wimpertusche. Die Frau ist die Besitzerin des Lokals. Sie sieht dem Mann nach, den sie liebt, dem Mann, der noch vor kurzem die Hauptattraktion ihres Etablissements war, dem Mann, der sie soeben verlassen hat, einem Mann, der nach langen Jahren, die er als Stimmungssänger an Land verbrachte, infolge einer persönlichen Enttäuschung beschlossen hat, wieder zur See zu fahren.

2 Kommentare:

  1. Seemannsbraut ist die See, und nur ihr kann er treu sein ... ;-)

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    1. … wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der großen Freiheit Glück! ;-)

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