14. Juni 2014

Standbild (1)

Familiensache

Innen. Schloßhalle. Nacht. Der Fußboden ist vollständig mit hellen, kleingemusterten Knüpfteppichen bedeckt, deren Kanten und Fransen einander überlappen. Links an der Wand befindet sich ein großer offener Kamin mit einer wuchtigen Marmoreinfassung. Auf dem massigen Sims stehen ein feingliedriger, silberner Pokal und ein schweres, schwarzes Gefäß, das an eine Urne gemahnt. Die Feuerstelle des Kamins umgibt, in halbkreisförmiger Anordnung, eine Sitzgruppe, die aus mehreren kastigen Fauteuils sowie einem thronartigen Sessel mit sehr hoher Rückenlehne, geschwungenen Beinen, gedrechselten Verzierungen und streng gestreiftem Stoffbezug besteht. Im rückwärtigen Bereich der Halle führt eine breite Steintreppe zunächst auf ein Zwischenpodest, von dort weiter nach links auf eine Galerie, die den gesamten weitläufigen Raum überblickt. Die beiden unteren Abschlußsäulen der Balustraden dienen jeweils als Halterung für vielarmige Bronzekandelaber. Auf dem Treppenpodest ist genau mittig eine zweibeinige Konsole plaziert, auf der ein Kerzenhalter und, den Leuchter links und rechts flankierend, zwei bauchige Metallgefäße symmetrisch arrangiert sind. Über dem Wandbord hängt ein Gobelin von beachtlichen Ausmaßen. Die Tapisserie stellt in annähernder Lebensgröße eine festliche Gesellschaft dar: Eine Schar von anmutigen, nach Mode des Rokoko frisierten Frauen in üppig gerüschten Roben sitzt ausgelassen um einem runden Tisch; seitlich hinter ihnen öffnet sich der Blick in eine idyllische Landschaft, wo eine Gruppe von Musikantinnen lagert. Im Vordergrund der Halle stehen drei Personen, reglos, mit hängenden Armen und gesenkten Köpfen: eine junge blonde Frau, die ein kariertes Tageskostüm und weiße Pumps trägt, sowie zwei Männer mittleren Alters in dunkelgrauen Straßenanzügen. Alle drei blicken schweigend auf den Boden, wo eine Frau von etwa siebzig Jahren liegt. Ihr Kopf ist zurückgekippt, das spitze Kinn weit hochgereckt, Augen und Mund sind geschlossen. Ein starkes Make-up läßt ihre distinguierten Gesichtszüge gläsern und maskenhaft erscheinen. Den zarten Körper der liegenden Frau umhüllt der in feine Falten geworfene, weiße Seidenstoff eines eleganten Abendkleides. An den Handgelenken und um den Hals, an den Ohren und im dichten schwarzen Haar der Frau glitzern schwere, mit verschiedenfarbigen Edelsteinen besetze Schmuckstücke: breite Armreifen und ein mehrreihiges Collier, tropfenförmige Ohrgehänge und ein dreieckiges Diadem. Der linke Arm der Frau ist seitlich vom Körper abgewinkelt. Auf dem Rücken der knochigen Hand, deren Fingernägel sorgfältig lackiert sind, rinnt ein dünner Blutfaden aus einer winzigen Wunde. Die alte Dame hat sich vor wenigen Augenblicken mit einer vergifteten Nadel, die im Inneren ihres aufklappbaren Siegelringes verborgen war, das Leben genommen, nachdem man sie als Brudermörderin und Erbschleicherin entlarvt hatte.

2 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Ich habe ihre Bekanntschaft gemacht, als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Seither bin ich ein Fan von ihr … ;-)

      Löschen