11. Mai 2012

Teekanne und Kuchen und Ball (und Geisterreiter am Himmel)

DVD | »Der Kommissar« von Herbert Reinecker und Zbynek Brynych (1969/1970)

Herbert Reineckers Kommissar Herbert Keller war der Willy Brandt unter den deutschen Fernsehermittlern. Beide traten ihr Amt 1969 an, beide versahen es in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche, beiden eignete die gleiche, stets ein wenig resignative, sozialliberale Toleranz, beide hatten die gleiche hohe Stirn, die gleichen feinen Züge, beide hegten eine Leidenschaft für Zigaretten und sprachen, vielleicht nicht ohne Grund, dem Cognac zu.

Kommissar Keller, verkörpert von Erik Ode, ermittelte mit seinen drei Assistenten – Grabert (der Schöne – Günther Schramm), Heines (der Grobe – Reinhard Glemnitz) und Klein (der Sanfte – Fritz Wepper) – nebst Faktotum »Rehbeinchen« (zuständig für Kaffeekochen, Ausschank von Hochprozentigem und Steno: Helma Seitz) in insgesamt 97 (Todes-) Fällen. (Leider nur) vier Folgen inszenierte der tschechische Regisseur Zbynek Brynych, der Reineckers entrückten Blick auf die ihm nicht geheuren Zeitläufte, sein Faible für unheilschwangere personelle Konstellationen, seine echohaft-zwangsgestörten Wortwechsel bravourös gegen den Strich bürstete und in hintergründig-ausdrucksstarke sittenbildnerische Fieberträume verwandelte:

»Ich versuche, die Unberechenbarkeit der Emotionen zu kalkulieren. So komme ich auch zu den oft abrupten Übergängen, zu den Überraschungen und unlogischen Momenten. Durch die zwingt man die Zuschauer, sich zu fragen: Was soll das jetzt?« (Zbynek Brynych in einem Gespräch mit Stefan Ertl und Rainer Knepperges)

Vier alltägliche Verwirrungen

(K Kamera | M Musik | D Darsteller (in allen Episoden Erik Ode, Günter Schramm, Reinhard Glemnitz, Fritz Wepper, Helma Seitz) | E Erstausstrahlung)

Die Schrecklichen
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Rolf Kästel M Peter Thomas D Dirk Dautzenberg, Helga Anders, Karl Walter Diess, Hans Schweikart, Albert Hoerrmann, Thomas Ohrner E 17. Juni 1969 | »Was heute passieren wird, werden die meisten erst morgen erfahren.« Am Isarwehr liegt ein Toter. Besoffen war er. Ertrunken ist er. Und beraubt hat man ihn. Es ist schon der dritte, den man dort findet. Wer aber sind die fünf alten Männer in Schwarz, die immer um das Wehr schleichen? Warum folgt ihnen stets ein kleiner Junge (Tommi ›Timm Thaler‹ Ohrner!) mit einem Ball? Welche Rolle spielt der schmierige Kneipier, der das Opfer am Vorabend der Tat mit Alkohol abfüllte? Hat die (junge) Alte des Wirts, die alle Kerle mit offenen Lippen ansieht, etwas mit der Sache zu tun? Oder seine verstörte Tochter, die auf gepackten Koffern sitzt, bereit, mit jedem zu gehen, der sie fortbringen würde? Oder der abgerissene Nachbar, der einer verlorenen Liebe nachtrinkt? Aber da sind ja schon wieder die fünf unwürdigen Greise. Sie johlen. Sie feixen. Sie warten. Auf wen?

Der Papierblumenmörder
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Manfred Ensinger M Peter Thomas D Christiane Schröder, Gisela Fischer, Thomas Fritsch, Hilde Weissner, Herbert Tiede, Eva Mattes E 16. Januar 1970 | Ein zerbeulter VW-Bus auf dem Autofriedhof. Darin sitzt Billy, blickt dir in die Augen und fleht: »Bitte, schieß doch.« Dann wird sie von der tödlichen Kugel ins Herz getroffen. Billy war ein Mädchen aus dem Fürsorgeheim. Ihre beste Freundin Bonny (Christiane Schröder – eine Art Julianne Moore der alten Bundesrepublik, in einem Augenblick ätherisch-verträumt, dann wieder, ganz plötzlich, feindlich und schrill) glaubt zu wissen, wer den Schuß abfeuerte: Billys reicher Gönner, ein Mann in den besten Jahren, einer, den sie wirklich mochte, weil er der Vater war, den sie vermißte. Durch ein Delirium aus wilden Schwenks und Reißzooms, vorbei an Gammlern und einer reichlich empathischen Jugendpyschologin tastet (und tanzt!) sich der Kommissar an ein weiteres verdächtiges Subjekt heran: »Teekanne« (Thomas Fritsch als zerfranste Sumpfblüte aus dem Blumenkindergarten), der nicht spricht und nichts besitzt, nur eben eine Teekanne und – einen rostigen Revolver.

Tod einer Zeugin
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Manfred Ensinger M Herb Alpert D Götz George, Werner Bruhns, Wolfgang Spier, Klaus Dahlen, Renate Roland E 6. Februar 1970 | Ein Callgirl liegt erschossen auf ihrem Flauschfell. Erschossen? Erschossen. Der Tod der Dame hat, so scheint es, etwas mit Erpressung von Kunden zu tun. Ihr langjähriger Spießgeselle könnte die Tat beauftragt haben, weil sie aussteigen und gegen ihn aussagen wollte. Vielleicht war es aber auch ganz anders. Der querschnittgelähmte Nachbar hat von seinem Fenster aus alles gesehen, will aber nicht raus mit der Sprache. Dabei sind: George als pelz- und nadelstreifentragender Psycho-Lachsack, Dahlen als ewig kuchenfressender Dummkopf, Spier als ertappter Freier, Renate Roland als Gaga-Girl von nebenan. Dazu dudelt von einem Tonband in quälender Endlosschleife Herb Alperts »A Banda« (wozu es die Nutte zu Lebzeiten stets getrieben hat), während irgendjemand immer mal wieder völlig grundlos in schallendes Gelächter ausbricht.

Parkplatz-Hyänen
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Manfred Ensinger M Tom Jones D Marianne Hoppe, Johannes Heesters, Werner Pochath, Ida Krottendorf, Eva Mattes, Günther Neutze, Michael Jakubeck, Raul Fernandez E 27. Februar 1970 | »Their faces gaunt, their eyes were blurred, their shirts all soaked with sweat …« Ein Toter an der Autobahn. Beraubt und erschossen. In Verdacht geraten die Brüder Boszilke. Die mit allerhand dubiosem Geschwärtel bei den Eltern leben. Während Vater Eberhard (›Jopi‹ Heesters als Zirkuskönig ohne Reich) Hähnchen zerfleischt und über imaginäre Krankheiten lamentiert, hat Mutter Lotte (die Hoppe als reizbar-absolutistische Megäre) eine fürsorgliche Schreckensherrschaft über sämtliche Idioten der Familie errichtet, eine Despotie, der niemand entgeht, die alle beschützt. Blut mag dicker sein als Schnaps, dennoch ist es nur eine Frage der Zeit bis unter dem starren Blick des Kommissars der Herbst der Matriarchin anbricht und die Wahrheit ans Licht des trüben Tages kommt. »Yippie yi ohhhhh! / Yippie yi yaaaaay!«

»Ich habe die Ansicht, wenn man in 50 Jahren etwas über die Zeit vor 50 Jahren erfahren will, dann wird man das am ehesten durch die Krimis erfahren.« (Zbynek Brynych)

4 Kommentare:

  1. Damit dürftest du Manfred Polak in Wallungen versetzen. Sein perfektes Wochenende ist gesichtert. Ich wiederum gebe mich der Nostalgie hin und steige in die Badewannwe. ;)

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  2. Quietscheentchen nicht vergessen! Und die Badezimmertür abschließen … ;)

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  3. Jaja, es wallt schon. Etwa die Szene mit dem Kugel-Sessel in "Tod einer Zeugin" ist ja völlig unglaublich. Ich glaube auch, dass Brynych trotz seiner nur 4 Folgen nach seinem vorübergehenden Abgang noch einen gewissen Einfluss ausübte. Beispielsweise in der ziemlich brynychesken Schlägerei zwischen Vadim Glowna und Laurence Bien auf dem Klo in "Der Mord an Frau Klett". Ich glaube nicht, dass sich Dietrich Haugk sowas ohne Brynychs Vorarbeit getraut hätte. Übrigens ist Brynych in "Parkplatz-Hyänen" kurz zu sehen, und in "Eine Kugel für den Kommissar", den Erik Ode inszenierte, hat er sogar einen kurzen Dialog. Aber ein Geistesverwandter der Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner weiß sowas ja nicht zu würdigen!

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  4. Schon bemerkenswert, was sich Mainstream-TV seinerzeit so an Exzentrizitäten und Abschweifungen erlaubte. Der letzte, dem heute noch so etwas gestattet ist, scheint Dominik Graf zu sein, der Brynych und seinen Durchgeknalltheiten ja auch tief verpflichtet ist.

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