Vier Hollywood-Filme von René Clair
Mit dem avantgardistischen »Entr’acte« erregte er 1924 Aufsehen, seine poetisch-stilisierten Pariser Alltagskomödien machten Clair in der Frühzeit des Tonfilms weltberühmt. (»A nous la liberté« gilt als Vorbild für Chaplins »Modern Times«.) Er arbeitete in England, die deutsche Besetzung Frankreichs trieb ihn ins Exil, Hollywood empfing den prominenten Flüchtling mit offenen Armen. In vier Spielfilmen konnte Clair seinen lebensvoll-illusionären Esprit auch dem amerikanischen Studiosystem unterjubeln.
1941 | »The Flame of New Orleans« (»Die Abenteurerin«)
New Orleans, 1840. Ein luxuriöses Brautkleid treibt auf dem Mississippi. Wie kam es dorthin? Und was ist aus der Trägerin geworden? Hat sie wirklich kurz vor der Hochzeit Selbstmord begangen? Mit froufrouesker Ironie erzählt René Clair die Geschichte der angeblichen Gräfin Claire Ledoux, ihrer männerfängerischen Künste und gelegentlichen Ohnmachten. Dazu setzt er Marlene Dietrich, die hinreißende Darstellerin der Titelrolle, in schmeichelndes Licht, hüllt sie in prachtvolle Roben, garniert sie mit der nostalgischen Atmosphäre des amerikanischen Südens – das lasziv-erotische Image der Diva und liebgewordene Klischeebilder vom mythischen Dixie gleichermaßen in parodistischer Absicht genüßlich überzeichnend. Daß die schöne Glücksritterin, die sich einen fürnehm-gichtigen Bankier angeln will, schließlich die Fänge eines kernig-schmucken Seemanns gerät, erscheint als schlüssige (und in jeder Hinsicht befreiende) Pointe dieser augenzwinkernden Romanze.
1942 | »I Married a Witch« (»Meine Frau, die Hexe«)
»Ever hear of the decline and fall of the Roman Empire? That was our crowd.« Bestrickend (über)sinnliche und angenehm kurz(weilig)e screwball fantasy über eine sexy Hexe (Veronica Lake), die knapp 300 Jahre, nachdem sie und ihr dämonisch-versoffener Vater von dem linientreuen Neu-England-Puritaner Jonathan Wooley (Fredric March) auf den Scheiterhaufen geschickt wurden, aus dem Reich der (Un-)Toten ins irdische Leben zurückkehrt, wo sie Rache am Nachfahren des sittenstrengen Saubermanns, dem aufstrebenden Politiker Wallace Wooley (Fredric March), nehmen will. René Clair entfacht allerhand romantischen Budenzauber und nutzt die poetische Farce, um sich über moralische Scheinheiligkeit sowie die absurden Mechanismen der modernen Mediendemokratie lustig zu machen. (»I Married a Witch« erklärt ganz nebenbei, aber sehr plausibel, auf welch magische Weise in den Vereinigten Staaten (und wohl nicht nur dort) Wahlen gewonnen werden.) Wie es einer Komödie zukommt, finden sich zu guter Letzt Diesseits und Jenseits in kordialer Harmonie – denn: »Love is stronger than witchcraft.«
1944 | »It Happened Tomorrow« (»Es geschah morgen«)
Morgen ist heute gestern, die Gegenwart ist die Zukunft der Vergangenheit, oder, wie es der alte Pop Benson, das Redaktionsfaktotum der ›Evening News‹, philosophisch formuliert: »Time is only an illusion!« ... Einmal die Zeitung vom kommenden Tag in den Händen zu halten – das wünscht sich der (bislang ausschließlich mit Nekrologen befaßte) ambitionierte Nachwuchsjournalist Larry Stevens (Dick Powell). Wäre es nicht toll, einen verbürgt sensationellen Knüller vorab geliefert zu bekommen, oder mit hundertprozentiger Gewinngarantie auf die Sieger sämtlicher Pferderennen wetten zu können? Was aber, wenn einem in fetten Lettern das unmittelbar bevorstehende eigene Ableben annonciert würde? (»Mysterious Death of Promising Reporter!«) Unter tatkräftigem Beistand der hübschen Sylvia (Linda Darnell), die an der Seite ihres Onkels als Hellseherin im Varieté auftritt, unternimmt Larry mancherlei mehr oder weniger verzweifelte Versuche, dem angekündigten Tod von der Schippe zu springen ... Angesiedelt in der guten alten Zeit um die Jahrhundertwende, witzelt René Clairs phantastisch-romantische Komödie über die Fragwürdigkeit sogenannter Nachrichten und vermittelt anschaulich-amüsant, daß, wer seine Zukunft kennt, keine ruhige Minute mehr hat.
1945 | »And Then There Were None« (»Das letzte Wochenende«)
Zehn Personen suchen ihren Mörder: ein greiser General, eine alte Jungfer, ein alkoholischer Arzt, ein exilrussischer Schnorrer, eine schmucke Sekretärin, ein pensionierter Richter, ein undurchsichtiger junger Mann, ein nicht sonderlich heller Detektiv sowie ein zwieträchtiges Dienstbotenehepaar werden von einem gewissen U. N. Owen (der nicht ganz so unbekannt bleiben wird, wie es sein sprechendes Pseudonym vermuten läßt) auf eine abgelegen-sturmumtoste Insel geladen und dortselbst wegen ungesühnter Verbrechen zum Tode verurteilt. Nach dem Prinzip des bekannten Kinderreims (»Ten little Indian boys went out to dine ...«) sieht sich das buntgewürfelte Personal der Handlung peu à peu auf unterschiedliche Art und Weise dezimiert. Zwar paßt René Clairs elegante Formstrenge nicht schlecht zu Agatha Christies artifizieller Whodunit-Arithmetik, doch gibt sich (trotz einer illustren Besetzung) die kriminalistische Spannung bei dieser kühl arrangierten Gruppenarbeit zum Thema Recht und (Selbst-)Gerechtigkeit nur gelegentlich die Ehre – zumal der glimpfliche Schluß der Bühnenfassung das stringentere Ende der Romanvorlage ersetzt.
Ja, Clair war schon einer von den Guten. Kristin Thompsom hat gerade die Liste der (ihrer Meinung nach) zehn besten Filme von 1930 gepostet, und da ist SOUS LES TOITS DE PARIS mit dabei. Und er passte viel besser nach Hollywood als etwa Renoir. Vielleicht war es ein Segen für ihn, dass er nach dem politisch aufgebauschtem Skandal um LE DERNIER MILLIARDAIRE in der franz. Filmindustrie nicht mehr wohlgelitten war und erst mal einige Jahre nach England ging. Da konnte er sich schon mal an die Angelsachsen akklimatisieren, aber der Sprung war noch nicht zu groß.
AntwortenLöschenIch mag auch seine Nachkriegsfilme, die ja machmal weniger hoch eingeschätzt werden. Vor allem PORTE DES LILAS, in dem Pierre Brasseur als ständig angesäuselter, mit den Armen rudernder Brummbär ziemlich grandios ist.
... zumal der glimpfliche Schluß der Bühnenfassung das stringentere Ende der Romanvorlage ersetzt.
Als ich den Roman las, glaubte ich von Anfang an, den Schluss zu kennen, weil ich ja schon drei oder vier Verfilmungen (darunter die von Clair) gesehen hatte. Und erlebte dann eine Riesenüberraschung - was ja auch nicht das Schlechteste ist. Auch seitdem habe ich noch keine Verfilmung mit dem Roman-Schluss gesehen (insgesamt sind es jetzt fünf, glaube ich, die ich kenne). Da haben Clair und Dudley Nichols offenbar für alle Zeiten die Richtung vorgegeben.
Frohes Neues Jahr erst mal und danke fürs Feedback! :o) ... »Porte des Lilas« steht auch noch auf meiner To-See-Liste. Merkwürdig, wie Clairs Ruhm verbaßt ist – Tavernier hat ihn in seiner »Voyage à travers le cinéma français« ja schon unter die »Vergessenen« gebucht ... Die drei Fassungen des Christie-Stoffes, die ich kenne, beziehen sich in der Tat alle auf das Theaterstück, aber es gibt, wie ich gelesen habe, eine britische Miniserie von 2015, die das Romanende verwendet.
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