16. Februar 2017

Pinteresque

Filme nach Drehbüchern von Harold Pinter

»What goes on in my plays is realistic, but what I’m doing is not realism.« (Harold Pinter, 1961)

Harold Pinter (1930-2008) ist bis heute der einzige Träger des Literaturnobelpreises, dessen Arbeit für den Film (und das Fernsehen) gleichrangig neben dem literarischen (in diesem Falle: dramatischen) Werk steht. Abgesehen von mehreren Fernsehspielen verfaßte Pinter zwischen 1963 und 2007 über 20 Drehbücher für so unterschiedliche Regisseure wie Joseph Losey und Elia Kazan, William Friedkin und Karel Reisz. Der Bühnenautor Pinter, neben Franz Kafka stark von Samuel Beckett beeinflußt, wird, vor allem mit seinen frühen Stücken, dem Theater des Absurden zugerechnet. Anders als Beckett suchte er die tragikomische Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz allerdings nicht im überzeitlichen Irgendwo darzustellen sondern in herkömmlich möblierten Zimmern. Alltagssprachliche Dialoge legen mittels redundanter Schleifen und ausgeleierter Floskeln, absichtlicher Mißverständnisse und apathischer Begriffsstutzigkeit, aberwitziger Komik und bedeutungsvoller Pausen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen bloß, offenbaren die Illusion von Sicherheit, die Brüchigkeit von Ordnung. Späterhin gewann das Thema Erinnerung zunehmend Bedeutung für Pinter, wobei er sein Augenmerk auf die – bewußte oder unbewußte – nachträgliche Manipulation des Erlebten sowie auf die stetige wechselseitige Beeinflussung von Vergangenheit und Gegenwart richtete. Harold Pinter hat kein einziges Originaldrehbuch geschrieben, sondern (neben vier eigenen Stücken) ausschließlich Werke anderer Autoren für die Leinwand adaptiert; er selbst bezeichnete diese Form künstlerischer Arbeit als »serious and fascinating craft«. Zwei seiner Drehbücher wurden für den Oscar nominiert.

1963 | »The Servant« (»Der Diener«)

Der reiche Schnösel Tony (James Fox) bezieht ein Haus in schicker Londoner Gegend und engagiert den Diener Barrett (Dirk Bogarde) zur persönlichen Rundumversorgung: »I need everything«, gibt der junge Herr dem dienstbaren Geist im Einstellungsgespräch offenherzig zu verstehen – wobei schon in dieser ersten Szene des Films die Frage im Raum steht, wer sich hier eigentlich wen aussucht. Mit formvollendeter Servilität und ausgekochter Resolutheit – sowie unter wohlbedachtem Einsatz des triebhaft-erbötigen Flittchens Vera (Sarah Miles) – übernimmt der Untergebene peu à peu das Regiment im Heim und im Leben des Hausherrn. Tonys mißtrauische (= eifersüchtige) Verlobte Susan (Wendy Craig), von Barrett souverän ins Aus manövriert, stellt ihm die entscheidende Frage: »What do you want from this house?« Die heimtückisch-devote Antwort: »I'm the servant, Miss.« … Zuvörderst läßt sich »The Servant« als Allegorie des Klassenkampfes lesen: Tony als Symbol der dekadenten upper crust, Barrett als Personifikation der aufstrebenden Unterschicht. Doch jenseits historisch-materialistischer Veranschaulichung setzen Harold Pinter und Regisseur Joseph Losey ein ironisch-ausgeklügeltes Machtspiel in Gang, ein explosiv-doppelbödiges Beziehungsballett um Dominanz und Unterwerfung. Dann ist da die boshaft-klaustrophobische Travestie einer Ehegeschichte: Tony und Barrett als Paar, das sich gesucht und gefunden hat, das sich bis zur letzten Konsequenz pervers-perfekt ergänzt. Und schließlich läuft ein tiefenscharf-neoexpressionistischer Psycho-Horror-Streifen ab (Kamera: Douglas Slocombe): Barrett als Vampir, der sich von Tonys Lebensenergie nährt, der ihn aussaugt, bis lediglich seine leere Hülle übrig bleibt.

1964 | »The Pumpkin Eater« (»Schlafzimmerstreit«)

Szenen einer Ehe in den Zeiten des Überflusses ... »My life is an empty place.« Diejenige, die das sagt, hat acht (!) Kindern von drei Vätern: Jo Armitage (Anne Bancroft), verheiratet mit Jake (Peter Finch), einem erfolgreichen Drehbuchautor, der jedem Rock hinterherläuft. »The Pumpkin Eater« (der Titel zitiert einen alten englischen Kinderreim: »Peter, Peter, pumpkin eater / Had a wife and couldn't keep her. / He put her in a pumpkin shell / And there he kept her very well«) verfolgt – von Harold Pinter nicht linear nacherzählt, sondern in erhellenden Rück- und Vorausblenden seziert – den Weg eines wohlhabenden Londoner Paares vom ersten Kennenlernen, durch Höhen und Tiefen, bis zur großen Krise (Höhepunkt: Jos theatralischer Nervenzusammenbruch im Kaufhaus Harrods), in der sich (für beide Partner) die Frage von Gehen oder Bleiben stellt. Regisseur Jack Clayton – der zuvor, mit jeweils großer formaler Finesse, eine düstere Sozialstudie und einen schauerromantischen Horrorfilm drehte – inszeniert die Beziehungsgeschichte der krankhaft fruchtbaren Frau und des zwanghaft fremdgängerischen Mannes im Stile eines extravaganten Naturalismus von bisweilen halluzinatorischer Qualität. Die Thematisierung zwischenmenschlicher Entfremdung, die satirische Verzerrung gesellschaftlicher Verhältnisse verraten Einflüsse von Antonioni und Fellini; Oswald Morris’ scharfsichtige Schwarzweißbilder, Georges Delerues elegischer Score, vor allem aber die außerordentlichen Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen dieser ebenso originellen wie strapaziösen filmischen Betrachtung von Liebe und Sex, Bindungswunsch und Fluchtreflex, Normen und Neurosen ihre ganz eigentümliche Faszinationskraft.

1966 | »The Quiller Memorandum« (»Das Quiller-Memorandum – Gefahr aus dem Dunkel«)

»That’s where you are, Quiller. In the gap.« Surreal angehauchte Spionagecharade in den Ruinen und Neubauten von (West-)Berlin: Quiller (ein Mann allein: George Segal) auf der Spur einer konspirativen Neonazi-Organisation unter der semmelblonden (Reichs-)Führung eines gewissen ›Oktober‹ (Max von Sydow). Vom modernen Glasturm des Europa-Centers bis zur verranzten Kreuzberger Absteige, von den ausgebombten Gründerzeitvillen im Tiergartenviertel bis zu den Betonbändern der Stadtautobahn nutzt Harold Pinter die Halbstadt als Bühne eines absurden Theaters der Undurchschaubarkeit, des Mißtrauens, der Verstellung. Michael Andersons unverspielte Inszenierung der sehr freien Bearbeitung des betont knallharten Agentenromans von Adam Hall wird insbesondere der spröden Ironie der hintergründigen Pinterschen Dialoge gerecht. Mit von der geheimnisvollen Partie: Alec Guinness, erzbritisch und mit einer Vorliebe für Leberwurst, sowie Senta Berger, jung und schön und weniger unschuldig, als man denken möchte. Dazu ein melancholisch aufrauschender Soundtrack von John Barry: »I am wednesday’s child, born to be alone.«

1967 | »Accident« (»Accident – Zwischenfall in Oxford«)

Ein Sonntagnachmittag im Garten. Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Rosalind macht ein Nickerchen, Stephen jätet Unkraut, Anna flicht einen Kranz aus Gänseblümchen, Charley erklärt William, wie einfach es ist, einen Roman zu schreiben: »Child’s play. All you need is a starting point. Here for instance.« – »Where?« – »Here, on this lawn. What are we all up to?« Rosalind (Vivien Merchant) ist hochschwanger, ihr introvertierter Ehemann Stephen (Dirk Bogarde), Dozent in Oxford, lechzt nach seiner attraktiven Studentin Anna (Jacqueline Sassard), die mit ihrem blaublütigen Kommilitonen William (Michael York) zusammen ist und mit Stephens großspurigem Kollegen Charley (Stanley Baker) ins Bett geht … Die Emotionen, die dieser spannungsreichen Konstellation innewohnen, werden fast vollständig kaschiert vom jederzeit angemesenen Verhalten der wohlerzogenen Beteiligten, sind zwischen den Zeilen der herausfordernd belanglosen Konversationen (Harold Pinter auf der Höhe seiner Kunst) lediglich zu erahnen, entladen sich jedoch schließlich im titelgebenden Unfall. Die Katastrophe (von der ausgehend die Handlung als Rückblende entwickelt wird) ist nichts weiter ist als einer der vielen scheinbar zufälligen Umstände, die sich, von Joseph Losey demaskierend präzise in Szene gesetzt, zur elliptischen Erzählung reihen. »Philosophy«, erläutert Stephen in einer Tutorenstunde, »is a process of inquiry only. It doesn’t attempt to find specific answers to specific questions.« Losey und Pinter tun im Grunde nichts anderes: Sie untersuchen an ihren Studienobjekten Phänomene wie Verlangen und Frustration, Ehrgeiz und Entwürdigung, Contenance und Grausamkeit. Daß dabei das (durchaus ironische) Portrait einer Gesellschaft von (hochkultivierten) Zombies entsteht, ist wohl so wenig zufällig wie der Crash, mit dem der Film beginnt und endet.

1971 | »The Go-Between« (»Der Mittler«)

»The past is a foreign country. They do things differently there.« Das Jahr 1900. Ein Sommer auf dem Lande. Zuerst: Hitze, Geheimnis, Mutmaßung. Dann: Gewitter, Erkenntnis, Ende der Unschuld. Der 12jährige Bürgersohn Leo Colston verbringt die Ferien auf Brandham Hall, dem Anwesen der Familie eines adligen Schulfreunds. Nicht ganz unfreiwillig gerät der Gast in die Liebeshändel zwischen Marian, der schönen (und mit einem sympathischen Viscount verlobten) Tochter des Hauses (divine: Julie Christie), und dem benachbarten Farmer Ted Burgess (down-to-earth: Alan Bates). Leo trägt Briefe hin und her, übermittelt – anfangs eifrig-naiv, später mißtrauisch-widerstrebend – zärtliche Botschaften, deren substantiellen Inhalt er dunkel ahnt, ohne ihn noch benennen zu können. Harold Pinters Drehbuch, die Adaption eines autobiographisch inspirierten Romans von L. P. Hartley, erforscht eine gleichermaßen verlockende wie unwirtliche Welt aus der Perspektive eines Außenseiters, der, als Botschafter über Geschlechter- und Klassengrenzen hinweg, unweigerlich in Loyalitätskonflikte verwickelt wird. Regisseur Joseph Losey, ein in England gestrandeter Midwesterner, beschreibt das einerseits sorglos-luxuriöse, andererseits in Etikette und Ritual befangene Leben der britischen Oberklasse greifbar, anschaulich, lebendig, schafft eine helldunkle, von Michel Legrands neobarockem Klavierscore kongenial verstärkte Atmosphäre von Bedrohung und Glanz, Nervosität und Sehnsucht. Letztlich erweist sich die immer wieder von subtil irritierenden Vorausblenden unterbrochene (Coming-of-age-)Erzählung als Erinnerung an eine Vergangenheit, die (mehr als) ein ganzes Leben düster überschattet hat.

Anfang der 1970er Jahre verfaßte Harold Pinter für Joseph Losey eine Adaption von Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«, die das siebenbändige Romanwerk zu einem Film von etwa vier Stunden Länge kondensieren sollte. Die Umsetzung des 200seitigen Drehbuch mit seiner komplexen Rückblendenstruktur kam aus finanziellen Gründen nicht zustande. Das Skript erschien 1977 als Buch (»The Proust Screenplay«) und wurde im Jahr 2000 von Pinter für die Bühne bearbeitet.

1976 | »The Last Tycoon« (»Der letzte Tycoon«)

»So how do you want the girl?« – »Perfect.« Harold Pinters Adaption des letzten, unvollendet gebliebenen Romans von F. Scott Fitzgerald, entwirft das Bildnis eines fanatischen Perfektionisten und egomanen Arbeitstiers: Die Figur des Monroe Stahr (Robert De Niro), Produktionschef der International World Films, eines der größten Studios im Hollywood der 1930er Jahre, ist angelehnt an Irving Thalberg, der eine vergleichbare Position bei MGM innehatte. Stahr, Erfinder der hierarchischen Arbeitsteilung im Studiosystem, eingeschworener Gegner des künstlerischen Mitspracherechts für Untergebene, unbeschränkter Herrscher im Atelier wie im Vorführraum, wird in diversen Situationen gezeigt, die schlaglichtartig seine Persönlichkeit beschreiben: wie er einem verunsicherten Star (Tony Curtis) über Potenzprobleme hinweghilft, wie er eine kapriziöse Diva (Jeanne Moreau) umschmeichelt, wie er einen unfähigen Regisseur (Dana Andrews) entläßt, wie er einem frustrierten Autor (Donald Pleasence) das Geheimnis des Kinos erklärt, wie er den skeptischen Studioboß (Robert Mitchum) in Schach hält, wie er betrunken einen radikalen Gewerkschafter (Jack Nicholson) attackiert, wie er eine Frau umgarnt, die ihn an seine verstorbene Gattin erinnert. Stahrs Leidenschaft für die enigmatische Kathleen Moore (Ingrid Boulting) entspricht seiner Obsession für das Medium Film, und wie ein Kinostück arrangiert er denn auch die Affäre mit der geisterhaft wirkenden Schönen, die sich ihm letztendlich entzieht. Elia Kazans sorgfältig-stilbewußte, unterkühlt-langsame Inszenierung der episodisch strukturierten Milieu- und Charakterstudie verfolgt das Schicksal des zwiespältigen Helden bis zu seinem unvermeidlichen Sturz, wobei das Ausmalen (un-)romantischer Stimmungen die Darstellung der in der Filmmetropole waltenden (Produktions-)Verhältnisse immer wieder in den Hintergrund treten läßt. PS: »All writers are children. Fifty percent are drunks. And up till very recently, writers in Hollywood were gag-men; most of them are still gag-men, but we call them writers.«

To be continued (some day) ...

2 Kommentare:

  1. Schöne Zusammenstellung. Erst gestern war Pinter in der Neuauflage von SLEUTH im Fernsehen (aber auf einem Sender, den ich nicht goutiere).

    THE PUMPKIN EATER fand ich auch sehr faszinierend, als ich den mal gesehen habe. Schon allein dieser Mund in Großaufnahme ...

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    1. Dankeschön :o) Eigentlich habe ich vor, noch zwei Teile folgen zu lassen, einen über die Verfilmungen von Pinters Theaterstücken und einen weiteren über die späteren Adaptionen von »The French Lieutenant's Woman« bis »Sleuth«. Letzteren habe ich mir neulich auf DVD zu Gemüte geführt. Pinter hat das Stück sehr clever gerafft und ihm eine interessante neue Schlußpointe verpaßt; die Inszenierung von Branagh ist allerdings so penetrant kunstgewerblich, daß der Genuß doch arg geschmälert wird.

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