15. Mai 2014

Zwischen Zeiten, zwischen Welten

Die Spielfilme von Thomas Brasch

Thomas Brasch, Lyriker, Prosaist, Stückeschreiber und Filmemacher, wurde 1945 als Sohn deutscher Emigranten in England geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die jüdische Familie in die sowjetische Besatzungszone. Der Vater, Horst Brasch, machte Karriere als SED-Funktionär, brachte es bis zum stellvertretenden Kulturminister der DDR, während sein ältester Sohn immer wieder in Konflikt mit dem realsozialistischen System geriet: Ein Journalistikstudium in Leipzig mußte Thomas Brasch aufgrund kritischer politischer Äußerungen beenden; wegen einer Protestaktion gegen die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts wurde er von der Babelsberger Filmhochschule relegiert und zu einer Haftstrafe verurteilt. Es folgte die obligatorische »Bewährung in der Produktion«, anschließend lebte und arbeitete Thomas Brasch als freier Schriftsteller. Eine Nummer der Lyrikheft-Reihe »Poesiealbum« blieb seine einzige Veröffentlichung im Osten Deutschland. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 verließ Thomas Brasch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach die DDR. Er lebte fortan in Westberlin, wo auch seine drei Spielfilme entstanden. 


1981 | »Engel aus Eisen«

»Lieber Gott, erspar mir, in einer uninteressanten Zeit zu leben.« Am 10. November 1950 starb der 19jährige Berliner Bandenchef Werner Gladow in Frankfurt/Oder unter dem Fallbeil. Der jugendliche Verbrecher, der Al Capone zu seinem Vorbild erkoren hatte und schon zu Lebzeiten eine Legende war, wurde immer wieder zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung: Erich Loest verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman »Die Westmark fällt weiter«, Christa Reinig verewigte den Fall in der »Ballade vom blutigen Bomme«. Der Dichter Thomas Brasch schöpft frei aus dem historischen Faktenmaterial, erzählt das Treiben der berüchtigten Bande als elegisches, symbolisch aufgeladenes Gangster-Märchen in traumhaft klarem Schwarzweiß: die Trümmer, die Stadt und der Tod. Das zerstörte Berlin, von den zerstrittenen Siegern des Weltkriegs geteilt, liegt im heißen Sommer 1948 unter dem Motorenlärm der Luftbrücke. Unaufhörliches Dröhnen der Flugzeuge, dazu Schwarzmarkt, Stromsperren und intersektorales Behördengerangel – ideale Bedingungen für jede Form von krimineller Aktivität. Gladow, ein unerbittliches Milchgesicht (Ulrich Wesselmann), das auch schon mal auf der Guillotine probeliegt, und seine Spießgesellen, darunter der ehemalige Henker Gustav Völpel (Hilmar Thate), nutzen die Gunst der Stunde: zuerst Schleichhandel und Straßenraub, später bewaffnete Überfälle. »Engel aus Eisen« verweigert die klassische Spannungsarchitektur des Genres, groovt sich – vor allem kraft Walter Lassalys grafisch stilisierter, oft geheimnisvoll entvölkerter Bilder – in einen sehr eigenwilligen, somnambulen Rhythmus. Brasch schaut mit zärtlicher Distanz auf eine zerrüttete Gesellschaft zwischen totaler Niederlage und Angst vor einem neuen Krieg, auf kaputte Menschen zwischen kläglicher Desillusion und trotziger Selbstbehauptung. »Berlin ist nicht Chicago!« ruft nach Gladows Verhaftung die empörte Volksmenge. Stimmt wahrscheinlich, aber man kann es ja mal versuchen: »Der Tote mit aufgerissenem Auge / hat weiße Strümpfe an. / Die Straße liegt still, ein heller Morgen: / So fangen die schönsten Tage an.«

1982 | »Domino«

»Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht.« Zwölf Tage im Winter, zwölf Tage in Westberlin. Vorweihnachtlicher Trubel, Lichterglanz in nächtlichen Straßen. Am 20. Dezember setzt Lisa (Katharina Thalbach) ihre kleine Tochter in den Zug. Die kommenden Feiertage will die junge Schauspielerin in aller Ruhe verbringen. Ins Museum gehen, die Zieheltern besuchen, lesen, schlafen. Es kommt freilich ganz anders: Am Bahnhof erzählt ein Passant von »Nervenheilanstalten für welche, die das privatkapitalistische System nicht mehr aushalten«, warnt vor kommendem Krieg, später blockiert ein unverriegeltes Türschloß, in der Folge verliert Lisas Leben allmählich den Takt, ihre (Gedanken-)Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen, am 1. Januar sitzt sie, mutterseelenallein, im verschneiten Grunewald, sieht einem Zug von Arbeitslosen nach, die in die Südsee deportiert werden sollen … Zwischen den Jahren fällt die Schauspielerin aus der Rolle, läßt sich treiben, begegnet einem abgehalfterten Theaterregisseur (Bernhard Wicki) und einem reisenden Schriftsteller, einem orientierungslosen Kohlenmann und zwei unternehmungslustigen Nutten, schläft mit einem Zufallsbekannten, spielt Domino mit ihrer toten Mutter. Wie Dominosteine legt Brasch Szene an Szene, und als würde es ihm im Laufe des Spiels immer gleichgültiger, ob die Steine aneinanderpassen, löst er, parallel zur wachsenden Verwirrung seiner Protagonistin, den logischen Sinnzusammenhang zwischen den Episoden auf, schafft Raum für Assoziationen, Träume, Erinnerungen – bis Lisa eines Abends die Vorstellung schmeißt, sich langsam abschminkt, das Theater verläßt, einfach weggeht, ohne zu wissen wohin. Gesellschaftliche Ängste und persönliche Krisen, poetisch überhöht, tödlich verzaubert vom Schnee, der die gewohnten Geräusche dämpft, der das Leben »auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehen oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt« (Robert Musil)

Ergänzend zu »Engel aus Eisen« und »Domino«, die in rascher Folge entstanden waren, plante Thomas Brasch die Realisierung des Mittelstücks einer Berlin-Trilogie. »Das Fest der Besiegten« hätte an einem einzigen Tag, dem 17. Juni 1953, gespielt und die Geschichte zweier rivalisierender Halbbrüder erzählt: Robert wird von aufständischen Arbeitern aus einem Gefängnis in Ostberlin befreit und geht auf die Suche nach Georg, der sich mit dem erbeuteten Geld aus einem gemeinsam begangenen Einbruch eine neue Existenz im Westteil der Stadt aufgebaut hat. Das »große Panorama«, das die historischen Ereignisse im Spiegel privater Konflikte (und umgekehrt) als Abfolge von dramatischen Episoden und aufwendigen Massenszenen dargeboten hätte, das »Epos über Geschichte, Auflehnung, Hoffnung und Verwirrung«, mit Giulietta Masina, Maria Schneider, Gene Hackman und Max von Sydow in Thomas Braschs Vorstellung international besetzt, wurde nicht gedreht. Auch »Der Liebesfall«, eine leicht surreale Romanze über einen jungen Mann, der Luxusautos überführt und einer verführerischen Wegelagerin verfällt, blieb unverwirklicht. Für das niederländische Fernsehen inszenierte Thomas Brasch 1984 sein eigenes Theaterstück »Mercedes«, vier Jahre später folgte sein dritter und letzter Spielfilm.

1988 | »Der Passagier – Welcome to Germany«

»Schlafwandler überall.« Aus Hollywood kommt der erfolgreiche Regisseur Cornfield (Tony Curtis) nach Berlin, um ein Herzensprojekt zu realisieren. Es beschreibt die Erlebnisse einer Gruppe von 13 Juden, darunter die ungleichen Freunde Baruch und Janko (Birol Ünel und Gedeon Burkhard), die 1942 aus einem Konzentrationslager geholt wurden, um Komparsenrollen in einem antisemitischen Propagandafilm des Spielleiters Körner (Matthias Habich) zu übernehmen. Nach den Dreharbeiten, so wurde den Häftlingen zugesichert, könnten sie alle in die Schweiz ausreisen. Das Versprechen erweist sich als Lüge. Baruch und Janko denken an Flucht, aber nur einer von beiden wird überleben. Es dauert nicht lange, bis klar wird, daß es Cornfields eigene Geschichte ist, die nach und nach filmische Gestalt annimmt … Inspiriert von einer tatsächlichen Begebenheit – Veit Harlan ließ für seinen Film »Jud Süß« Statisten aus einem polnischen Ghetto herbeischaffen – porträtieren Thomas Brasch und sein Koautor Jurek Becker einen Mann, der sich einer alten Schuld stellen will, jedoch unfähig ist, der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was zunächst wie die publikumswirksame Melodramatisierung eines heiklen Themas durch einen Mainstream-Regisseur wirkt, erweist sich letzten Endes als klitternde Schönfärberei, als doppeltes menschliches Versagen: auf den ersten, realen Verrat am Freund folgt der zweite, künstlerische. Nicht ungeschickt schiebt Brasch die Zeitebenen der Erzählung ineinander, macht eindrucksvoll Parallelen zwischen Studio und Lager sichtbar, doch wie der Antiheld Cornfield, dessen Gestaltungskraft von den Gespenstern des früheren Lebens immer stärker gelähmt wird, versinkt auch sein Schöpfer zunehmend in Konfusion und Unsicherheit. Die Inszenierung verliert sich in visuell abgedroschenen Visionen, eine Nebenfigur liefert in einem papiernen Monolog die erwartbare Auflösung des biographischen Rätsels. »Destroy it«, sagt Cornfield nach Abschluß der Dreharbeiten frustriert zu seinem Assistenten. Bei aller formalen Unausgewogenheit ist »Der Passagier« ein interessanter Versuch über Kunst und Wahrheit, über Schuld und Scham, über Verdrängung und die Illusion, Vergangenheit »bewältigen« zu können.

Nach Mauerfall und Wiedervereinigung hatte Thomas Brasch keine Gelegenheit mehr zur Verwirklichung seiner Filmprojekte. Gleichwohl entwickelte er weiterhin Stoffe für Spielfilme und Fernsehserien: »Liebe oder Polizei«, eine Komödie über einen Volkspolizisten, der nach der Wende erst zum Kaufhausdetektiv wird, dann zum erfolgreichen Kriminellen, dann wieder zum braven Gesetzeshüter; »Nathans Wiederkehr« über die Abenteuer eines mehr oder weniger freiwilligen Spitzels im Theater des Jüdischen Kulturbundes während des Zweiten Weltkriegs; »Fräulein Kuckuck« über die skurrilen Erlebnisse einer Gerichtsvollzieherin. 2001 ist Thomas Brasch in Berlin gestorben.

Zu »Engel aus Eisen« und »Domino« erschienen begleitende, umfangreich bebilderte Filmbücher im Suhrkamp Verlag. Die Treatments zu den nicht realisierten Projekten wurden erstmals 2004 im »Arbeitsbuch Thomas Brasch« der Zeitschrift »Theater der Zeit« veröffentlicht. Alle Filme von Thomas Brasch sind in einer DVD-Box der Filmedition Suhrkamp versammelt.

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