11. März 2012

Die menschliche Schreibmaschine

Buch | »Reineckerland« von Rolf Aurich, Niels Beckenbach, Wolfgang Jacobsen (2010)
YouTube | »ZDF-Sonntagsgespräch« mit Herbert Reinecker (1985)

Die Angst des Autors vor dem weißen Blatt war Herbert Reinecker unbekannt. Seine Arbeit empfand er als »reine Wohltat«. Jahrzehntelang setzte er sich jeden Morgen an den Schreibtisch und stieß »ein Tor auf ins Land der Phantasie«. Reinecker, Jahrgang 1914, wurde bekannt als unermüdlicher Serienfabrikant, als Schöpfer der ersten deutschen TV-Krimiserie mit fester Ermittlerfigur, »Der Kommissar« (97 Folgen von 1969 bis 1976), als Vater von »Derrick« (281 Folgen von 1974 bis 1998). Er schrieb, seit er ein Junge war: Mit 11 versuchte er sich an seinem ersten Roman, mit 15 verdingte er sich schon als freier Mitarbeiter einer Lokalzeitung seiner Geburtsstadt Hagen, veröffentlichte Abenteuererzählungen und Kurzgeschichten.

1932, ein Jahr vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, trat Reinecker, der aus einfachen, national gesinnten Verhältnissen stammte, der Hitler-Jugend bei. Sein schriftstellerisches Talent war dort gefragt: Er arbeitete für diverse HJ-Blätter, zunächst in seiner westfälischen Heimat, seit 1935 in der Berliner Reichsjugendführung, wo er zum Chefredakteur der Zeitung »Junge Welt« avancierte und engagiert für nationalsozialistische Ideale warb. 50 Jahre später wird er trocken bemerken, er habe »die Verhältnisse genommen, wie sie waren«.

Die »Verhältnisse« warteten geradezu auf einen wie ihn: Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Reinecker Kriegsberichterstatter der Waffen-SS, der er seit 1940 angehörte. Seine Fronterleb­nisse verarbeitete er nicht nur journalistisch, etwa in Propaganda-Beiträgen für das SS-Kampfblatt »Das schwarze Korps«, sondern auch in Theaterstücken wie »Das Dorf bei Odessa«, einem völkischen Musterschauspiel über die Rücksiedlung Rußlanddeutscher »heim ins Reich«.

Ende der 30er Jahre entdeckte Reinecker, der sich selbst die Begabung, »in Bildern zu denken«, attestierte, seine Leidenschaft für das Kino. 1944 entwickelte er zusammen mit dem Regisseur Alfred Weidenmann, einem Freund aus der Reichsjugendführung, den Erziehungsfilm »Junge Adler«, mit dem der Pimpfenführer Dietmar Schönherr und der Adolf-Hitler-Schüler Hardy Krüger für die Leinwand entdeckt wurden. Die Geschichte einer Gruppe von luftfahrtbegeisterten Lehrlingen in einem Flugzeugwerk erhielt Anerkennung von höchster Stelle: Propagandaminister Joseph Goebbels lobte den Streifen als »ersten Jugendfilm, der sich sehen lassen kann«.

Rund ein Jahr nach der Uraufführung von »Junge Adler« erlebte der Autor, der sicherlich kein intellektueller Wegbereiter des politischen Verbrechens war, sein Können jedoch voller Überzeugung in den Dienst der Nazi-Ideologie gestellt hatte, die deutsche Niederlage als »Katastrophe in jeder Hinsicht – nicht nur für uns alle, auch für mich persönlich. Von da ab«, so Reinecker 1985, »war nichts mehr normal, sondern alles mußte auf einem sehr dunklen Hintergrunde gesehen werden. Dieser dunkle Hintergrund ist bis heute geblieben, bestimmt auch eigentlich das, was ich tue.«

Reinecker stand ideell und beruflich vor dem Nichts. Er tauchte unter, entzog sich der Entnazifizierung. Seine Fähigkeit, beliebig viele Worte in mehr oder weniger sinnvollen Zusammenhängen zu Papier zu bringen, half ihm schnell wieder auf die Beine. 1948 gründete er einen Pressedienst, der das aufstrebende Zeitungswesen des Nachkriegs mit Feuilletons und erbaulichen Erzählungen versorgte. Innerhalb von drei Jahren verfaßte der hochdisziplinierte Schnellschreiber rund 1000 Texte – eine hervorragende Schule für den späteren Erfolg als Serienautor.

Anfang der 50er Jahre begann Reineckers Aufstieg zum gefragten Drehbuchautor. Zunächst entstanden in Kooperation mit dem alten Weggefährten Alfred Weidenmann Werke, die sich – formal ambitioniert, inhaltlich entschuldigend und beschönigend – mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit beschäftigten: die Filmbiographie »Canaris«, die aus der zwiespältigen Figur des Abwehrchefs der Wehrmacht einen Widerstandshelden formte, oder »Der Stern von Afrika«, der die Lebensgeschichte des Jagdfliegers Hans-Joachim Marseille als unkritisches Heldenbild malte. Das Duo Reinecker-Weidenmann stand und steht dabei für die Kontinuität vom großdeutschen Ufa-Kino zum bundesdeutschen Nachkriegsfilm. In der Folge lieferte Reinecker mit nie erlahmender Energie Beiträge für fast alle Genres: Er verfaßte Kriegsfilme, Romanzen, Komödien, Melodramen, Krimis, Western, Heimatfilme; später folgten zahlreiche Edgar-Wallace- und Jerry-Cotton-Adaptionen. Ein später Höhepunkt seiner Arbeit für die große Leinwand ist die Vorlage zu Zbynek Brynychs sleazigem Thriller-Melodram »Engel, die ihre Flügel verbrennen«. Insgesamt schrieb der nim­mermüde Autor über 50 Spielfilme.

1963, das westdeutsche Kino war im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, lernte Reinecker den Münchner Produzenten Helmut Ringelmann kennen – neben der Freundschaft mit Weidenmann die wohl entscheidende berufliche Begegnung seines Lebens. Ringelmann entwickelte Reihen- und Serien­formate für das frisch gegründete ZDF; Reinecker wurde zu seinem wichtigsten und verläßlichsten Stofflieferanten: Nach Beiträgen für »Das Kriminalmuseum« und »Die fünfte Kolonne« sowie den Straßenfeger-Erfolgen seiner Krimi-Dreiteiler »Der Tod läuft hinterher«, »Babeck« und »11 Uhr 20«, fand er schließlich zu seiner wahren Bestimmung.

Die erste Folge von »Der Kommissar« wurde im Januar 1969 ausgestrahlt, »Derrick« erlebte seine Premiere im Oktober 1974. Bis Ende 1998, also knapp drei Jahrzehnte lang, schrieb Reinecker als alleiniger Autor beider Serien monatlich jeweils eine neue Folge – zusammengerechnet 378 mal Mord zur besten Sendezeit. Das Endlosformat, die unaufhörliche Reihung des nur graduell Variierten lag dem Schrift­steller Reinecker als künstlerisches Ausdrucksmittel im Blut: »Man kann versuchen, mit einer Sache alles auszudrücken; man kann aber auch mit vielen Sachen immer etwas ausdrücken – und dazu habe ich mich entschlossen.«

Reineckers Fernseharbeit zeichnet, trotz oder gerade wegen ihrer fiktionalen Künstlichkeit, ein erstaunlich plastisches Sittenbild des gesellschaftlichen Umbruchs nach 1968 aus der Perspektive der Vätergeneration. Der Autor, den der Glaubensverlust des Jahres 1945 und die damit verbundene Erkenntnis, dem kriminellen Zeitgeist souffliert zu haben, zutiefst verunsichert zurückgelassen hatten, stellte in einer Art Übersprungshandlung auf der Trivialebene immer wieder Fragen nach persönlicher Schuld und der Möglichkeit ihrer Bewältigung: »Daß die Welt unheil ist«, erklärte Reinecker, »weiß man, seitdem es Menschen gibt. Die Welt war immer chaotisch, war immer begleitet vom Verbrechen. Aber immer hat es auch Versuche gegeben, das Chaos zu ordnen.«

Genau diesen Versuch unternehmen Kommissar Herbert Keller (Erik Ode) und seine Mitarbeiter, ebenso wie Oberinspektor Stephan Derrick (Horst Tappert) und dessen ewiger Assistent Harry Klein (Fritz Wepper). Filmisch läuft ihr Bemühen weitgehend ohne Action oder die Zuhilfenahme von Schußwaffen ab. Reineckers Interesse am Verbrechen ist rein psychologisch; Kampfgerät seiner Ermittler ist das Wort. Die Ordnung, die diese Männer ohne Eigenschaften Folge für Folge herstellen, kann freilich nicht von Dauer sein. Die Aufklärung einer Untat ist bestenfalls ein Etappensieg im immer­währenden Krieg gegen das Böse: Nach der Tat ist vor der Tat.

Inszeniert von versierten Regisseure, deren visuelle Umsetzungen in einigen Fällen experimentellen Charakter annahmen, und gespielt von durchweg namhaften Darstellern, wurden die sprachlichen Redundanzen der Serien, die kargen Dialoge von mitunter beckettscher Absurdität, die Betulichkeit der Erzählung, die konservativ-moralisierende Sicht der Dinge immer wieder spöttisch verlacht oder scharf kritisiert. Den weltweiten Erfolg von Reineckers Werk konnte dies nicht aufhalten: »Derrick« war schon nach fünf Jahren in 40 Sprachen übersetzt; insgesamt ermittelte der Inbegriff des Durchschnittsmenschen »mit dem wäßrigen Blick und dem traurigen Lächeln eines geborenen Witwers« auf Bildschirmen in über 100 Ländern. Umberto Eco versuchte eine Erklärung für diese unerklärliche Beliebtheit: Derrick, so behauptete er, »läßt in jedem von uns die Mittelmäßigkeit wieder aufblühen, die wir glaubten verdrängt zu haben.«

Herbert Reinecker, der große Mediokre, der Simenon, den Deutschland nicht hatte, starb 2007 in seinem Haus am Starnberger See. Das Buch »Reineckerland« – erschienen 2010 in der ›edition text + kritik‹ – entwickelt aus der Lebens- und Werkbiographie des Schriftstellers eine fesselnde Zeit- und Mentalitätsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert.

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