7. April 2014

Damals im Fernsehen

TV | »Es werde Stadt!« von Martin Farkas und Dominik Graf (2014)

»Was haben wir das Fernsehen einst geliebt.« Anläßlich der 50. Vergabe des Marler Grimme-Preises schauen Regisseur Dominik Graf und Kameramann Martin Farkas nicht nur zurück in die Annalen des Fernsehens, sie ziehen Bilanz, erörtern den Stand der Dinge, wagen einen (betrübten) Ausblick – und: sie verbinden, indem sie ein aufmerksam-gefühlvolles Portrait der Stadt Marl zeichnen, am Beispiel eines Gemeinwesens die Geschichte des Mediums mit der Geschichte der Bundesrepublik. Beide, so vermitteln die Autoren, haben einst zu Hoffnungen Anlaß gegeben, beide sind in die Jahre gekommen, beide sehen einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Marl, eine Planstadt für das Personal des Wirtschaftswunders, ein provinzstolzes Brasilia am Nordrand des Ruhrgebietes, und das Fernsehen der frühen Jahre, ein Laboratorium zur Verschmelzung von Avantgarde und Popularität – zwei visionäre Ideen der Nachkriegsmoderne, zwei Freiräume, in denen Geld und Geist keine Gegensätze darstellen, Orte des Aufbruchs, der Bildung und der Kultur: neue Architektur, neue Medien, neue Menschen. Der schöne Traum ist nicht von langer Dauer: Die dramatischen Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen lassen mit dem gesellschaftlichen Reichtum auch die Basis für Offenheit und Vielfalt, für Freiheit und Experimente schwinden. Das Ende von Bergbau und Industrie macht aus Marl eine bevölkerte Geisterstadt, so fern und so rätselhaft schön wie eine antike Tempelanlage; die Einführung des kommerziellen Fernsehens – in der Lesart des Films eine gezielte politische Maßnahme zur Brechung des aufklärerischen Willens der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – verwandelt die Medienlandschaft in einen umkämpften Markt, führt in der Folge zu Formatierung und Standardisierung von Programmen, zum Verlust des Selbstbewußtseins von Redaktionen und Produzenten, zu massivem Quotendruck und einer fast neurotischen Angst vor jedem inhaltlichen oder formalen Wagnis. Farkas und Graf verzichten zur Untermauerung ihrer Kernthese (»Wir waren schon einmal mit allem wesentlich weiter.«) fast völlig auf Sendeausschnitte, nennen einfach nur Namen, die an das einstige künstlerische Niveau erinnern: Heinrich Breloer, Roman Brodmann, Helmut Dietl, Rainer Erler, Eberhard Fechner, Rolf Hädrich, Peter Lilienthal, Helmut Käutner, Horst Königstein, Egon Monk, Michael Pfleghar, Edgar Reitz, Georg Stefan Troller, Bernhard Wicki. Zudem kommen zahlreiche Fernsehmacher, -kritiker und -funktionäre zu Wort, die über Vergangenheit und Gegenwart des Mediums reflektieren. Das Konzert der Stimmen, die Aufeinanderfolge der sprechenden Köpfe rückt »Es werde Stadt!«, stärker als Dominik Grafs frühere Essayfilme, in die Nähe konventioneller TV-Dokumentationen; wie ein bewußter, spielerischer Bruch mutet da die eingefügte Geschichte der vergessenen Fernsehansagerin Inger Stolz an, die als Allegorie eines vormaligen, geradezu erotischen Verhältnisses zwischen Machern und Publikum, zwischen Sender und Empfänger figuriert. Heute, nach dem Zerfall von Stadt- und Medienutopien, nachdem die Kunst ihre Funktion als Sinnstifterin und Verständigungsmittel der Gegenwartskultur weitgehend verloren hat, erscheint das »Dschungelcamp« Grimme-Preis-würdig: als getreues Abbild der real-existierenden postindustriellen (Konsum- und Konkurrenz-)Gesellschaft. »Aber«, fragt Graf in seiner unnachahmlich raunenden, ironisch-melancholischen Artikulation, »wer hat diese Gesellschaft eigentlich gewollt?« Den Glauben an die Kraft des Mediums zur »Verbesserung der Welt« mag der zehnfache Grimme-Preisträger dennoch nicht aufgeben. Viel Zeit bleibt ihm und uns nicht mehr: »Haltet euch ran, Freunde.«

2. April 2014

Herzschmerz 3.0

Kino | »Her« von Spike Jonze (2013)

»Worte, Worte, nichts als Worte.« (Robert Gernhardt) Der hoch-/spät-/postmoderne Mensch und seine Schwierigkeiten mit sich und den Zeitgenossen: Liebesnöte und Beziehungsstreß, Kuschelsucht und Distanzierungspanik, Suche nach dem idealen Gegenüber und unausweichliche Enttäuschung, das einsame, entfremdete Ich unter lauter anderen einsamen, entfremdeten Ichs – Antonioni, ick hör dir trapsen. In Spike Jonzes futuristisch-melancholischer Beziehungskomödie »Her« sind Einsamkeit und Entfremdung appetitlich durchgestaltet, so als hätte sich Tyler Brûlé die nahe Zukunft ausgedacht, und: Es wird nicht verstockt geschwiegen, sondern (was auf das Gleiche hinauskommt) ununterbrochen geschwätzt. Theodore (mit modisch-ironischem Schnauzer: Joaquin Phoenix), der seinen gehobenen Lebensstil (à la Cyrano de Bergerac) mit dem Verfassen von gefühlvollen Liebesbriefen für andere Leute verdient, verfällt mit Haut und Haar (und Zunge) seinem neuen, künstlich beseelten, mit sexy Stimme (Scarlett Johansson) plaudernden Betriebssystem Samantha. (»I love you, Samantha / And my love will never die«, schmachtete ja schon weiland Bing Crosby.) Aus der originellen Konstellation zieht Jonze keine besonders originellen erzählerischen Konsequenzen: Mensch und Maschine durchlaufen lediglich wohlbekannte Beziehungsstadien: Romantik und Rausch, Krise und Herzbruch. »Her« ist so schick, so glatt, so flach wie ein State-of-the-art-Touchscreen, den Protagonisten des Films eignen denn auch keine besonderen Eigenschaften: zwei redselige Monaden des Informationszeitalters auf ewig getrennten Wegen.

19. März 2014

23. Juni 1975, 8 Uhr abends

Schau mit beiden Augen, schau. (Kein Film.)

Zum vierten oder fünften Mal in meinem Leben habe ich »Das Leben Gebrauchsanweisung« von Georges Perec gelesen. Das Innere eines Pariser Mietshauses, die Fassade abgerollt wie von einer Sardinendose, zehn Geschosse in der Höhe mal zehn Räume in der Breite, ein Setzkasten von Dingen und Menschen, von Geschichten und Beobachtungen, von Erfindungen und Zitaten, ein Katalog, ein Puzzle, ein Album, ein Labyrinth, ein Zettelkasten, ein Archiv, ein Roman, viele Romane. Liebe und Tod, Sehnsucht und Haß, Hoffnung und Scheitern, Sein und Zeit, Sammeln und Zerstreuen, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Perec kreuzt Spiel und Plan, manische Ordnung und verschwenderische Phantasie. Warum überhaupt noch ein eigenes Leben leben, wenn doch schon alles in diesem Buch steht? Vielleicht weil das letzte Stück im letzten Puzzle nicht paßt, vielleicht weil das letzte, das einhundertste Kapitel fehlt, weil es immer wieder aufs Neue gilt, das passende Stück zu finden, das fehlende Kapitel zu schreiben, zu leben.

15. März 2014

Zwischen Hund und Wolf

Vier Filme von André Delvaux

Der französische Ausdruck ›entre chien et loup‹ bedeutet soviel wie ›im Zwielicht‹ oder ›in der Dämmerung‹. Die Werke des belgischen Regisseurs André Delvaux (1926 – 2002) sind in solcherlei Grenzbereichen angesiedelt, zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Realismus und Magie, zwischen den Sprachen: Delvaux (nicht verwandt mit dem gleichnamigen surrealistischen belgischen Maler Paul Delvaux), geboren in Heverlee, einer kleinen Gemeinde an der Grenzlinie zwischen Flandern und der Wallonie, drehte Filme sowohl in niederländischer als auch in französischer Sprache. Nach einem Musik- und Germanistikstudium war André Delvaux als Lehrer tätig und begleitete Stummfilme auf dem Klavier, bevor er eine Reihe von Dokumentationen für das belgische Fernsehen realisierte (u. a. über Federico Fellini, Jean Rouch und das polnische Kino); 1965 inszenierte er seinen ersten Spielfilm, dem bis 1988 sechs weitere folgten.


1965 | »De man die zijn haar kort liet knippen« (»Der Mann, der sich die Haare kurz schneiden ließ«)

Liebe, Schönheit und Tod oder Die Ballade vom richtigen Leben … Govert Miereveld, Jurist, Familienvater, Lehrer an einem Mädchengymnasium, verliert sein Herz an die Schülerin Fran, freilich ohne ihr seine Zuneigung zu gestehen. Nach dem Abgang der hoffnungslos Angebeteten (die sich auf dem Diplomfest mit einem brechtisch-weillschen Chanson –»Was morgen kommt, kann schlimmer sein. / Was morgen kommt, kann besser sein.« – verabschiedet), quittiert auch Govert den Schuldienst, um sein Dasein fortan als Gerichtsbeamter zu fristen. André Delvaux erzählt, gleichzeitig als Innenschau und Außenansicht, die Geschichte einer unbezähmbaren Erotomanie, eines süßen Wahns, den der Liebeskranke weniger als rauschhafte Ekstase denn als lähmenden Erschöpfungszustand erlebt … Jahre später, nachdem er kurz zuvor als angewiderter Zeuge der Exhumierung eines mutmaßlichen Bankräubers beigewohnt hatte, trifft Govert die vergötterte Frau (die mittlerweile eine gefeierte Sängerin ist) zufällig wieder. Ob die folgende innige Aussprache tatsächlich stattfindet oder sich nur in der Phantasie eines Verrückten abspielt, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob Govert Fran tatsächlich getötet hat oder lediglich aufgrund seiner geistigen Zerrüttung in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. So ambivalent wie die Hauptfigur Govert (≈ göttlicher Friede) Miereveld (≈ Ameisenhaufen) erscheint der ganze Film: Alles in Ghislain Cloquets so einfachen, so rätselhaften Schwarzweißbildern schwebt, schwimmt, schwankt, zwischen Sehnsucht und Begierde, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Transparenz und Undurchsichtigkeit, zwischen Märchen und Schreckensnachricht.

1968 | »Un soir, un train« (»Ein Abend … ein Zug«)

»Toute la pièce est un monologue.« Mathias (Yves Montand) ist Professor für Linguistik an einer flämischen Universität, seine französische Freundin Anne (Anouk Aimée) arbeitet als Kostümbildnerin. Ihre Beziehung ist nicht unproblematisch: Abgesehen von den charakterlichen Unterschieden zwischen dem kühlen Geisteswissenschaftler und der sensiblen Künstlerin schafft die Sprachgrenze, die das Land durchzieht, Distanz zwischen den Partnern. Anne entwirft die Gewänder für eine von Mathias eingerichtete Fassung der mittelalterlichen Moralität »Elckerlyc« (≈ »Jedermann«) – André Delvaux variiert diese metaphorische Pilgerfahrt eines Sterblichen, der vor seinem Tod Rechenschaft für seine Sünden ablegen soll, in der zweiten Hälfte des Films: Mathias reist mit der Eisenbahn zu einem Vortrag in einer anderen Stadt. Der Zug hält ohne Grund auf freier Strecke, Anne ist plötzlich verschwunden, Mathias findet sich, begleitet von zwei Fremden, im verlassenen Nirgendwo einer winterlich-öden Landschaft wieder. Mitten in der Nacht erreichen die drei Verirrten ein Dorf, dessen Bewohner eine unbekannte Sprache sprechen … Unnahbarkeit statt Nähe, Unverständnis statt Verständigung: »Un soir, un train«, von Ghislain Cloquet in ausgewaschenen Farben, mit traumhafter Klarheit fotografiert, gleicht einem modernen Mysterienspiel über Vereinzelung und gestörte Kommunikation. Jedermanns Leben windet sich als verschlungener Weg durch die eigene hermetische Gedankenwelt, wo aller Austausch mit einem Gegenüber unweigerlich zum dialogischen Selbstgespräch wird.

1971 | »Rendez-vous à Bray« (»Rendezvous in Bray«)

Paris, Dezember 1917. Julien (Mathieu Carrière), Pianist und Musikjournalist, als »neutraler« Luxemburger vom Militärdienst befreit, wird von seinem Freund Jacques (Roger van Hool), einem Tondichter und Kriegsflieger, per Telegramm zum Wiedersehen während eines kurzen Fronturlaubs gebeten. Julien begibt sich auf Jacques’ Landsitz in der Nähe der Kampflinie (der Strom fällt aus, während leise die Kronleuchter klirren) – der Gastgeber indes erscheint nicht, der Geladene bleibt alleine, mit einer schweigsamen Bedienten (Anna Karina), mit seinen Erinnerungen an eine ebenso innige wie delikate Freundschaft. Musik verbindet die Ebenen, verbindet Herzen, Seelen, schließlich auch: Körper; neben Jacques’ Kompositionen sind es Stücke von Brahms und Franck, ein sonderbares Kinderlied (»Mon oiseau a perdu ses plumes, / Plumes de bois et plumes de fer.«), Juliens dramatische Klavierbegleitung eines »Fantômas«-Abenteuers. Jacques und Julien: die Namen lassen wohl nicht zufällig eine andere berühmte Künstlerfreundschaft aus der Zeit des Ersten Weltkriegs anklingen; und wie in »Jules et Jim« wird das Verhältnis der beiden Männer kompliziert, intensiviert durch eine Frau, die kokette Odile (Bulle Ogier). André Delvaux verleiht der Erzählung (nach einer Vorlage von Julien Gracq) einen schlafwandlerischen Rhythmus und, vor allem durch den wiederholten Einsatz von Irisblenden, eine stummfilmhafte Stilisierung. Eine Reise in die Vergangenheit, ein einsames Haus, Reflexionen und Resonanzen von Erlebnissen, Gefühlen, Stimmungen, Spannungen – ein Nocturno, vage, hintergründig, lückenhaft wie die zensurierten Zeitungsseiten mit ihren weißen Flecken, Leerstellen, in denen schreckliche Wahrheiten schlummern, dunkle Geheimnisse, romantische Phantasien.

1973 | »Belle«

»Connaître ou reconnaître …« Mathieu Grégoire (Jean-Luc Bideau), Archivar und Schriftsteller, Spezialist für Liebeslyrik des 16. Jahrhunderts, lebt mit Gattin und fast erwachsener Tochter im beschaulichen Ardennenstädtchen Spa. Eines Nachts, auf der Heimfahrt von einem Vortrag, fährt er im Wald einen Hund an, der verletzt in der Dunkelheit verschwindet. Am nächsten Tag kehrt Mathieu mit einem Jagdgewehr zurück, um das verwundete Tier zu erschießen. Auf seinem Streifzug entdeckt er eine verfallene Hütte, in der eine schöne Frau wohnt, die Mathieus Sprache nicht versteht … Die Situation erinnert an »Un soir, un train«: Wieder beschwört André Delvaux das Irren in spätherbstlicher Einsamkeit, die Unmöglichkeit von zwischenmenschlicher Verständigung. Doch mehr als der Vor(vor)gänger ist »Belle« das Portrait einer zauberisch-entrückten Landschaft. »Tant de tristesses plénières / prirent mon cœur aux fagnes désolées«, dichtete Guillaume Apollinaire über die Hautes Fagnes (das Hohe Venn) im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Das entlegene Hochmoor voller Sumpflöcher, überzogen von buschigem Heidekraut, düsterem Nadelgehölz, toten Bäumen und feuchtem Dunst, bildet den märchenhaften Schauplatz für die sich langsam steigernde seelische und erotische Konfusion des Protagonisten, der sich im gleichen Maße von Familie, Freunden und Beruf entfremdet wie er der unbekannten, enigmatischen Fremden verfällt. Ist die Begegnung mit Belle ein Faktum? Oder eine Vision? Handelt es sich um eine Ausgeburt sexueller Verwirrung, um poetische Phantasie, um Wahnvorstellungen eines Mannes in der Mittlebenskrise, um den Einbruch von Wunschbildern in die Wirklichkeit? Wer ist der Andere, der unvermutet auftaucht? Ist er Belles Bruder, ihr Geliebter, ihr Komplize? Stirbt ein Hund? Oder ein Mensch? Ist das Leben ein Traum? Oder ein Film?

André Delvaux’ weitere Spielfilme sind »Een vrouw tussen hond en wolf« (»Eine Frau zwischen Hund und Wolf«) mit Marie-Christine Barrault und Rutger Hauer (1979), »Benvenuta« (»Das anonyme Bekenntnis«) mit Fanny Ardant und Vittorio Gassmann (1983) sowie »L’œuvre au noir« mit Gian Maria Volonté und Sami Frey (1988) nach dem Roman »Die schwarze Flamme« von Marguerite Yourcenar.

9. März 2014

Die Welt von Gestern

Kino | »The Grand Budapest Hotel« von Wes Anderson (2014)

Ein Stück aus dem Tollhaus des alten Europa: Beschwingtheit und Morbidezza, gute Sitten und fiese Intrigen, Gemütlichkeit und Unfrieden, pastellfarbene Sahnetörtchen und schwarze Todesritter, Ewigkeit und Untergang. In der Geschichte des palastartigen Grand Budapest Hotel, in den Lebensbildern eines legendären Concierge und eines anstelligen Pagen, (zerr-)spiegelt sich die Geschichte eines ganzen Kontinents, eines Zeitalters trügerischer Beständigkeit, seines Glanzes, seines Verfalls. Wes Anderson reaktiviert mit großem künstlerischen Gewinn ein fast vergessenes Genre: die Ruritanian romance, die in einem fiktiven ostmitteleuropäischen Staat angesiedelte turbulente Abenteuerfantasie. Zubrowka heißt das gleichnishafte Nirgendwo bei Anderson, andere Namen auf der imaginären Landkarte waren Graustark oder Samavia, Strackenz oder Syldavien. Zubrowka, das ist Operette und Boulevard, Karussell und Puppenspiel, das ist Lubitsch und Lehár, aber Zubrowka ist auch Stroheim und Marx Brothers, es ist Groteske und Anarchie, Lachkabinett und Totentanz. Einhundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« zelebriert »The Grand Budapest Hotel« seinen doppelbödig-tragikomischen Eskapismus als schier endlose Abfolge von wohlkomponierten Frontalansichten: klar strukturierte Bilder einer ihrer selbst gewissen, scheinbar glücklichen Welt, die unweigerlich in Stücke fällt, um als literarisch-filmischer Wunsch(alp)traum neu zusammengesetzt zu werden.

3. März 2014

Das alte Lied

DVD | »On connaît la chanson« von Alain Resnais (1997)

Alain Resnais goes Dennis Potter. Für seine großen Fernsehserien hatte der britische Autor die Methode entwickelt, den Protagonisten Aufnahmen populärer Songs in den Mund zu legen. Auch in »On connaît la chanson« (der Potter gewidmet ist) bewegen die Darsteller ihre Lippen immer wieder synchron zu den Texten bekannter Lieder, zu Chansons von Aznavour, Baker, Dalida, Dutronc, Ferré, Gainsbourg, Halliday, Piaf und vielen, vielen anderen, zu Gassenhauern der Zwischenkriegszeit und Hits der Gegenwart, zu Stücken, die weniger die Handlung voranbringen, als vielmehr Stimmungen transportieren, Atmosphären malen, Figuren charakterisieren, Assoziationen auslösen. Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri (die für Resnais zuvor schon ein Bühnenstück von Alan Ayckbourne adaptierten) nutzen das Potter’sche Verfahren für eine ironisch-melancholische Sittenkomödie, die das zwischenmenschliche Hin und Her, das emotionale Auf und Ab von sechs gehoben mittelklassigen Pariserinnen und Parisern zum Klingen bringt: Zwei Schwestern, eine leitende Angestellte und eine kapriziöse Doktorandin, sowie vier Männer, ein immermüder Gatte, ein aalglatter Makler, ein gehemmter Hörspielautor und ein gescheiterter Erfolgsmensch, verwickeln sich in ein beziehungsreiches Gespinst von Sympathie und Aversion, von Konkurrenz und Kameradschaft. Resnais variiert voller Nonchalance altbekannte Grundmotive des klassischen Boulevardtheaters (≈ des gutbürgerlichen Lebens) – wahre Liebe und falsche Gefühle, Illusion und Enttäuschung, Maskerade und Entlarvung –, doch im Leichten liegt auch das Schwere, an der polierten Oberfläche tun sich Risse auf, die romantische Farce ist zugleich eine Diagnose zivilisatorischen Leidens: Fast alle Beteiligten erweisen sich am Ende des Spiels als depressiv. Ein einfacher komplizierter Film, ein film enchanté, so süß wie ein Stück Zucker, so schmerzlich wie eine verbaute Aussicht. »Y a quelqu’un qui la connaît, cette chanson?«

2. März 2014

Il faut rêver de lui

Alain Resnais 1922 / 2014

Die Statuen sterben auch in Nacht und Nebel, alles Gedächtnis der Welt singt vom Styrol in Hiroshima, meine Liebe, und letztes Jahr in Marienbad war es Muriel – oder war es die Zeit, die wiederkehrt? –, denn der Krieg ist aus, und ich liebe dich, Stavisky, ich liebe dich, Providence, so wie mein Onkel aus Amerika, für den das Leben eine Roman ist und die Liebe zum Tod führt, vielleicht auch zu Mélo, doch ich will nach Hause gehen, rauchend / nicht rauchend, ja, man kennt das Lied, nein, nicht auf den Mund, überall Herzen und Unkraut, ihr aber, ihr habt noch nichts gesehen vom Lieben, Trinken und Singen.

11. Februar 2014

Der Mensch als Frage in der Welt

DVD | »Derrick« von Herbert Reinecker (Folgen 46 bis 60 1978/1979)

Nach längerer Zeit die Fortsetzung der »Derrick«-Retrospektive. Wie kaum ein anderer Autor wußte Herbert Reinecker Sozialpsychologie und Surrealismus, Mordphantasien und Moralphilosophie zum trivial-absurden Welttheater zu verschmelzen.

»Nichts ist mir am Menschen fremd.« (Herbert Reinecker)

R Regie | K Kamera | M Musik | D Darsteller (in allen Folgen: Horst Tappert und Fritz Wepper) | E Erstausstrahlung | +++ ausgezeichnet | ++ sehenswert | + mäßig

Kaffee mit Beate
R
Alfred Vohrer K Rolf Kästel M Frank Duval D Helga Anders (Beate Schill), Agnes Fink (Frau Pacha), Peter Pasetti (Herr Serball), Christian Quadflieg (Herr Herwig), Tilly Lauenstein (Frau Wollak), Klaus Herm (Herr Pacha) E 14. Juli 1978 | Beate ist das Herz der Wohngemeinschaft. Alle lieben sie. Alle. Herr Serball, der aufbrausende Geschäftsführer eines Supermarktes. Herr Herwig, der ironische Architekturstudent kurz vor dem Examen. Herr Pacha, der romantische Sachbuchlektor. Pachas Schwester, die selbstbewußte Hauptmieterin. Nicht einmal deren Freundin Frau Wollak, eine verschnapste Scheidungswitwe, kann die Ausstrahlung der jungen Schauspielerin leugnen. Beate ist liebenswürdig, sie ist süß, sie ist reizend, sie hat einen ganz besonderen Charme. Alle lieben sie. Alle. Aber wer will Beate ermorden? Wer legte ihr vergiftete Cognacbohnen ins Zimmer? Beate hat alle Männer verrückt gemacht. Sie hat mit allen Männern Kaffee getrunken. Sie hat für alle Männer mexikanisch gekocht. So scharf, daß es einem die Zunge verbrennt. Muß es einen Grund dafür geben, glücklich zu sein? Oder traurig? Nicht für Beate. Es ergebe sich einfach, sagt sie. Und die Wahrheit liegt im Hintergrund. Wie eine vergiftete Cognacbohne. | +++

Solo für Margarete
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Michael Braun K Dietmar Graf M Klaus Doldinger D Horst Buchholz (Alexis), Lisa Kreutzer (Ursula Wenk / Margarete Wenk), Jacques Breuer, Susanne Beck E 4. August 1978 | Sie liebte ihn. Er liebte sie. Sie wollte ihm helfen. Er kriegte die Panik. Deshalb mußte sie sterben. Margaretes Leiche wird auf dem Müllplatz gefunden. Die Spur führt in einen Beatschuppen. Zu einer angesagten Band. Zu einem umschwärmten Gitarristen. Der heroinsüchtige Musiker Alexis verliert die Beherrschung, als er das Foto der Toten sieht, und er leugnet ab, Margarete je begegnet zu sein. Eine Frau mischt sich unter das Publikum, eine Frau, die der Ermordeten gleicht bis aufs Haar. Das Auftauchen der doppelgängerischen Schwester, sozusagen die Rückkehr der Verstorbenen als körperliche Erscheinung, wirkt wie die jenseitige Mahnung an den gebrochenen Künstler, sein Gewissen zu erleichtern, bietet ihm aber auch eine zweite, ganz greifbare, Chance, seine Sucht zu überwinden und dennoch den eigenen Ton nicht zu verlieren. | ++

Lissas Vater
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Alfred Vohrer K Rolf Kästel M Frank Duval D Ullrich Haupt (Georg Hassler), Heinz Bennent (Ludwig Heimer), Anne Bennent (Lissa), Christine Wodetzky (Elsa Hassler), Helen Vita, Thomas Astan E 25. August 1978 | »Sag, daß du deinen Vater gesehen hast!« Lissa hat zwei Väter. Ihr leiblicher Vater Ludwig Heimer, vom Pech verfolgt, vom Alkohol zerrüttet, drangsaliert Tochter und Exfrau mit Vorwürfen und einer Liebe, die niemand mehr haben will; immer wieder zurückgewiesen, droht er schließlich mit Gewalt. Georg Hassler, der zweite Mann von Lissas Mutter, erfolgreicher Unternehmer, ein Musterbild bürgerlicher Ordnung, bietet den Seinen ein stabiles Zuhause und familiäre Behütung. Eines Nachts fallen vor Hasslers Haus Schüsse. Hasslers Buchhalter stirbt, von drei Kugeln getroffen. Sind die Sicherungen des verzweifelten Heimer durchgebrannt? Hat er im Dunkeln den Falschen getötet? Lissa hat alles beobachtet. Oder hat sie geträumt? Sie schweigt verstört. »Sag, daß du deinen Vater gesehen hast!« | +++

Der Spitzel
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Zbynek Brynych K Rolf Kästel M diverse D Klaus Behrendt (Henze), Götz George (Georg Lukas), Stefan Behrens, Ute Willing, Ulli Kinalzik, Kai Fischer E 22. September 1978 | Daß Georg Lukas etwas vorhat, merkt der Zivilfahnder sofort: Lukas trinkt nicht. Er trinkt nie etwas, bevor er auf Raubzug geht. Tatsächlich überfallen wenig später drei Maskierte ein Antiquitätengeschäft, und der Zivilfahnder kommt gewaltsam zu Tode. Nur ungern bedienen sich die Ermittler eines Zuträgers, um die Untersuchung voranzubringen. Henze, ein kleines Licht, ein Mann, von dem gesagt wird, der große Lukas halte ihn sich wie einen Hund, soll spitzeln und rückt sich vor allem selbst ins Zwielicht. Um die eigene Person fände es Henze wohl nicht allzu schade, aber um keinen Preis will er seine Mission gefährden: die Rettung eines schutzlosen Mädchens aus dem Sumpf von Kriminalität und Prostitution. Wenn er selbst auch unweigerlich versinkt, so trachtet Henze doch danach, wenigstens einem anderen Menschen das Schlimmste zu ersparen. | +++

Die verlorenen Sekunden
R Alfred Vohrer K Rolf Kästel M Frank Duval D Elfriede Kuzmany (Frau Leubel), Louise Jacobi (Hanna Schenk), Hans Korte (Herr Kwien), Herbert Herrmann, Maria Sebaldt, Erna Sellmer, Michael Maien E 20. Oktober 1978 | Frau Leubel, Näherin in einem Modesalon, liefert ein fertiges Kleid, findet die Kundin ermordet in ihrer Wohnung, wird selbst vom Killer überwältigt, fast zu Tode gewürgt. Der Schock löscht das Gesicht des Verbrechers aus ihrem Gedächtnis. Vergebens alle Anstrengungen, sich des Entsetzlichen zu entsinnen. Wie ein Huhn sei sie, heißt es über die hilflose Frau, wie ein armes Huhn. Ganz anders als die Tote: Frau Kwien war lebenslustig, vielleicht sogar leichtsinnig. Und sie war die frisch geschiedene Eigentümerin des von ihrem Exmann geleiteten Unternehmens. Hanna Schenk, die gemeinsame gute Freundin der entzweiten Eheleute, nimmt besonderen Anteil an Frau Leubels Suche nach der verlorenen Zeit, ebenso wie der Täter, der kein Interesse daran haben kann, daß Erinnerung an schreckliches Geschehen zurückkehrt. | 

Ute und Manuela
R Helmuth Ashley K Rolf Kästel M Frank Duval D Cornelia Froboess (Ute Bilser), Monika Baumgärtner (Manuela Stroppe), Gisela Uhlen (Frau Bilser), Werner Asam, Martin Semmelrogge E 17. November 1978 | Sich kümmern. Da sein. Einem Menschen helfen. Für ihn kämpfen. Ihn herausholen, aus schlimmen Verhältnissen. Ute Bilser ist Sozialarbeiterin. Manuela Stroppe ist einer ihrer Schützlinge. Ute täte vieles, um Manuela beizustehen, diesem Mädchen ohne Halt, aus schlimmen Verhältnissen, mit einem Vater, der säuft, mit einem Freund, der schlägt. Ute nähme Manuela bei sich auf, wenn es ihr dreckig ginge. Sie löge für sie. Sie veranlaßte ihre eigene Mutter, falsches Zeugnis zu geben. Ute täte vieles für Manuela, vielleicht alles. Und sie tut es. Ja, sie tut es. Sie tut es nicht nur für Manuela. Sie tut es auch für sich selbst. Um einmal zu gewinnen gegen die Verhältnisse. Gegen die Arschlöcher, die sich in diesen Verhältnissen suhlen. Sie tut es, um diese Verhältnisse zu beenden. Dieses eine Mal nur. Für eine Einzelne. Wenigstens das. | +++

Abitur
R Theodor Grädler K Heinz Hölscher M Frank Duval D Agnes Dünneisen (Adelheid Becker), Michael Wittenborn (Robert Becker), Peter Dirschauer (Werner Hofer), Hans Quest (Dr. Becker), Volker Eckstein, Dietlinde Turban E 15. Dezember 1978 | Robert muß das Abitur machen. Er muß einfach. Um Medizin zu studieren und die Landarztpraxis des Vaters zu übernehmen. Das muß sein. Unbedingt. Findet auch Roberts Schwester Heidi. Wenn der Junge nur nicht so weich wäre, so leicht aus der Fassung zu bringen, so prüfungsängstlich. Der junge Assessor Hofer muß helfen. Er muß einfach. Damit Robert die Hochschulreife erlangt und den Numerus clausus schafft. Das muß sein. Unbedingt. Findet auch Roberts Schwester Heidi. Sie nennt es corriger la fortune. Der rotblonden Miss Macbeth eignet klarer Verstand und stählerner Wille, eben jene Wesensmerkmale, an denen es ihrem Bruder gebricht. Dem gnadenlosen Erwartungsdruck und der eisigen Berechnung auf der einen Seite entsprechen die Unfähigkeit, sich der Pressionen zu erwehren, und die völlige Lethargie auf der anderen. Beides erscheint gleichermaßen monströs, möglich vielleicht nur in einem hermetisch geschlossenen System, etwa in einer Familie. | +++

Der L-Faktor
R Helmuth Ashley K Heinz Hölscher M Frank Duval D Herbert Mensching (Professor Waldhoff), Gisela Peltzer (Frau Waldhoff), Katja Rupé, Mathieu Carrière, Wolfgang Müller E 5. Januar 1979 | Professor Waldhoff forscht in seinem Institut nach einer Möglichkeit, die Wirksamkeit der Antibiotika zu erhalten: Es gilt, den R-Faktor, die Resistenzgene der Bakterien, zu bezwingen. Bewundert von seinen Mitarbeitern, lebt der geniale Biochemiker alleine für die Wissenschaft. Während seine Frau zu Hause vereinsamt. Sich von ihm abkehrt. Einem anderen zuwendet. Einer Zufallsbekanntschaft. Einem wegen Körperverletzung vorbestraften Zeitschriftenwerber. Der Professor versteht die Welt nicht mehr. Hat sie vielleicht nie wirklich verstanden. Er, der Ausnahmemensch, der in großen Zusammenhängen denkt, er, der Millionen Leben retten will, wogegen ihm das einzelne nicht viel gilt, er, dem verborgen bleibt, was man den L-Faktor nennen könnte: L für Liebe. Der kalte Überflieger muß schließlich erkennen, daß die Maßstäbe von Recht und Gesetz auch an denjenigen gelegt werden, der sie in höherer Absicht sträflich mißachtet. | ++

Anschlag auf Bruno
R Theodor Grädler K Franz X. Lederle M Frank Duval D Peter Ehrlich (Oskar Kerk), Doris Schade (Martha Kerk), Dieter Schidor (Bruno Kerk), Volker Eckstein (Helmut Kerk), Michaela May, Herbert Strass E 2. Februar 1979 | Das Ehepaar Kerk hat zwei Jungen: Bruno, einen sanften Imbezilen, und Volker, einen unbeherrschten Stenz. Wer ist der Kranke? Wer ist der Gesunde? Mit lächelnder Anbetung verfolgt Bruno die resche Nachbarstochter Gerda, die auch Volker nicht gleichgültig ist. Sie ist ihm so wenig gleichgültig, daß er sie erwürgt, als sie seinen Annäherungsversuch zurückweist. Vater Kerk wägt ab: die trüben Aussichten des zurückgebliebenen Sohnes, der stets hilfsbedürftig wie ein Kleinkind sein wird, gegen die bedrohte Zukunft des anderen Sohnes, der doch – immerhin, irgendwie – gelernt hat, auf eigenen Beinen zu stehen. Der so verzweifelte wie anmaßende Versuch, Schicksal zu spielen, ignoriert drei Faktoren: den passiven Widerstand der Mutter, die eingewurzelte Schwäche des Mörders, die Sprengkraft der Wahrheit. | ++

Schubachs Rückkehr
R Theodor Grädler K Rolf Kästel M Frank Duval D Udo Vioff (Willi Schubach), Claus Biederstaedt (Dr. Richard Homann), Christine Buchegger (Helga Homann), Christian Reiter, Rudolf Wessely E 9. März 1979 | Rache, so lautet ein Sprichwort, ist eine Speise, die man am besten kalt genießt. Willi Schubach wird nach acht Jahren vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Wegen Totschlags war er verurteilt worden. Zwei Monate nach dem Urteil hatte sich seine hübsche Frau Helga von ihm scheiden lassen. Und seinen Anwalt Dr. Homann geheiratet. Der Hölle Rache kocht in Schubachs Herz. Wer könnte es ihm verdenken? Der Anwalt und seine immer noch hübsche Gattin haben Angst. Welches Vorhaben verbirgt Schubach hinter der freundlichen, abgeklärten Miene, die er zur Schau trägt? Welcher Plan ist ihm gereift, in acht langen Jahren, durchdacht bis in die kleinste Kleinigkeit? Rache, so lautet ein Sprichwort, trägt keine Frucht. Jedenfalls nicht diejenige, die man zu ernten gedachte. Schade. Aber letztlich egal, wenn die Frucht nur kalt genug serviert wird. | +++

Ein unheimliches Haus
R Alfred Vohrer K Rolf Kästel M Frank Duval D Eva Kotthaus (Frau Schlör), Sascha Hehn (Martin Schlör), Paul Hoffmann (Herr Kamenoff), Wolfgang Büttner (Herr Sobak), Lisa Kreuzer, Ute Willing, Nora Minor E 30. März 1979 | Die alte Pensionswirtin ist tot. Ein Geruch nach bitteren Mandeln weht durchs Zimmer. Der Kamillentee war vergiftet. Blausäure. Wer hatte Grund zu töten? Frau Schlör, die Hausdame, die das halbe Vermögen erben wird, die den Tee servierte? Ihr flotter Sohn Martin, der das Dienstmädchen liebt, das den Tee bereitete? Die arbeitsfaule Enkeltochter der Ermordeten? Oder einer der Gäste? Der brotlose Künstler Kamenoff, Maler von unverkäuflichen Seestücken, dem die Kündigung drohte? Der pensionierte Justizangestellte Sobak, der die Menschen in zwei Kategorien teilt: Täter und Opfer, und der sich selbst nicht als Opfer sieht? | +

Die Puppe
R Theodor Grädler K Rolf Kästel M Frank Duval D Werner Schulenberg (Adi Dong), Siegfried Wischnewski (Herr Gerdes), Alwy Becker (Frau Borsich), Karl Walter Diess, Eva Brumby, Claudia Buthenuth E 11. Mai 1979 | Die gereiften Kundinnen des exklusiven Haarstudios Annabelle schwärmen für den ätherischen Manikeur (»Sagt man wirklich ›Manikeur‹?«), der ihnen zum Abschluß jeder Behandlung die zärtlich gepflegten Hände küßt. Adi Dong schwebt wie ein Geist aus galanter Zeit durch die nüchterne Gegenwart, hinein in die Herzen und Häuser reicher, von ihren Männern vernachlässigter Damen, die nach tiefen Begegnungen dürsten. Frau Gerdes bezahlt die bereichernde Erfahrung mit dem Leben, Frau Borsich spielt mit dem romantischen Feuer, und Adi muß erfahren, daß die Wärme, die er zu geben hat, mit eben jener geschäftsmäßigen Kälte ausgebeutet wird, der er mit seinen Mitteln entgegenzuwirken suchte. | +++

Tandem
R Zbynek Brynych K Rolf Kästel M Frank Duval D Stefan Behrens (Ewald Bienert), Raimund Harmstorff (Rudolf Nolde), Elisabeth Wiedemann (Charlotte Nolde), Dirk Galuba, Karl Maria Schley, Dirk Dautzenberg E 8. Juni 1979 | Ein junger Typ, ein vorbestrafter Taugenichts. Seine Ehefrau, älter und überaus vermögend, wird ermordet. Der Verdacht der vorsätzlichen Bereicherung liegt nahe, aber Ewald Bienert hat ein wasserdichtes Alibi. Ein zweiter Mann erregt das Interesse der Ermittler, ein ehemaliger Knastbruder des lustigen Witwers. Auch Rudolf Nolde, ein baumstarker Kerl, hat nach der Entlassung aus dem Gefängnis eine ältere, überaus vermögende Gattin gefunden. Zufall? Oder ein sorgfältig geplantes Verbrechen über Kreuz? Charlotte Nolde will es nicht wahrhaben, bestreitet die Liebeslüge, glaubt nicht an den mörderischen Treubruch. In einer nächtlichen Zwiesprache nimmt die filigrane Frau dem großen Sünder die Beichte ab, hört bestürzt von der Versuchung und von der Mühe, ihr zu widerstehen. | ++

Lena
R Theodor Grädler K Heinz Hölscher M Erich Ferstl D Ursula Lingen (Lena), Rolf Becker (Wolfgang Horn), Romuald Pekny, Beatrice Norden, Rudolf Schündler E 20. Juni 1979 | Jede unglückliche Familie, schrieb Tolstoi, sei auf ihre eigene Art unglücklich. Das Unglück der Familie Horn erscheint ganz gewöhnlich. Die Ehe ist geschieden, eine halbwüchsige Tochter steht zwischen den verstrittenen Eltern. Der zornmütige Vater rebelliert gegen die Trennung von seinem Kind, die Mutter beharrt auf dem ihr zugesprochenen Recht. Dann wird Frau Horn erwürgt aufgefunden, und niemand glaubt an die Unschuld ihres Exmannes. Nur die taubstumme Schwester der Toten behauptet, jemand anderen gesehen zu haben, vor dem Haus, zur Tatzeit. Warum sollte Lena lügen? Warum sollte Lena ihren Schwager decken, der sie nicht mochte, der die besessene Töpferin für verrückt hielt, weil sie die unzähligen, von ihr mit Leidenschaft geformten Stücke nicht brannte, sondern immer wieder zerschlug? Und auf einmal zeigt sich das Spezifische des Unglücks der Familie Horn: Es ist die Voraussetzung für ein neues Glück. | ++

Besuch aus New York
R Helmuth Ashley K Heinz Hölscher M Roland Kovac D Leonie Thelen (Anna Born), Bruno W. Pantel (Herr Megassa), Brad Harris (Robert Dryer), Volker Eckstein, Greta Zimmer, Thomas Astan E 27. Juli 1979 | Der Onkel aus Amerika oder Segen und Fluch des Geldes. Die junge Anna Born arbeitet als Tanzlehrerin, wohnt bescheiden zur Untermiete bei Familie Megassa. Von einem Tag auf den anderen ändert sich ihre Situation: Eine Erbschaft steht ins Haus, Millionen Dollar, aufgehäuft vom verstorbenen – in Wahrheit: erschossenen! – Bruder des Vaters, Erlös vermutlich dunkler Geschäfte. Mit der Aussicht auf Reichtum kommt auch die Gefahr. Ein nächtlicher Mordanschlag, ein skrupelloser Gangster aus New York, die Begehrlichkeiten der kleinstbürgerlichen Wirtsleute. Der invalide Herr Megassa, seine kranke Frau, sein arbeitsloser Sohn, sie alle haben Träume, deren Erfüllung ihnen das Leben bislang schuldig geblieben ist. Geld: Versprechen und Verderben. | ++

»Glauben Sie, daß ›Derrick‹ ein Krimi ist? Ich nicht.« (Herbert Reinecker)

Fortsetzung folgt …

23. Januar 2014

Berichte vom Planeten der gefesselten Frauen

Filme von Alain Robbe-Grillet

»La chair des femmes a toujours occupé, sans doute, une grande place dans mes rêves.« (»La maison de rendez-vous«, 1965)

1963 | »L’immortelle«

L’année dernière à Istanbul: N, ein Lehrer aus Frankreich, begegnet L, einer schönen, geheimnisvollen Frau – ihr »wirk­licher« Name (Leila oder Lale (was auf Türkisch ›Tulpe‹ bedeutet) oder vielleicht auch Lucille) bleibt ebenso unbestimmt wie ihre Herkunft, ihre Absichten, ihre Identität. L ihrerseits wird von M, einem Mann, der stets zwei Dobermänner an der Leine führt, begleitet oder überwacht oder verfolgt. Als L, nach einer Reihe gemeinsam verbrachter Tage (und Nächte), plötzlich verschwindet (oder bei einem Unfall stirbt), begibt sich N auf die Spur der Verschollenen (oder Toten) – bis L eines Tages (oder Nachts) unvermittelt wieder auftaucht … Alain Robbe-Grillet präsentiert sein Regie­debüt als imaginatives Rätselspiel, als unterkühlt-erotisches Abenteuer, als extravaganten »film intérieur«: »L'immortelle« – die unsterbliche Frau, die unsterbliche Stadt – wird von N gesehen, gehört, erdacht – Wahrnehmung und Einbildung sind dabei eins, Objektivität und subjektives Empfinden verschwimmen. L changiert unter Ns insistierenden Blicken zwischen Dame der Gesellschaft, herabgestiegener Göttin und Luxusprostituierter; Istanbul erscheint als betont exotische Kulisse, als Melange aus histo­risch-literarischer Phantasie, Bühne eines mysteriösen Melodrams und Kitschpostkarte der Moscheen, Paläste, Ruinen. Neben den stilvoll gestalteten, immer wieder zu lebenden Bildern gefrierenden Oberflächenreizen und den beschwörenden erzählerischen Wiederholungen (oder Variationen oder Echos oder Déjà-vus) ist es vor allen Dingen die sorgfältig komponierte Tonspur – das unaufhörliche Knattern der Bootsmotoren auf dem Bosporus, das Schlagen der Wellen gegen die Kaimauern, der schrille Gesang der Grillen, das bedrohliche Bellen der Hunde, die monotonen Rufe der Muezzine –, die eine höchst eigentümliche, traumhaft-sinnliche Atmosphäre schafft.

1967 | »Trans-Europ-Express«

»Quel sujet?« – »Trafic de drogues. Tu sais … quelque chose d’animé, des bagarres, des viols, des truc qui sautent.« Alain Robbe-Grillet würde – mit Produzent und Assistentin – in den Trans-Europ-Express von Paris nach Antwerpen steigen und ersönne, weil ein Schnellzug ein attraktives Setting und »Trans-Europ-Express« ein guter Titel wäre, eine Filmhandlung aus, die im Trans-Europ-Express von Paris nach Antwerpen spielte (oder jedenfalls dort begänne): irgendetwas mit Drogenhandel, Krawall, Vergewaltigung – eine handfeste (und dabei amüsant paradoxe) Räuber­pistole. Die Hauptrolle, einen Mann namens Elias, spielte Jean-Louis Trintignant, der als Kurier eines Kokainschmugglerrings anheuerte und einen Koffer mit doppeltem Boden von Paris nach Antwerpen zu bringen hätte, wo er – Beobachtungen, Verfolgungen und Prüfungen seiner Loyalität ausgesetzt – auf die schöne Eva träfe, deren Rolle Marie-France Pisier übernähme, Eva, die sich Elias für Geld anböte und dessen (sowie Robbe-Grillets) sado-erotischen Phantasien zu Willen wäre. Die Filmemacher würden den ausgesponnenen Plot ihres Thriller-Pasticcios fortwährend reflektieren, korrigieren, verkomplizieren, zum Beispiel dahingehend, daß der Schmuggel gar kein Schmuggel wäre sondern die Generalprobe eines Schmuggels, was der Schmuggler selbst aber erst erführe, wenn er den Koffer mit dem doppelten Boden bei seinen Auftraggebern ablieferte. »Trans-Europ-Express« verwebte – als parodistisch-klischierte Fiktion, sowohl des erdachten Kriminal­falles als auch des schöpferischen Prozesses – Rahmenhandlung und imaginiertes Gesche­hen immer wieder glasklar-verwirrend ineinander, um nach zweifachem (ein­mal unbewußten, einmal vorsätzlichen) Verrat sowie zwei Morden – einer lustvollen Erdros­se­lung und einem gezielten Todesschuß – mit einer doppelten Wiederauferstehung zu enden.

1968 | »L’homme qui ment«

»Je vais vous raconter mon histoire … ou du moins je vais essayer.« Soldaten verfolgen einen Mann durch den Wald. Schüsse. Explosionen. Der Mann wird getroffen. Bricht zusammen. Stirbt. Erwacht. Steht auf. Läuft weiter. Der Mann erzählt seine Geschichte. Oder er versucht es zumindest: »Mon nom est Robin … Jean Robin.« Dem Kopf des Mannes (Jean-Louis Trintignant), seinen (inkonsistenten) Ausführungen entwächst ein fiktives (Erzähl-)Universums, dessen unauflösliche Widersprüche Alain Robbe-Grillet kinematokulinarisch zelebriert. Ein Mann kommt aus dem Wald. Gelangt in ein Dorf. Macht seine Aufwartung im Schloß. Auf dem Schloß warten drei Frauen auf die Heimkehr von Jean Robin: die Schwester, die Ehefrau, ein Dienstmädchen. »Il est mort! Mort! Mort!« heißt es über Jean Robin, von dem man glaubt, daß er eines schönen Tages zurückkommen werde. Der Mann aus dem Wald nennt sich Boris Varissa. Er berichtet von seinem Freund, von seinem Kampfgefährten Jean Robin. Der ein Held des Widerstandes gegen die Besatzer war. Der ein Kollaborateur war. Der fliehen konnte. Der erschossen wurde. Den man in eine Falle lockte. Der seine Kameraden verraten hat. Ein Mann erfindet eine wahre Geschichte. Ein Mann erfindet seine wahre Geschichte. Oder er versucht es zumindest. Immer wieder von neuem. Drei Frauen warten auf einen Mann. Sie spielen Blindekuh im Schloß. In der Bibliothek. Auf dem Speicher. Zwischen Büchern und Spiegeln. Zwischen alten Möbeln und leeren Bilderrahmen. Träumen die drei Frauen von einem Mann, der kommt, um ihnen seine wahren Geschichten zu erzählen? Geschichten von Tod und Überleben, von Heldentum und Verrat, von Geheimnis und Zweifel. Geschichten, die Hingabe fordern, Auslieferung, Unterwerfung. Geschichten von der zeremoniellen Gewalt eines sexuellen Rollenspiels. Geschichten wie Gefängnisse, wie unterirdische Höhlen ohne Ausgang. Die Welt Robins, Varissas, Robbe-Grillets, dieser Legendenwald der Gespenster und Vorahnungen, des Spechtklopfens und Glockengeläuts, der Rollenspiele und Anachronismen, des Stöhnens und Schreiens, ist nichts als eine Lüge, nichts als eine Erzählung, und eben darum ist diese Welt wahr. »Et maintenant je vais vous raconter ma vraie histoire … ou du moins je vais essayer.«

1970 | »L’éden et après«

»Bien entendu ce jeu est idiot.« – »Pas plus idiot que n’importe quoi.« Zwölf Themen. Imagination. Gefängnis. Männliches Geschlecht. Sperma. Blut. Türen. Labyrinth. Doppelgänger. Wasser. Tod. Tanz. Bild. Zwölf Themen, in zehn Reihen variiert. Selbstverständlich ist dieses Spiel idiotisch. Nicht idiotischer als irgendetwas anderes. Ein Café, das aussieht, wie von Mondrian gebaut. Darin eine Gruppe von Studenten. Ihre gedanklichen Experimente. Ihre imaginären Abenteuer. Russisches Roulette. Diebstahl eines wertvollen Gemäldes. Nie passiert etwas. Suche nach einem Ausweg aus der Erstarrung. »Ihr jongliert mit Ideen«, sagt der geheimnisvolle Fremde, der eines Tages das Café der verlorenen Jugend besucht, »aber ihr schreckt davor zurück, euch dem Leben zu stellen.« Alain Robbe-Grillet lockt seine Protagonisten (und das Publikum) mittels eines unwiderstehlichen »poudre de peur« in ein filmisches Labyrinth, in ein illusorisches Laboratorium, in ein künstliches Paradies, schreckt dabei nicht vor grenzintellektuellen Verblüffungseffekten zurück (»L’image d’une somme est la somme des images.«), jongliert seinerseits fröhlich mit Ideen: mit extravaganten Bildern und obsessiven Arrangements, mit quälenden Reprisen und psychedelischen Spiegelungen, mit geometrischer Abstraktion und sexuellem Fetischismus. Und wie beim Domino legt Robbe-Grillet einen Spielstein an den anderen: écriture, architecture, composition, représentation. Das Café ›Éden‹. Eine moderne Fabrik am Fluß. Eine alte arabische Stadt am Meer. Serialität und Kombinatorik, Mathematik und Assoziation. Parodie eines Abenteuerfilms. Andeutung eines Krimis. Ein Toter im Wasser. Ein gemeiner Giftmord. Eine Entführung. Ein Kunstraub. Eine Folterung. Keine Tiefe, nur Flächen. Kein Geschehen, nur Erzählmuster. Kein Motiv, nur ein MacGuffin. Un fantasme, un fantôme. Une image, une imagination. Ein wertvolles Gemälde. Darstellung eines weißen Hauses in einer arabischen Stadt. Hinter der blauen Tür, unter der flachen Kuppel: Frauen in Käfigen, ein Geheimnis, vielleicht. Scharfkantige Objekte. Fließendes Blut. Klebrige Flüssigkeiten. Cinéma. Réalité. Ma vie.

»Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi.« (»Le miroir qui revient«, 1985)

À suivre …

22. Januar 2014

Reden lassen

Zwei biographische Dokumentationen

»Die Macht der Bilder« von Ray Müller (1993)

Führer und Fische, Neger und Berge – die Welt der Leni R., ausgebreitet in einem monumental-erschöpfenden, gut dreistündigen Doku-Panorama. Die Riefenstahlsche Mischung aus stark begrenzter intellektueller Kapa­zität und politisch-moralischer Verblendung, aus unbestechlichem Blick fürs visuell Überwältigende und hochsensiblem Händchen für wirksame filmische Montage ist (um mit einem glücklosen Bundestagspräsidenten zu sprechen) »selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum«. Zwischen Nürnberger Reichsparteitagsgelände und Berliner Olympiastadion, zwischen Alpenkamm und Nuba-Dorf, zwischen Korallenriff und Schneideraum gewährt Ray Müller der ebenso umstrittenen wie streitbaren alten Dame (die während der Dreharbeiten ihren 90. Geburts­tag feiert) viel Zeit und Raum, sich zu inszenieren, ihre Persönlichkeit vor der Kamera sprachlich wie gestisch zu enthüllen (»Das sind alles Dinge, über die ich gerne spreche – aber bei diesem Scheiß-Licht doch nicht!«), läßt dem Betrachter dabei reichlich Luft zur freien Meinungsbildung: »Die Macht der Bilder« übt zu keinem Zeitpunkt frontale Kritik am Studienobjekt; gerade darum gelingt es Müller, tief in die Abgründe eines eisernen (wenn auch nicht immer triumphierenden) künstleri­schen Willens zu loten.

»The Fog of War« von Errol Morris (2003)

Nach welchen Maßgaben werden Entscheidungen zum und im Kriege ge­troffen? Welche moralischen Maßstäbe gelten in militärischen Extrem­situationen? Wie weit muß sich auf »das Böse« einlassen, wer doch eigentlich »das Gute« will? Diese und weitere Fragen stellt Errol Morris einer der ambivalentesten amerikanischen Politikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Robert McNamara, Harvard-Absolvent, WWII-Veteran, Ford-Manager, US-Verteidigungsminister unter JFK und LBJ. Antworten gibt es nicht in jedem Falle, denn wie sagt Medien-Profi McNamara: »Beantworte niemals die Fragen, die dir gestellt werden.« Daß der Film trotzdem von einigem Erkenntniswert ist, mag daran liegen, daß Morris sich dem kühlen Technokraten (»Empathize with your enemey.«) gleichsam »von innen« nähert, ihm Gelegenheit gibt, sein Denken und Fühlen vor der Kamera zu entwickeln. So entsteht aus dem Porträt eines herausragenden Protagonisten des »militärisch-industriellen Kom­plexes« ein Bild der politischen Klasse und ihrer (unserer) kriegerischen Welt. Morris verweigert sich konsequent griffiger Schwarz-Weiß-Malerei, zeichnet stattdessen die Realitäten in, bisweilen neblig verschleierten, Abstufungen von kaltem, metallisch schimmerndem Grau. Die Erzählung ist glasklar (aber nie vorhersehbar) strukturiert und bis ins letzte filmische Detail brillant (doch nie selbstverliebt) gestaltet. Die sehr reflektierten Aussagen McNamaras, der für die minutiöse Planung der Flächenbombardements Japans ebenso (mit)verant­wortlich war wie für die erstmalige Einführung von Sicherheitsgurten in Autos, werden ergänzt oder subtil konterkariert durch historisches Material – besonders beeindruckend: die Mitschnitte von Oval-Office-Gesprächen aus der Zeit des Vietnamkrieges. »The Fog of War« liefert keine einfachen Wahrheiten; Morris legt sein Material zur Prüfung vor: Aufklärung ohne Melodramatisierung und allwissende Sprüche.