8. Januar 2023

Standbild (25)

Schienen

Außen. Bahnstrecke. Tag. Von einem nebelhaften Himmel überwölbt verläuft die eingleisige Trasse schnurgerade zwischen zwei grasbewachsenen Dämmen, zur Linken flankiert von einer Reihe schlanker hölzerner Telegrafenmasten, zur Rechten eingewachsen von niedrigem Gebüsch, aus dem ein junger, winterlich unbelaubter Baum ragt. Auf dem Gleiskörper, genauer gesagt auf den Bahnschwellen, steht ein kleiner Mann mit dünnem, seitlich gescheitelten Haar, der einen kastigen, zweireihigen Wintermantel aus schwerem Fischgrätstoff trägt. Den breiten Kragen des Kleidungsstücks gegen die offensichtlich herrschende Kälte bis unter die Ohren hochgeschlagen, hat der Mann seine linke Hand tief in der Manteltasche versenkt, während er die rechte vor das faltenzerfurchte Gesicht hält, so als wolle er seine sowieso geschlossenen Augen vor einem schrecklichen Anblick bewahren. Indessen nähert sich von hinten, aus der Tiefe des Raumes heranrasend, eine rußgeschwärzte Dampflokomotive. Ihrem Schlot entsteigt dichter weißer Rauch, ihre gewölbten Windleitbleche scheinen den auf den Schienen stehenden Mann, einen Arzt, der vor Jahren unter bedrückenden Umständen im Affekt zum Mörder an der Geliebten wurde, der später denjenigen, welcher ihn mutmaßlich ins Verderben trieb, kaltblütig ums Leben brachte, sie scheinen diesen von den Zeitumständen zum Monster Gemachten, der nun selbst den erlösenden Tod erwartet, gleichsam liebevoll zu umarmen.

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