Aktuelle Filme im zweiten Halbjahr
Juli
Yesterday von Danny Boyle (2019) : Die hübsche Prämisse ihrer kontrafaktischen Erzählung – einzig ein (ziemlich erfolgloser) Musiker erinnert sich nach einem rätselhaften globalen Zwischenfall an die Songs der Beatles – nutzen Regisseur Boyle und Autor Curtis nicht zur Kreation einer popkulturellen Anderswelt sondern lediglich als Grundlage einer soliden romcom mit kontinuierlich ansteigendem Schnulzpegel (»All You Need is Love« as usual). Weder ›tangerine trees‹ noch ›marmalade skies‹ – aber mit einer überzeugenden Besetzung und launigen Seitenhieben auf Funktionsweisen der Unterhaltungsindustrie schlägt sich »Yesterday« redlich ins (leicht modifizierte) Hier und Jetzt durch.
Kursk von Thomas Vinterberg (2018) : Ein Drama ohne Rettung: wie im historischen Fall, so geht auch in Vinterbergs durchaus bewegender Adaption die Besatzung des Atom-U-Bootes Kursk ihrem von den Weltläuften gesponnenen Schicksal entgegen. Die Rolle, die im richtigen Leben Wladimir Putin spielte, übernimmt im Film der greise Max von Sydow – sein fiktiver Admiral erscheint wie die Wiederkehr des russischen Erzschurken vergangener Kinozeiten als unsagbar trauriges Gespenst.
Dolor y gloria von Pedro Almodóvar (2019) : Nach »La ley del deseo« und »La mala educación« erzählt Almodovar zum dritten Mal mit autobiographischem Unterton von Glanz und Elend der filmemacherischen Kreativität. War das erste Stück der losen Reihe noch von wilder Leidenschaft erfüllt, ertrank das Folgewerk in nostalgisch-selbstreferentieller Melancholie, zeichnet der gereifte Meister nun (in gewohnt erlesenen Farben) das versteinert-redselige, kokett-selbstmitleidige Bildnis des Künstler als (schöner) alter (kranker) Mann.
August
La chute de l’empire américain von Denys Arcand (2018) : »Komödie ums Geld« heißt ein Film von Ophüls, und auch Arcands herzensgut-blutiger Traktat über die zersetzenden Kräfte des Kapitals und deren subversive Unterwanderung könnte diesen Titel tragen, oder: »Das Geld anderer Leute«, oder: »Für ein paar Dollar mehr«, oder »Die Farbe des Geldes« oder: »Jagd nach Millionen«, oder ganz einfach: »Das Geld« PS: »The more I see of the moneyed classes, the more I understand the guillotine.« (Shaw)
Toy Story 4 von Josh Cooley (2019) : Eine Wiederbegegnung mit den üblichen Verdächtigen aus dem Kinderzimmer (und ein paar bizarren Neuzugängen): wieder eine abenteuerliche Rettungsmission und wieder das grüblerische Ringen der Objekte um die Subjekthaftigkeit. Ein wenig redundant das alles, dabei aber immer noch einigermaßen unterhaltsam.
Ich war zuhause, aber ... von Angela Schanelec (2019) : (»There’s such a lot of world to see.«) Vielleicht hat Schanelec ja einen Science-Fiction-Film gemacht, einen Film über Wesen, die aussehen wie Menschen, aber eigentlich Aliens sind, die zu verstehen versuchen, was es heißt, ein Mensch zu sein, die sich herumschlagen (müssen) mit den Fragen von Sein und Werden, Lüge und Wahrheit, Liebe und Tod. (Oder ist es ein Film über die Welt, gesehen mit den Augen eines Esels, eines Hundes, eines Hasen, einer Wachtel?)
September
Late Night von Nisha Ganatra (2019) : Nach 28 Jahren auf Sendung schlägt Moderatorin (Dame) Katherine Newbury die Stunde: zu alt, zu weiß, zu unpersönlich sei ihre allnächtliche Performance. »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«, wußte schon Hölderlin – als da in diesem Falle wären: Frische, Farbe, Selbstentblößung. (Dame) Emma Thompsons (ziemlich fulminante) The-Show-Must-Go-On-Darbietung muß Ganatras (ziemlich lahmer) Medienposse unterdies immer wieder aus der sentimentalen Patsche helfen.
Synonymes von Nadav Lapid (2019) : Stationendrama einer Identitätskrise oder Ein Israeli in Paris. Lapid folgt seinem verrückt spielenden (oder tatsächlich verrückten?) Protagonisten auf der (einigermaßen enervierenden) Flucht vor dem eigenen Herkommen durch eine ((Alp-)Traum-)Welt, die nicht zur neuen Heimat werden will. Das vaterländisch-muttersprachliche Ideen-Pêle-Mêle wird von Tom Mercier in der Hauptrolle auf atemberaubende Weise zusammengehalten.
Once Upon a Time ... in Hollywood von Quentin Tarantino (2019) : Im Grunde gleicht Tarantino einem Sammler, der kaum an den Objekten seiner Begierde interessiert ist, dem es vielmehr um deren massenweises Zusammenraffen und stolze Zurschaustellung geht. Über das Unbehagen in der Kulturindustrie hat er so wenig Erhellendes (oder Originelles) zu sagen (oder zu zeigen) wie über die Abgründe der Gegenkultur – so bleiben am Ende nur inhaltsleeres Gerede und fanfictionhaftes Entweichen in ein Es-war-einmal-Spiegelland, wo die Toten heute noch leben. (Aber gestorben sind sie leider doch.)
Ad Astra von James Gray (2019) : Was beginnt wie eine Weltraumodyssee ins Herz der Finsternis (Suche nach außerirdischer Intelligenz meets Wahnsinn im Grenzgebiet der Zivilisation), endet als trivialpathetischer Vater-Sohn-Konflikt. Weder die außergewöhnliche audiovisuelle Eleganz der Inszenierung noch Grays bohrende introspektive Ernsthaftigkeit (einsame Männer in unendlichen Weiten) können verhindern, daß die ins Kosmische zielende Erzählung abschmiert wie eine feuchte Silvesterrakete.
The White Crow von Ralph Fiennes (2019) : Was Callas für die Oper und Picasso für die moderne Malerei sind, ist Nurejew für den Tanz: ein Inbegriff. Fiennes liefert einen (formal äußerst gediegenen) filmbiographischen Abglanz der Ikone, der den ichbefangen-hochfahrenden Charakter des Protagonisten halbwegs zu fassen kriegt, von dessen künstlerischer Bedeutung aber kaum eine Ahnung gibt; gegen Ende der Erzählung gelingt ihm immerhin die spannungsreiche Darstellung einer ebenso folgenschweren wie denkwürdigen Lebensentscheidung.
Oktober
Gemini Man von Ang Lee (2019) : Will Smith und Will Smith (und Will Smith) in einem ultrakünstlichen Action-Killer-Thriller, dessen thematisches Potential (Individualität, Genmanipulation, Kriegsindustrie) von Lee gelegentlich touchiert, zumeist aber im hektischen Hin und Her zwischen Lüttich und Georgia, Kolumbien und Budapest ungerührt weggeballert wird.
Joker von Todd Phillips (2019) : Ein kaputter Typ in einer kaputten Gesellschaft lacht kaputt, was ihn kaputt macht. Mit seiner auf New Hollywood geschminkten exzentrisch-brutalen Sozialallegorie nimmt Phillips sich so wichtig wie der apokalyptische Protagonist. Daß Robert De Niro, der vergleichbare Rollen einst deutlich abgründiger zu gestalten wußte, in diesem Fall lediglich Stichworte geben darf, sagt mehr als tausend Clownsmasken.
Terminator: Dark Fate von Tim Miller (2019) : Ewige Wiederkunft des Gleichen: Mensch gegen Maschine gegen optimierte Mensch-Maschine gegen optimierte Maschinen-Maschine. Einer respektvoll erschüttertem Welt wird offenbar, welch dunkles Schicksal Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton ereilt hat, und Miller läßt dazu die Trümmer der jüngeren Filmgeschichte tanzen.
November
Lara von Jan Ole Gerster (2019) : Vierundzwanzig Stunden aus dem (nicht gelebten) Leben einer Frau – nach dem episodischen Oh-Boy-Prinzip heftet sich Gerster einen Tag lang an die Fersen einer ziemlich unliebenswürdigen Sechzigerin (Corinna »Stone Face« Harfouch). Geriet dem Regisseur das Debüt zum salopp-pointierten Zeitbild, reiht sein lang erwarteter Zweitling nur mehr stylisch-verquälte Abziehbilder aneinander.
Last Christmas von Paul Feig (2019) : Sentimentale Weihnachtsromanze aus einem London, das so unwirklich erscheint wie die Anwesenheit einer Elfe in der Suppenküche für Obdachlose. Trotz beiläufiger Fingerzeige auf Brexit-Problematik und fortschreitende Prekarisierung versinkt diese übersinnliche Herzensangelegenheit (zu schmusigen George-Michael-Klängen) vollständig im eigenen Schmalz.
Dezember
The Good Liar von Bill Condon (2019) : Was beginnt wie eine gemächliche Trickster-Romanze unter wohlerhaltenen Senioren (Ian McKellen meets Helen Mirren), entwickelt sich sukzessive zum (ziemlich unglaubhaften) Rache-Melodram um die Begleichung uralter Rechnungen. Condon verliert sich so tief in abstrusen Rückblenden, daß auch die böse Schlußpointe keine rechte Wirkung mehr entfalten kann.
A Rainy Day in New York von Woody Allen (2019) : Eine elegante Petitesse über junge Leute in der großen Stadt. Mit der sogenannten Realität hatte Allen nie besonders viel am Hut, und so bewegen sich seine Figuren auch in dieser leichtgewichtigen Liebes- und Gesellschaftskomödie durch ein kinematographisch-literarisches Paralleluniversum, das mit dem Hier und Jetzt höchstenfalls dekorative Äußerlichkeiten gemein hat.
Motherless Brooklyn von Edward Norton (2019) : Anklänge an Polanskis »Chinatown« sind überdeutlich: die Aufklärung eines Mordfalles führt in ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus Sex, Verbrechen und (Macht-)Politik. Nortons geschmackvoll-überlange Adaption des Romans von Jonathan Lethem ersetzt Los Angeles durch New York, die 1930er durch die 1950er, die coole Spürnase durch einen Schnüffler mit Tourette-Syndrom. Die Auflösung erscheint jedoch banal gemessen an der behaupteten Größe des Mysteriums.
Deux moi von Cédric Klapisch (2019) : Rémy und Mélanie, beide um die 30, wohnen Wand an Wand mit Blick über Bahngleise und die Dächer des grauen Pariser Nordens. Sie ist ständig müde, er kann nicht schlafen, sie trauert ihrem Ex nach, er findet keine Freundin, sie grollt mit ihrer Mutter, er lebt auf Distanz zur Familie. Klapisch inszeniert eine kluge psychologische Tragikomödie über Menschen, die sich nah sind, ohne voneinander zu wissen, folgt dem Weg zweier Parallelen, die sich (mit etwas Glück) nicht erst im Unendlichen treffen.
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