21. Dezember 2015

Entdeckungen im Müllkeller

Es ist eigentlich nicht meine Angewohnheit, im Müll zu wühlen; aber wenn in der Papiertonne etwas Interessantes obenauf liegt, dann grabe ich schon mal tiefer. In den letzten Wochen habe ich auf diese Weise ein paar bemerkenswerte Sachen gefunden, denn eine Nachbarin, Kritikerin und Filmemacherin, mistet offensichtlich ihr Bücherregal aus. Ich bin jetzt zum Beispiel im Besitz eines Kataloges der 29. Filmfestspiele von Venedig. Im Jahr 1968 hat meine Nachbarin (ihr Name prangt in großer zackiger Schrift auf der ersten Seite) zu Filmen, die sie dort gesehen hat, mit buchhalterischer Akribie Pressematerialien und Zeitungskritiken (vornehmlich aus »Die Zeit«, »Die Welt« und »FAZ«) auf die jeweiligen Seiten geklebt. Die vergilbten Ausschnitte sind übersät mit akkuraten Bunt- und Filzstiftanstreichungen in rot, blau, gelb, lila, schwarz. Manche Sätze sind sogar zweifach in verschiedenen Farben unterstrichen. Gelegentlich kommentierte meine Nachbarin die konservativen Kritikerurteile: »sehr unklar«, »doof« oder »die Jeremias hat Mutterkomplex«. Den Aufenthalt am Lido im Jahr der Revolte hat meine Nachbarin sehr ernstgenommen – das merkt, spürt, fühlt man dem Buch an. Warum sie dieses höchstpersönliche Dokument einfach so weggeworfen hat, bleibt ihr Geheimnis ... Ich habe Kataloge der Oberhausener Kurzfilmtage gefunden, Hefte der New Yorker Avantgarde-Zeitschrift »Film Culture« (darunter ein sehr seltenes über das Filmschaffen von Andy Warhol), eine reich bebilderte Veröffentlichung über die tschechoslowakische Filmproduktion der Jahre 1966/67, und ich habe acht Ausgaben der kurzlebigen, mir bisher völlig unbekannten Zeitschrift »Filme – Neues und altes vom Kino« aus der Tonne gezogen. Das Magazin erschien von 1980 bis 1982 in Berlin; herausgegeben wurde es unter anderem von dem Filmhistoriker Norbert Grob (»Fritz Lang«) und dem Drehbuchautor Jochen Brunow (»System ohne Schatten«). Ich bin so begeistert von den Heften – die neben Kritiken zu (damals) aktuellen Filmen und einfühlsamen Nachrufen jeweils ein Schwerpunktthema präsentieren (zum Beispiel amerikanische B-Pictures, die »Bildproduktion im Dritten Reich«, bundesdeutsche Schlagerfilme, »Die Arbeit der Kamera«) –, daß ich mir mittlerweile zwei fehlende Ausgaben bei Booklooker bestellt habe. Neben, über, unter »Filme« lagen auch ganze Jahrgänge von »epd Film« im Müll. Ich habe nur ein Heft von 1989 mitgenommen, das einen Artikel über den Regisseur Ottomar Domnick (»Jonas«) enthält. Am nächsten Tag wollte ich auch den Rest holen. Leider ist mir die Stadtreinigung zuvorgekommen. Die Tonnen waren leer. Platz für Neues. Ich gehe jetzt jeden Tag in den Müllkeller.

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