13. Dezember 2013

Sous le ciel de Paris

Kurzfilme von Georges Franju

1949 | »Le sang des bêtes« (»Das Blut der Tiere«)

»Je te frapperai sans colère
/ Et sans haine, comme un boucher«, zitiert Georges Franju aus einem Gedicht von Baudelaire: »Ich will dich schlagen ohne Hassen, / So wie ein Metzger, ohne Wut.« Bilder von Pariser Randbezirken: Kanäle, Brücken, Eisenbahnstrecken, Schorn­steine, leere Areale, einsam ragende Mietshäuser – melancholische Stadtlandschaften wie gebaut von Alexandre Trauner für ein Melodram von Marcel Carné. In solch malerisch-trostlosen Gegenden liegen die großen Schlachthöfe der Stadt: Vaugirard im Süden, la Villette in Osten. Franju zeigt, ohne jede vordergründige visuelle oder akustische Entrüstung, die Arbeit, die an diesen Orten verrichtet wird, zeigt das Handwerk des Tötens, das Töten als Handwerk, zeigt die Ströme von Blut, den Dampf der Eingeweide, zeigt die singenden, rauchenden, pfeifenden Schlächter, zeigt ihre präzisen Bewegungen. Es sitzt jeder Handgriff, jeder Stich, jeder Schnitt, jeder Bolzenschuß. Schaudern machen nicht allein die endlosen Züge von Pferden und Lämmern, von Rindern und Kälbern, die sich – »comme des hommes« – zur Schlachtbank führen lassen, es ist das selbstverständliche Ineinander von Gewalt und Normalität, von Tod und Alltag, das die Unheimlichkeit des Geschehens ausmacht (wobei die Assoziation von Konzentrations- und Vernichtungslagern naheliegt, aber nicht direkt intendiert wird). Wenn schließlich über einem Meer von Tierblut die »reflets d’argent« aus einem nachgeträllerten Chanson von Charles Trenet flirren, erreicht Franjus lyrischer Verismus seinen surrealen Gipfelpunkt.

1951 | »Hôtel des Invalides« (»Der Invalidendom«)

»Mesdames et Messieurs, voulez-vous bien me suivre.« Georges Franju unternimmt eine Reise durch die Geschichte des Krieges, eine Tour durch die Schlachten von Monarchie, Kaiserreich und Republik, eine Besichtigung des Pariser Invalidendoms: »La légende a ses héros, la guerre a ses victimes, ici, l’armée a son musée.« Rüstungen und Ritterhelme: eiserne Kostümierungen und bizarre Masken des Sensenmannes; kleine Kanonen, die ob ihrer Knubbligkeit zum Spott reizen und doch, ferne Vorfahren der Atombombe, vielfachen Tod verursacht haben; Parade der Vergangenheit, Panoptikum der Zerstörung; Fahnenwälder und Trommelwirbel, Uniformen und Generalspfeifen, Gräber und Sarkophage, Trophäen und Erinnerungsstücke; Bett und Tisch, Hut und (ausgestopfter) Hund des großen kleinen Korsen: »Vive l’empereur!« Erster Weltkrieg: Millionen Verwundete, Verschollene, Tote. Heilige Messe für die Invaliden der Grabenkämpfe: glitzernde Orden und zerschossene Gesichter. Auf einer Standarte der Krüppel prangt der gestickte Spruch: »Le paradis est à l’ombre des sabres.« Das Paradies liegt im Schatten der Schwerter. Nach der Führung beobachtet Franju, draußen auf dem Ehrenhof, eine Kolonne von Jungen, die einen alten militärischen Marschgesang anstimmen: »Auprès de ma blonde / Qu’il fait bon, fait bon dormir.« Der Kreislauf geht weiter, oder wie Platon sagte: Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.

1952 | »Le grand Méliès«

Hommage an einen Theaterdirektor und Autor, Schauspieler und Bühnenbildner, Regisseur und Illusionisten – Georges Méliès: »novateur, poète, commerçant.« Georges Franju erzählt von der Erfindung des Kinos aus dem Geist der Schaubude, des Jahrmarkts, des Zaubertheaters; er inszeniert seine kleine Biographie als Familienfilm: die fast 90jährige Witwe des Künstlers tritt auf, der Sohn spielt die Rolle seines Vaters, die Enkelin spricht den Kommentar. Franju verschmilzt Zeiten und Orte, die Gegenwart (des Jahres 1952) und einen plüschigen Fin-de-siècle-Salon, die Ära zwischen den Weltkriegen, als der verarmte Méliès einen Spielzeugladen in der gare Montparnasse betreibt, und die große Zeit des Cinéasten um 1900. Méliès holt nicht nur die Phantasie vor die kinematographische Apparatur, er entwickelt eine Kamera, baut ein Studio, gründet eine Produktionsfirma, betreibt ein eigenes Lichtspieltheater, erfindet bahnbrechende Filmtricks und sensationelle Spielhandlungen. Auf künstlerischen Triumph und geschäftlichen Erfolg folgen Nachahmer und Konkurrenten, veränderte Geschäftsbedingungen und Krieg, dann die Pleite und schließlich das Vergessen. Franju selbst und sein Freund Henri Langlois waren es, die mit Gründung der Cinémathèque française die frühe Filmkunst ins kulturelle Gedächtnis zurückriefen und Werke wie »Le voyage dans la lune« im Herzen der Nachwelt bewahrten; »Le grand Méliès« ist Franjus von dankbarer Liebe erfülltes bouquet de souvenirs für einen großen Innovator, für einen großen Magier.

1958 | »La première nuit« (»Das erste Erlebnis«)

»Ce film est dédié à tous ceux qui n’ont pas renié leur enfance et qui à dix ans ont découvert à la fois l’amour et la séparation.« Es ist eine uralte Geschichte: Junge trifft Mädchen, Junge verliert Mädchen, Junge findet Mädchen wieder (oder auch nicht). Georges Franju gestaltet die uralte Geschichte als poetisches Großstadtmärchen, als (Entdeckungs-)Reise durch die Unterwelten der métro de Paris, als labyrinthische Romanze in modernen Katakomben, als subterranes Traumbild, ohne Dialog, ohne Kommentar. Der kleine dunkelhaarige Junge folgt dem Lächeln des kleinen blonden Mädchens durch einen bouche de métro; Musik und Geräusche rhythmisieren seine Suche nach ihr, untermalen das Hin und Her, das Auf und Ab, die Impressionen von Zügen und Gitterschranken, von Gesichtern und Typen, von Treppen und Aufzügen, von Schildern und Lichtern, von Schienen und Schwellen. In der Nacht weicht die Beobachtung der Imagination. Menschenleere Gänge, das Spiel eines blinden Akkordeonisten, die Arbeit von Gleisbauern: sprühende Funken und tanzende Schatten. Franju läßt hell erleuchtete Geisterzüge durch verlassene Bahnhöfe rattern, zeigt vorbeihuschende Schemen in wehender Zugluft. Bei Tagesanbruch dann das Wiedersehen durch spiegelnde Scheiben. Eine Parallelfahrt von Zügen, deren Gleise auseinanderlaufen. Eine Träne. Das Morgengrauen. Und ein Park im November.

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