19. April 2019

Schwarz sehen (6)

Zwei italienische Noir-Variationen

1943 | »Ossessione« (»Ossessione – Von Liebe besessen«) von Luchino Visconti

Unter den Titeln der Ausblick durch die geteilte Frontscheibe eines Lastwagens: vorne die staubige Straße, links der breite Fluß, rechts das platte Land, über allem der nackte Himmel – eine eintönige Gegend, wie geschaffen für ein mörderisches Drama. Der Lastwagen hält an einer Trattoria mit Zapfstelle. Ein Vagabund steigt von der Ladefläche, argwöhnisch beäugt vom Wirt, einem brummigen Dickwanst. In der Küche trifft der Ankömmling auf die junge Gattin des Besitzers, die sich singend die Nägel lackiert, und schon ihr erster Blickwechsel ist ein gegenseitiges Verschlingen, Ausdruck einer Gier, die kommendes Unheil erahnen läßt. Luchino Visconti verlegt für seinen Debütfilm die Handlung von James M. Cains schwarzem Kriminalroman »The Postman Always Rings Twice« aus dem ländlichen Kalifornien der Depressionszeit in die Tristesse der oberitalienischen Poebene. Prekäre soziale Lage und personelle Konstellation – der attraktiv-willensschwache Drifter (Gino: Massimo Girotti), die frustriert-materialistische Frau (Giovanna: Clara Calamai), der begütert-ahnungslose Alte (Giuseppe: Juan da Landa) – gleichen einander, auch folgt der fatale Ablauf der Geschehnisse – leidenschaftliche Affäre, halbherziger Fluchtversuch, berechnender Mord – weitgehend der Vorlage; doch immer wieder bereichern Visconti und seine Koautoren den Plot um präzise Milieustudien – ein Tanzvergnügen im Gasthaus, das Getriebe eines Marktplatzes, ein volkstümlicher Gesangswettbewerb – und lassen eine Figur auftreten, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Verlangen, Abhängigkeit, Enttäuschung aufzeigt: der »Spanier«, ein Straßenkünstler, der wie Gino am Rande der Gesellschaft lebt, bietet ein Beispiel für Uneigennützigkeit, Solidarität, Kameradschaft, ein Beispiel das allerdings im konkreten Fall den tödlichen Lauf der Dinge nicht aufhalten kann, sondern (günstigenfalls) Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht.

1950 | »Cronaca di un amore« (»Chronik einer Liebe«) von Michelangelo Antonioni

Nein, es sei nicht die alte Geschichte, sagt der Chef einer Mailänder Auskunftei zu dem Mitarbeiter, den er auf die Spur einer attraktiven jungen Frau setzt, deren vermögender Gatte, nach Auffinden einiger alter Fotos, etwas über das Vorleben jener Paola erfahren möchte, die er sieben Jahre zuvor, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, Hals über Kopf geheiratet hat. Mit finsterer Ironie nutzt (und bricht) Michelangelo Antonioni im Folgenden visuelle und narrative Ingredienzen des Film noir, um das von der detektivischen Recherche (die auch nach Ferrara, die Heimatstadt des Regisseurs, führt) in Gang gesetzte Geschehen zu schildern, das eine lange erloschene Liebe hitzig wiederaufflammen läßt und im Tod des wißbegierigen Ehemannes gipfelt. In der Nachfolge Viscontis variiert Antonioni den Erzählkern von Cains Thriller »The Postman Always Rings Twice«, indem er gutbürgerliche Kreise zum Schauplatz der Handlung macht – in langen, sorgfältig arrangierten Einstellungen erzählt er von den Schatten der Vergangenheit und einem Dreieck der Leidenschaft, von Eifersucht und Argwohn, Überdruß und Verachtung, spricht aber auch (und vor allem) von moralischer und emotionaler Indifferenz der Nachkriegszeit, von Eigensucht und Desillusion des beginnenden italienischen Wirtschaftswunders, zieht Parallelen zwischen winterlichen Straßen und verlassenen Plätze, die den inneren Zustand der Protagonisten spiegeln, und der leeren Welt der »weißen Telefone«, ihren teuren Roben, schnellen Autos, luxuriösen Wohnungen, portraitiert mit Lucia Bosè und Massimo Girotti (der eine vergleichbare Rolle zuvor »Ossessione« spielte) schon in seinem ersten Spielfilm ein Paar, das der Krankheit der Gefühle erliegt.

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