23. Juni 2016

Standbild (7)

Marienplatz

Innen. S-Bahnhof. Verteilergeschoß. Nacht. Wände und Säulen der unterirdischen Halle sind ultramarinblau gefliest. Breite Lichtbänder stülpen sich aus der Betondecke, so daß der Eindruck eines weitgespannten Kappengewölbes entsteht. Die offen liegenden Neonröhren spiegeln sich in der hochglänzenden keramischen Wandverkleidung und sorgen für eine schattenlos kühle Beleuchtung des Raums. Im Hintergrund reihen sich vier signalblaue Fahrkartenautomaten, sechs Schaukästen mit Netz-, Zonen- und Fahrplänen des öffentlichen Nahverkehrs der Stadt sowie ein Großplakat für Zigaretten der Marke Lord Extra. Die farbenfrohe Illustration zeigt, neben einer übergroßen Packung der beworbenen Tabakware, drei gutgelaunte Personen, eine Frau und zwei Männer, rauchend auf einem Segelschiff. Über ihnen prangt auf wolkenlosem Himmel der Slogan: Genuß im Stil der neuen Zeit. Schräg links vor dem Plakat, unmittelbar neben einer der massiven runden Säulen, liegt auf dem hellgrauen Steinfliesenboden der Verteilerebene der ausgestreckte Körper eines jungen Mannes. Er trägt schwarze Schuhe, eine taubenblaue Hose, ein dunkelblaues T-Shirt und eine ausgewaschene Jeansjacke, auf deren Rücken achtundfünfzig polierte Silbernieten das Wort FOX in klaren Großbuchstaben formen. Ein wenig entfernt liegt ein leeres braunes Arzneimittelfläschchen, das laut Etikett Valium-5-Tabletten des Pharmaunternehmens Roche enthielt. Der Mann, der in Seitenlage zu schlafen scheint, hat eine Überdosis des Medikaments eingenommen, nachdem er von seinem Lebensgefährten um einen Lottogewinn in Höhe von einer halben Million D-Mark geprellt und anschließend verlassen worden war. In wenigen Augenblicken, kurz bevor zwei etwa zwölfjährige Jungen den Toten seiner letzten Habseligkeiten berauben, werden zwei zufällig vorbeikommende Bekannte des jungen Mannes, ein Antiquitätenhändler und ein Schausteller, den leblosen Körper entdecken, ihn jedoch an Ort und Stelle liegen lassen und sich fluchtartig entfernen, um nicht in mögliche Ermittlungen der Polizei verwickelt zu werden.

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