28. Oktober 2012

Schauen und Spielen

Kino | »Vous n'avez enrore rien vu« (»Ihr werdet euch noch wundern«) von Alain Resnais (2012)

Ein unlängst verstorbener Dramatiker bittet testamentarisch eine Gruppe von befreundeten Schauspielern (Michel Piccoli, Sabine Azéma, Pierre Arditi, Lambert Wilson, Anny Duperey, Mathieu Amalric u.v.a. spielen sich selbst) in sein prachtvolles Haus auf dem Land. Die Akteure und Aktricen sollen die Probenaufzeichnung eines seiner Stücke begutachten, eines Stückes, in dem jeder der Geladenen einst eine Partie übernahm. Schnell werden die Darsteller durch den Mitschnitt der aktuellen Inszenierung von ihren Rollen wieder in Besitz genommen, stimmen in die bekannten Dialoge ein, verwandeln sich in die vertrauten Figuren, und bald schon laufen verschiedene Interpretationen des Textes parallel … Alain Resnais arrangiert ein elegantes Spiel der Möglichkeiten, eine komplexe Versuchsanordnung mit doppeltem, dreifachen, vielfachen Boden: »Vous n’avez encore rien vu« nutzt ein fast vergessenes Drama, Jean Anouilhs »Euridice«, eine Modernisierung der Orpheus-Sage aus dem Jahr 1941, um Zeitebenen zu schichten, um Kulissen zu schieben, um Schauspielern eine filmische Arena für das Herstellen von Emotionen, für das Erkundung von Gefühlswelten, für die Verlebendigung von Worten zu bereiten. Resnais, geistreicher Kinomagier und spöttischer Entzauberer seiner selbst, variiert trickreich sein Lebensthema »Erinnern und Vergessen«, setzt die Dauerhaftigkeit des Mythos gegen die Flüchtigkeit künstlerischer Auffassung, verbindet kreative Strenge und ironische Distanz, läßt Parallelen im unendlichen Raum der Bühne aufeinandertreffen: Glück und Leid und Liebe und Tod und Scherz und Ernst und Einsicht und Blindheit und Jugend und Alter und Ewigkeit und Wandel … das uralte Theater der Welt und seine immerneue Aufführung.

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