23. Juni 2012

München leuchtet dunkel

DVD | »München – Geheimnisse einer Stadt« von Michael Althen und Dominik Graf (2000)

»Was ist das überhaupt, die Stadt?« fragen Michael Althen und Dominik Graf gleich zu Beginn ihrer essayistischen Recherche, um dann zwei Stunden lang – unter Aufbietung von zahllosen Erinnerungen, Fiktionen und Anekdoten, im assoziativen Spazieren durch Fragmente von Geschichten, Träumen und Phantasien – konsequent eine eindeutige Antwort zu vermeiden. Die Stadt, das ist ein Gehirn und ein Netzplan, das ist ein gebautes Palimpsest und ein vergeblicher Planungsvorgang, das ist die Gegenwart der Vergangenheit und ein flashforward in die kommende Zeit, das ist das Kind, das zu sehen lernt, und der alte Mann, dem das Augenlicht schwindet, das sind die vertrauten Geräusche und die Gerüche, die in heißen Sommern aus kühlen Kellern aufsteigen, das sind Blicke, die sich treffen und wieder verlieren und wieder treffen, irgendwann, irgendwo. Die Stadt, das ist ein Einzelner, der in und mit und von der Stadt lebt, die Stadt, das sind die Vielen, aus denen die Stadt gemacht ist, die die Stadt ausmachen. Jeder Stadt wäre ein Film wie dieser zu wünschen, ein Film, der sich auf die Suche nach ihren Geheimnissen macht, der ihnen nachstellt in zum Abriß bestimmten Hotels und in Überwachunsgzentralen, an künftigen und an verschwundenen Orten, bei Tag und in der Nacht, auf Straßen und Plätzen, in der Imagination und in der sogenannten Realität, ein Film, der die Geheimnisse liebevoll umkreist, der sie zu lesen versucht von den stillen Fassaden und aus den alten Photographien, ein Film, der die Geheimnisse im Schatten beläßt, dort, wo sie ihre ganze Magie entfalten. München hatte das Glück, diesen Film geschenkt zu bekommen.

2 Kommentare:

  1. Ist es Zufall, dass Du den Film so kurz nach LA JETÉE besprichst? Ich habe da gewisse Parallelen gesehen, obwohl ich MÜNCHEN - GEHEIMNISSE EINER STADT nur ungefähr zur Hälfte kenne (bin irgendwann nächtens mehr aus Versehen reingezappt und fasziniert drangeblieben). Vor allem natürlich in der Episode mit R. Suchsland, die in Fotos wie bei LA JETÉE erzählt wird.

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  2. Mal abgesehen davon, daß es solche Zufälle ja gar nicht gibt, habe ich diesen Zusammenhang jedenfalls nicht bewußt geplant. »München« wollte ich lange schon gerne einmal wiedersehen. (Ich bin wie Du vor Jahren im Fernsehen daran hängengeblieben.) Jetzt ist der Film endlich auf DVD erschienen. Am selben Tag, als ich die Scheibe in der ›Satyr Filmwelt‹ bestellte, fand ich dort einen alten Band über Chris Marker, mit dem ich mich in der Folge erstmals intensiv beschäftige. (Ein längerer Text über seine frühen Reisefilme folgt irgendwann demnächst – mittlerweile nähere ich mich bloggigen Großprojekten von Whoknows-Presents’schem Format). Ich denke ebenfalls, daß »München« Marker einiges verdankt: Die Fotostrecken sind sicherlich stark von ihm inspiriert, auch der windungsreiche Fluß des Kommentars, der den Bildern ihre Bedeutung gibt oder von den Bildern mit Bedeutung aufgeladen wird, die spontan wirkenden Verknüpfungen von verschiedenen Räumen, Zeiten, Gedanken, die mal ironische, mal pathetische, (fast) immer poetische Sprache, die angenehm sorglose Vermischung der formalen Mittel und – vor allem: das Thema »Erinnerung«. Schade, daß Althen und Graf nicht mehr Filme zusammen gemacht haben. (Ihre erste Zusammenarbeit, »Das Wispern im Berg der Dinge« über Grafs Vater Robert, ist auch recht sehenswert und leider auch recht vergessen.)

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