8. Oktober 2012

Viersektorenblues

Sieben Berlin-Filme der 1980er Jahre

»Ich fühl’ mich gut. / Ich steh’ auf Berlin.« (Ideal)


Horror | »Possession« von Andrzej Zulawski (F & BRD 1981)

Bröckelnde graue Fassaden, daneben farbenfrohe Neubaumontrositäten, drumherum eine Mauer aus Beton – der unheimliche Ort (West-)Berlin: Endstation, Grenzposten, Höllentor. »Don't open! Don't open! Don't open! Don't open! Please don't open!« In einem versifften Kreuzberger Salon mit Blick auf den Todesstreifen treibt es Isabelle Adjani (= Anna) mit einem schleimigen Ungeheuer. In einem (zunächst) cleanen Weddinger Apartment vergeht Sam Neill (= Mark) vor Eifersucht. In einer weitläufigen Charlottenburger Altbauetage sonnt sich Heinz Bennent (= Heinrich) im Glanze seines vergangenen Ruhmes als bester aller Liebhaber. Doppelgänger treten auf. Schwule Detektive sehen zuviel und sterben grausame Tode. Ein kleiner Junge übt Luftanhalten in der Badewanne. Eine alte Frau sorgt sich um die Seele ihres Sohnes. »Possession« ist: theologischer horror flick (»Do you believe in God? It’s in me.«), bestialischer Liebesfilm (»He made love to me all night.«), verrätseltes Polit-Melodram (»What I miscarried there was sister Faith, and what was left is sister Chance.«), entzündete Ehegeschichte (»No one is good or bad, but if you want, I'm the bad one.«). Andrzej Zulawski treibt seine Akteure über schwankendes Terrain hinaus aufs offene Feld der Raserei – Neill, der einen Schaukelstuhl zur Wippe der Irrsinns werden läßt, Bennent, der umnachtet durch eine Treppenhaus tanzt, Adjani, die auf einem nächtlichen U-Bahnhof schreiend, zitternd und zuckend ein unaussprechliches Etwas zur Welt bringt: »Goodness is only some kind of reflection upon evil. That's all it is.« PS: Und dann ist da noch der Mann mit den rosa Socken …

Kindheit | »Sabine Kleist, 7 Jahre« von Helmut Dziuba (DDR 1982)

Seit dem Unfalltod ihrer Eltern lebt Sabine Kleist im Kinderheim. Als ihre geliebte Erzieherin Edith (Simone von Zglinicki) das Heim verläßt, weil sie selbst ein Kind erwartet, ist die Siebenjährige zutiefst gekränkt. Sie schlägt nach Ediths dickem Bauch und läuft fort. Zwei Tage und zwei Nächte ist Sabine allein in (Ost-)Berlin unterwegs: Sie reitet auf einem Zirkuspferd über die Karl-Marx-Allee, sie liest am Alexanderplatz einen verlorenengegangenen polnischen Jungen auf und planscht mit ihm im Brunnen unterm Fernsehturm, in der Kaufhalle wird sie von einer boshaften Alten zu Unrecht des Keksdiebstahls bezichtigt, sie freundet sich mit dem frischpensionierten Witwer Karl (Martin Trettau) an, vor dem die Tristesse eines Rentnerdaseins im Plattenbau liegt … Regisseur Helmut Dziuba und Kameramann Helmut Bergmann beobachten die (von Petra Lämmel ergreifend gespielte) kleine Trebegängerin – ihre unverdorbene Neugier und ihre spröde Schnoddrigkeit, ihre tiefe Einsamkeit und ihre fortgesetzten Versuche von Kontaktaufnahme – mit diskreter Sympathie und ganz ohne pädagogische Herablassung. Immer wieder sieht sich Sabine mit existentiellen Fragen konfrontiert: Warum wird auf einer Beerdigung Musik gespielt, wenn doch der Tote die Klänge gar nicht mehr hören kann? Oder: »Dürfen Erwachsene überhaupt weinen?« Aus dem nur scheinbar naiven Blickwinkel eines Kindes entsteht das Bild einer Gesellschaft, die längst nicht so nestwarm-solidarisch ist, wie sie es sich auf ihre Spruchbänder schreibt, und es entsteht die Ansicht der Stadt, die sich diese Gesellschaft gebaut hat. Nach der Übernachtung in einem Abrißhaus entschließt sich die Ausreißerin selbstbewußt, ins Kinderheim zurückzukehren. Niemand will wissen, wo sie war, was sie gemacht hat. Auf die nichtgestellte Frage könnte Sabine mit den Worten von Raymond Queneaus legendärer Göre ›Zazie‹ antworten: »Ich bin älter geworden.«

Grenze | »Meier« von Peter Timm (BRD 1986)

Ostdeutsch oder westdeutsch? Gesamtdeutsch! Eduard ›Ede‹ Meier, Malerbrigadier bei der KWV in Berlin, Hauptstadt der DDR, erbt 30.000 D-Mark und begeht Republikflucht, aber nur, weil er einmal um die Welt reisen will. Mit seinem teuer erkauften ›Behelfsmäßigen Personalausweis‹ besucht der frischgebackene Westberliner anschließend tagtäglich die alte Heimat in der anderen Halbstadt hinter der Mauer, um das volkseigene Renovierungswesen mit illegal importierter Rauhfasertapete zu revolutionieren … Peter Timm setzt eine hübsche, kleine, liebevoll lokalkolorierte Gesellschaftskomödie vom Wahnwitz der deutschen Teilung ins Werk: Vor Meiers subversiver Systemtreue, die ihn zum ›Helden der Arbeit‹ befördert, müssen am Ende sogar Parteisekretäre und Stasioffiziere kapitulieren, zumal sich die papierne Schmuggelware als Produkt aus Karl-Marx-Stadt erweist, das als devisen­bringender Export ausschließlich ins ›nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet‹ geht. PS: Rund ein Jahr nach der Premiere von »Meier« wird die Tapete zum Symbol des (noch nicht möglichen) politischen Wandels: SED-Chefideologe Kurt Hager lehnt für die DDR Reformen nach dem Vorbild Gorbatschows mit dem Worten ab: »Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« ›Ede‹ Meier hätte vermutlich entgegnet: »Kommt auf das Muster an.«

Engel | »Der Himmel über Berlin« von Wim Wenders (BRD & F 1987)

Der Engel Damiel (Bruno Ganz) will nicht mehr nur von höchster Warte auf Dinge und Menschen schauen, nicht mehr nur in der reinen aber kalten Sphäre des Geistes leben, er will auch mal eine Tasse Kaffee trinken oder einer Frau an den warmen Busen fassen … Wim Wenders erzählt die Erdenfahrt des Himmelswesens als zwangspoetisches Kunstmärchen, nimmt sich alle Zeit der Welt, um seine hypothetischen Figuren voll deutschester Innerlichkeit über die Sehnsucht nach Kindschaft und die Tragweite von Erzählung, über Einsamkeit und Zugehörigkeit sinnieren (und deklamieren) zu lassen. Dabei geht es Wenders wie der von Damiel angeschwärmten Zirkusartistin Marion (pratschig: Solveig Dommartin), die auf breiten Schwingen durch die Manege fliegen möchte, und doch nur schwerfällig hin- und herbaumelt wie ein gerupftes Hühnchen: Er hebt nicht ab, egal wie heftig er mit den lyrischen Flügeln schlägt. Die (von Henri Alekan erlesen fotografierten) leeren Posen des Films bieten immerhin den Anlaß zu einer sorgfältigen Vermessung des mythischen Ortes Westberlin, eines jenseitigen Diesseits, das bald schon, von den Engeln verlassen, im Flugsand der Geschichte verrinnen wird: Die Brachflächen und den Mauerstreifen, den verschwundenen Potsdamer Platz und den angehaltenen Anhalter Bahnhof, die urbanen Provisorien und den allgegenwärtigen Rauhputz, den BMW-Pavillon am Kurfürstendamm und die gußeiserne Hochbahn am Gleisdreieck, die verplüschte Bar des Esplanade und die Würstchenbude am U-Bahnhof Güntzelstraße bewahrt »Der Himmel über Berlin« in ihrer ganzen traurigen, häßlichen, bisweilen phantasmagorischen Schönheit.

Querschnitt | »Linie 1« von Reinhard Hauff (BRD 1988)

»In jeder Großstadt bin ich zuhaus’, / nur dieses Nest hier halt ich nicht aus.« Lose verbunden durch ein dünnes Handlungsfädchen – naives Provinzmädel sucht in (West-)Berlin nach dem verlorenen Traumprinzen – reiht »Linie 1« (ziemlich wahllos) Songs und Szenen aus dem Leben einer gefühlten Weltstadt aneinander, mischt Sozialkritik und Sülze, Kabarett und Boulevard. Reinhard Hauffs Leinwandadaption des ›Grips-Theater‹-Musicals setzt auf betont künstliche Kulissen und eineindeutige Klischeetypen. Am besten funktioniert der Film, wenn er offen sentimental ist, etwa wenn das picklige Pummelchen Maria »Du bist schön, auch wenn du weinst!« singt, oder wenn ein Rentner mit rostiger Stimme den neuen Tag begrüßt: »Das Herz will zerspringen, die Seele verglüh’n, / wenn am Görlitzer Bahnhof die Linden blüh’n / und über die Mauer die Möwen zieh’n. / Es ist herrlich zu leben in Berlin.« Ansonsten verderben eine blasse Hauptdarstellerin, schlechte Playbacks, einfallslose Choreographien und fade Lichtführung viel vom Spaß, den die U-Bahn-Revue machen könnte; das Ergebnis der Bemühungen ist, bei allem produktionellen Aufwand, trotz Wilmersdorfer Witwen und Kontroletti-Tango, eine »Discoshow auf Provinzniveau«.

Liebe | »Coming Out« von Heiner Carow (DDR 1989)

»Im Kühlschrank brennt Licht. / Wo bin ich denn hier? / Ist alles so kalt, / ist alles so leer.« Philipp Klarmann (Matthias Freihof) ist Lehrer an der Ostberliner EOS »Carl von Ossietzky«. Er beginnt eine Beziehung mit seiner Kollegin Tanja (Dagmar Manzel). Bei ihr trifft Philipp einen Schulfreund wieder, seine erste Liebe, die nicht sein durfte, was sie war. Die Begegnung löst eine persönliche Krise aus, in deren Verlauf Philipp den jungen Matthias (Dirk Kummer) erst glücklich und dann unglücklich macht, um schließlich aus sich herauszukommen und damit zu sich selbst zu finden … Heiner Carow und seine Szenaristen Erika Richter und Wolfram Witt verfolgen nicht nur einfühlsam den Weg des Protagonisten zum eigenen Ich (ein Weg, der unter dem latenten Druck einer repressiven Wir-Gesellschaft um einiges schwieriger ist als angesichts überall herrschender Normativität sowieso schon), sie werfen auch, jenseits vom ironisch-melancholisch dargebotenen Kitsch und Flitter der schwulen Welt, scharfe Schlaglichter auf real-existierenden Konfliktstoff wie Ausländerfeindlichkeit und Homophobie, Probleme, die in der sozialistischen Menschengemeinschaft ansonsten lieber totgeschwiegen werden, und sie fangen in ihrem Defa-Spätwerk noch einmal mit Hingabe und Akkuratesse das graue Weltniveau der Hauptstadt der DDR ein: Aus den Bildern von schummrigen S-Bahnhöfen und pißgelbgefliesten U-Bahntunneln, aus den Ansichten von der nächtlichen Holzmarktstraße und der betriebsamen Ecke Schönhauser, aus dem Impressionen vom Cruising am Märchenbrunnen und vom Schlangestehen vor dem Konzerthaus am Platz der Akademie riecht es förmlich nach Hausbrand, nach Zweitakter-Abgasen, nach gehaßliebter Heimat. Daß »Coming Out« just an jenem Tag seine Uraufführung erlebte, als ein ganzes (halbes) Volk durch eine Mauer brach, ist einer der besseren Treppenwitze der Film- und Weltgeschichte. PS: »Wie ein Stern in einer Sommernacht / ist die Liebe, wenn sie strahlend erwacht.«

Tod | »Dr. M« von Claude Chabrol (BRD & F & I 1990)

»Gibt es ein Leben vor dem Tod?« M wie Medien. M wie Manipulation. M wie … Claude Chabrol begibt sich – in Berlin: wo sonst? – auf die Spuren seines Idols Fritz Lang und dessen Mega- und Metaschurken Mabuse. »Dr. M«, der letzte Film aus der geteilten Stadt, ist ein faszinierendes Endzeitprodukt: Berlin wird von einer rätselhaften Selbstmordwelle erfaßt. Menschen werfen sich vor S-Bahn-Züge, springen von Dächern, ersäufen sich in ihren Pools, rauschen mit Autos in die Schaufenster von Kaufhäusern. Die Behörden in Ost und West sind hilflos, Panik greift um sich, alles rennet, rettet, flüchtet. Ruhe bewahrt allein der immer lächelnde Dr. Marsfeld (Alan Bates), Chef der einflußreichen TV-Station ›Mater Media‹, Herr des ›Club Extinction‹, wo die Jugend zu stampfenden Rhythmen und Ansichten der zerbombten Reichshauptstadt ihr Glück im Vergessen sucht, Betreiber des Ferienparks ›Theratos‹ (≈ »Eros« + »Thanatos«), für den die schöne Sonja Vogler (Jennifer Beals) auf überdimensionalen Bildschirmen wirbt: »Es wird Zeit zu gehen. In ein besseres Leben zu fliehen.« Wie die letzten Werke von Fritz Lang gleicht auch »Dr. M« eher der Skizze eines Films, mutet an wie die szenisch eingerichtete Lektüre eines Drehbuchs: »Alles nur Oberfläche. Keine Substanz. Der Stoff, aus dem die Träume sind.« Die Figur des überlebensgroßen Verbrechers, der nichts anderes will als Zerstörung, die Persona des poetischen Nihilisten, der die Schönheit im Tod, dem einzig vollkommenen Zustand, sucht – sie paßt wohl an keinen anderen Ort der Welt so gut wie ins zerschnittene Berlin, an diese morbide Endstation der Geschichte: »Weder Täter noch Opfer. Das Flüchtige. Oder der Tod. Weder Zeit noch Ewigkeit. Ich bin die Mauer. Die Sehnsucht nach Frieden. Nach Schweigen. Nach Ruhe. Ich bin das Nichts. Ich hinterlasse uns nichts.« Aber das Rad dreht sich weiter. Auf den für ewig geglaubten Stillstand folgt – niemand außer den Dichtern hätte es für möglich gehalten – die Wiederauferstehung: »Es wird Zeit, nach Hause zu kommen. Zurück zum Leben.«

»… ›Berlin‹, dieses unheimliche Wort für einen unheimlichen Ort, der wie das Fegefeuer durchlaufen werden muß, um danach Ruhe zu finden …« (Marie-Luise Scherer)

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