26. Juni 2019

2019 1/2

Aktuelle Filme im ersten Halbjahr

Januar


Shoplifters von Hirokazu Koreeda (2018) : Was schafft familiäre Bindung: dasselbe Blut in den Adern oder ein liebevoller Umgang und der gemeinschaftliche Verzehr von Nudelsuppe (aus Plastikbechern, wenn es sein muß)? Koreeda verhandelt das Thema erzählerisch auf ermüdend unspektakuläre Weise; zudem verzichtet sein bis zur Tonlosigkeit stilles Sozialdrama weitgehend auf visuelle Raffinesse.

Spider-Man: Into the Spider-Verse von Bob Persichetti & Peter Ramsey & Rodney Rothman (2018) : »Too much of a good thing can be wonderful!« wußte schon Mae West. Die Macher des Films haben sich das Motto der Diva ent­schlossen zu eigen gemacht – von einigen offenbar unvermeidlichen (Vater-Sohn-)Gefühligkeiten abgesehen, bietet ihr diversitär-ironisches Spider-Verse teilchenbeschleunigte Kurzweil und eine ingeniös-psychedelische Verschmelzung von Print- und Animation­sästhetik.

Der Junge muß an die frische Luft von Caroline Link (2018) : Tragikomischer Familienroman, atmosphärisch dichtes Sittenbild der alten Bundesrepublik, Geschichte einer helldunklen Kindheit. Link gestaltet ihre Adaption der Erinnerungen von Hape Kerkeling als berührende Reise durch Außen- und Innenwelten, in denen Schlagerglück und Depressionen, Eierlikör und Karneval, Zusammenhalt und Tod gleichermaßen ihren Platz haben: »Das Leben muß ja irgendwie weitergehen.«

The Favourite von Yorgis Lanthimos (2018) : »Let’s shoot something!« Kabale und Liebe am Hof der ersten britischen Monarchin. Lanthimos’ parabolische Weitwinkel-Groteske der Macht(losigkeit) leuchtet, bei aller dekorativ-amüsanten Bizarrerie, tief in die Abgründe geschundener Seelen, die, ob Herrscher oder Beherrschte, ob handelnd oder behandelt, zu erbärmlichen Sklaven ihrer (politischen, sozialen, erotischen) Rolle werden.

Februar

The Mule von Clint Eastwood (2018) : Ein alter weißer Mann zeigt hitzigen Latinos, wie man zum erfolgreichen Drogenkurier wird: indem man sich an die Verkehrsregeln hält, mal einen Umweg zum besten Pulled-Pork-Sandwich der Welt macht oder einer netten N-Wort-Familie beim Reifenwechsel hilft. Quasi im Vorbeifahren gelingt dem greisen Helden natürlich auch noch die Versöhnung mit der entfremdeten Familie – wohl nur einem liebenswerten Fossil wie Eastwood ist ein solcher Quatsch zu verzeihen.

Brecht von Heinrich Breloer (2019) : Keine Spur von V-Effekt: Breloer setzt auf kreuzbrav-illusionistische Nacherzählung der B.B.-Biographie – zuerst Jugend und Durchbruch, dann Alter und Denkmalwerdung. Wird Brechts künstlerische Persönlichkeit, vor allem in den dargestellten Probensituationen, dabei noch einigermaßen greifbar, bleiben die zahlreichen Frauenfiguren das, was wohl auch der Dichter am liebsten in ihnen sah: Trabanten, die ums Zentralgestirn kreisen.

Roma von Alfonso Cuarón (2018) : Erinnerungen an das Leben in einem gutbürgerlichen Haushalt in Mexico-City zu Beginn der 1970er Jahre. Während draußen vor der Tür die Gesellschaft in blutigen Aufruhr gerät, bröckelt drinnen das heimische Glück: der Vater verläßt Frau und Kinder, das schwangere Hausmädchen bekommt vom Lover den Laufpaß. Cuarón entwickelt die sozialen und privaten Dramen ohne Aufgeregtheit, reiht präzise choreographierte, visuell hochstilisierte Szenen des Alltags und der Sitten, betrachtet die Spiegelung eines Flugzeugs im hin- und herschwappenden Putzwasser mit derselben beiläufigen Teilnahme wie die Hetzjagd auf Menschen in den Straßen der Stadt.

Der Goldene Handschuh von Fatih Akin (2019) : »Es geht eine Träne auf Reisen.« Drastik als ästhetisches Programm – daß Akin einen Serienmörder zuerst und vor allem als Serienmörder zeigt, daß er auch bei der x-ten Bluttat nicht wegschaut, sondern hinsieht, daß es ihm dabei weniger um Kriminalpsychologie oder Gesellschaftskritik zu tun ist, sondern vielmehr um die Gestaltung einer todtraurig-monströsen BRD-Noir-Horror-Schlager-Show, mag man als Voyeurismus oder Sozialpornographie abtun. Man kann es aber auch künstlerische Konsequenz nennen: »Die Märchen wollen nicht mehr Märchen sein.«

März

Vice von Adam McKay (2018) : Nicht nur in Wyoming, auch mancherorts in Hollywood kennt man den Unterschied zwischen richtig und falsch. In diesem Sinne identifiziert McKay Ex-Vizepräsident Dick Cheney als Fürsten der politischen Finsternis, der für ungefähr jede Schweinerei der jüngeren US-Geschichte verantwortlich zeichnet; vor lauter beifallheischender satirischer Schenkelklopferei wird das Objekt seiner Kritik freilich zum Knuddel-Buhmann nachträglicher (und dementsprechend ziemlich nutzloser) liberaler Wohlfühlpropaganda (mit zugegebenermaßen solidem Unterhaltungswert).

The Sisters Brothers von Jacques Audiard (2018) : In diesem schwarzironischen Post-Western schickt Audiard seine Helden (?) nicht nur auf einen abenteuerlichen Trip durch vorzivilisatorische Gefilde, sondern vor allem auf eine innere Reise durch die widersprüchlichen Landschaften ihrer Schwächen (Habgier, Gleichgültigkeit, Brutalität) und Stärken (Fantasie, Ausdauer, Mitleid), um sie den Hort des Glücks nicht an einem utopischen, sondern an einem altbekannten Ort entdecken zu lassen (Wie es bei Novalis heißt: »Wo gehn wir denn hin?« – »Immer nach Hause.«)

Asche ist reines Weiß von Jia Zhangke (2018) : China zwischen Jahrtausendwende und Gegenwart: Zwei Jahrzehnte drastischer wirtschaftlicher, sozialer (und topographischer) Veränderungen liefern den Hintergrund für Jias elegisch-elliptisches Unterweltmelodram, das seine Protagonisten – einen ziemlich glücklosen Provinzmafioso und eine ziemlich willensstarke Gangsterbraut – durch Land und Zeit spült, ohne den Antriebskräften des gesellschaftlichen Umbruchs besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

M – Eine Stadt sucht einen Mörder von David Schalko (2019) : Ein Kindermörder versetzt Wien in Angst und Schrecken, die Polizei tappt im Dunkeln (bzw. im Schnee), das Recht sucht sich seinen Weg. Schalkos figurenreiches Update des Fritz-Lang-Klassikers will alles sein –Soziogramm und Zeitstück, Kunstmärchen und Thriller, Drama und Groteske –, richtet das Augenmerk dabei, anders als das Original, nicht auf die Funktionsweise eines städtischen Organismus, sondern (bisweilen recht oberlehrerhaft) auf das Zusammenspiel einer unheiligen Dreifaltigkeit aus Politik, Medien und gesundem Volksempfinden. In der Summe originelles Entertainment, das Langs künstlerischer Meisterschaft freilich um Längen hinterhinkt.

Us von Jordan Peele (2019) : »Ich bin, was du vergessen hast«, sang einst Ingrid Caven; Peele läßt eine ganze Untergrundarmee von Vergessenen aufmarschieren, um zunächst mit der guten alten (schwarzromantischen) Angst des Menschen vor seinem Doppelgänger (als Symbol des Verdrängten und des drohenden Identitätsverlustes) zu spielen und sodann das blutige Strafgericht (Jeremia 11,11) an einer Gesellschaft zu exekutieren, deren Mitglieder auf Kosten anderer (ihrer entwürdigten Ebenbilder ≈ ihrer selbst) leben: »Who are you people?« – »We’re Americans.« Horror mit Botschaft.

April

Dumbo von Tim Burton (2019) : Ein Film wie ein Elefant mit übergroßen Ohren, der, anders als sein Protagonist, zu keinem Zeitpunkt vom Boden abhebt. Burton irrt durch ein Drehbuchgestrüpp aus Mutterkult und Zirkuskitsch, Tierethik und Familienschnulz, wobei er eben jenen ziel- und lustlosen Vergnügungsterror betreibt, den er – in Gestalt eines absurd diabolischen Unterhaltungsmoguls – anzuprangern vorgibt.

Welcome to Marwen von Robert Zemeckis (2018) : Um das Trauma einer fast tödlichen Prügelattacke zu verarbeiten, läßt Mark Hogancamp die Puppen tanzen: In (s)einer phantastisch-therapeutischen Kunstwelt wird der Überlebende zum US-Offizier, der im Belgien des Zweiten Weltkriegs, sekundiert von einem Trupp heldinnenhafter Damen, gegen schier unverwüstliche Hakenkreuzträger zu Felde zieht. Zemeckis inszeniert das Psychodrama eines versehrten Mannes als bizarr-schlüssige Mischung aus intimer Seelenstudie und knallig animierter Naziploitation.

Mai

La dernière folie de Claire Darling von Julie Bertuccelli (2018) : Deneuve als leicht tüdelige alte Dame, die, von einer plötzlichen Todesahnung ergriffen, ihren großbürgerlichen Haushalt verramscht. Hinter den dekorativen Kulissen spukt ein (eher banales) Familiengeheimnis, dem Bertuccelli, auch wenn Vergangenheit und Gegenwart erzählerisch stellenweise sehr elegant ineinanderfließen und der große Ausverkauf in einer (an Antonioni erinnernden) Explosion der Dingwelt kulminiert, kaum emotionalen Suspense abringen kann.

Das Ende der Wahrheit von Philipp Leinemann (2019) : Leinemanns Pullach-Ausgabe eines Internal-Affairs-Geheimdienstthrillers versammelt zwar ein ansehnliches Ensemble (Fehling, Michelsen, Prahl, Zehrfeld, Zirner), aber leider auch alle Langweiligkeiten des Genres: schablonenhafte Charaktere, öde Lagebesprechungen, stereotype Intrigen, krokodilstränenselige Gewissensprüfungen. Das Ende dieser Wahrheit liegt im Schema F begraben.

Greta von Neil Jordan (2018) : Viel Bekanntes spukt durch diesen trashig-eleganten New Yorker Stalker-Thriller: »The Collector« und »Fatal Attraction«, Märchenhexenwesen und Hagsploitation. Jordan tut gut daran, das (psychotische Störungs-)Feld ohne Wenn und Aber der unfehlbaren Isabelle Huppert zu überlassen, die mit selbstironischem Vergnügen die liebesträumerische (und tödlich durchgeknallte) Titelheldin verkörpert.

Juni

Rocketman von Dexter Fletcher (2019) : Zwar hebt auch Fletcher das narrative Reglement des Biopics nichts aus den Angeln, doch immerhin befüllt er seine Musical-Adaption der Vita von Elton John mit reichlich Camp und Schmaltz (und Sex-Appeal), womit er seinem Werk streckenweise jenen vulgärbarocken Drive verleiht, den es seit Ken Russells Künstlerbiographien im Kino ansonsten kaum mehr zu erleben gibt.

Doubles vies von Olivier Assayas (2018) : »The Martians have notebooks in their little hand / Because they’re strangers in this land.« Ist das Leben ein Roman? Ist Kunst eine Fortsetzung der Realität mit anderen Mitteln? Ist die Digitalisierung der folgerichtige Endpunkt menschlicher Entwicklung? Am Beispiel zweier intellektueller Pariser Paare –Verleger und Schauspielerin, Schriftsteller und Politberaterin – dekliniert Assayas diese (und andere) Fragestellungen wortgewandt-vergnüglich durch, ohne daß er vorgäbe, mit Antworten dienen zu können.

The Dead Don’t Die von Jim Jarmusch (2019) : »This is definitely going to end badly«, ahnt Officer Ronald Peterson schon zu Beginn der (ebenso seltsamen wie menschheitsgeschichtlich gesehen seltsam folgerichtigen) Ereignisse: die Toten steigen aus ihren Gräbern, und, gleich den Lebenden, wollen sie mehr von allem. Jarmusch bewahrheitet in seiner gemächlichen Genre-Variation das ungute Gefühl des defätistischen Polizisten mit gewohnter Deadpan-Attitüde: konsequent dezimiert er seinen All-Star-Cast und läßt (unser aller kleine Stadt) Centerville den Siegeszug des kannibalistischen Kapitalismus erleben. Anders gesagt: »What a fucking world.«

Men in Black: International
von F. Gary Gray (2019) : Tritt ein Genre (oder »Franchise«) in die Phase der Selbstbezüglichkeit, schlägt die Stunde der inneren Angelegenheiten. MIB macht da keine Ausnahme und präsentiert im vierten Teil des klotzigen Sci-Fi-Agenten-Action-Spektakels einen internen Schurken, der sich passenderweise mit einer Art von kosmischem Krebsgeschwür assoziiert. Die vom Titel verkündete Internationalität bezieht sich vermutlich auf das wahllose Location-Hopping in schlechtester Bond-Tradition.

O Beautiful Night von Xaver Böhm (2019) : Die nächtliche Stadt als Jenseits im Diesseits, als transzendentes Licht- und Schattenspiel: ein hypochondrischer Jungmann zieht (eher ungewollt) mit dem Tod (in diesem Fall ein osteuropäischer Schluri) um die Häuser und findet die Liebe (in Gestalt einer philosophisch interessierten Peepshow-Tänzerin). Wie alle guten Trips gibt Böhms makaber-farbstarkes Neon-Nocturno weniger auf konventionelle Handlung denn auf ephemere Eindrücke, Emotionen, Erleuchtungen.