26. Oktober 2018

Standbild (20)

Tiergarten

Außen. Park. Tag. Ein trampelpfadartiger, etwa anderthalb Meter breiter Sandweg verläuft in einer weiten Rechtsbiegung durch eine mit kleinen Birkengruppen bestandene ungemähte Wiese, die ringsumher von Buschwerk und dichtbelaubten Bäume begrenzt wird. Auf dem Weg, gegenüber einem zylinderförmiger Mülleimer und einer Bank, deren geschwungene Holzbelattung auf schmiedelackierten Metallgestellen befestigt ist, verharrt eine junge Frau von sechzehn oder siebzehn Jahren. Ihr Outfit besteht aus weißen Turnschuhen, einer schwarzen Hose sowie einem schlabberig sitzenden, königsblauen Oberteil mit tiefem v-förmigen Ausschnitt, überlangen Ärmeln und eckigem Rückenkragen; ihr glattes dunkelbraunes Haar, das als Pony in die Stirn fällt und seitlich die Ohren bedeckt, ist am Hinterkopf zu einem nackenlangen offenen Zopf zusammengebunden. In den Händen hält die junge Frau eine aufwendig gearbeitete Brieftasche aus hellgrauem Leder und darauf ein entfaltetes Blatt Papier der Größe DIN A4, das sie einem Fach der Mappe entnommen hat. Auf den Bogen sind, in waagerechter Folge, vier quadratische Schwarzweißbilder montiert: links die Reproduktion der Fotografie eines etwa zweijährigen Mädchens, daneben drei computergenerierte Bildnisse, die das mögliche Aussehen desselben Mädchens im Alter von jeweils ungefähr sechs, zwölf und sechzehn Jahren zeigen. Das letzte Bild der Reihe besitzt eine auffallende Ähnlichkeit mit der jungen Frau, die es in diesem Moment ausdruckslos betrachtet, nachdem sie kurz zuvor der Besitzerin der Brieftasche, einer ihr unbekannten Französin mittleren Alters, begegnet ist. Die Französin behauptete, in der jungen Frau ihre vor langer Zeit verschwundene Tochter erkannt zu haben, ein Vorgang, der sich allerdings, wie bald deutlich wurde, aufgrund einer durch diesen Verlust ausgelösten psychischen Erkrankung in der Vergangenheit bereits viele Male wiederholt hatte, so daß auch das Vorhandensein gewisser Identifizierungsmerkmale am Körper der jungen Frau – einer Narbe am Knöchel, eines herzförmigen Muttermals auf dem Rücken – für den treusorgenden Ehemann der schwer traumatisierten gewesenen Mutter letztendlich keine Überzeugungskraft besaß.