20. November 2021

Zwanzigeinundzwanzig

Idee für eine kranke Komödie

»Wenn der Wahnsinn epidemisch wird, heißt er Vernunft.« Oskar Panizza

Dramatis personae
Dr. Engel, Leiterin einer Irrenanstalt
Klops, ihr Adlatus
Winfried, Markus, Michael, drei Pfleger
3G, 2G, 2G+, drei Pförtner
Dr. Osten, Spezialist für rätselhafte Fälle
Dr. Westen, Fachtierarzt in besonderem Auftrag
Dr. Leisegraben, Chefdemagoge des Pharmakonzerns BodyHappiness
Dr. Clift, Weltkurpfuscherpräsident
Dr. Asilamak, Wundertäter
Gebrüder Geldmacher, Multimilliardäre
Hölzchen, ein junger Gesundbeter
Kim Mai-Tai, eine supersmarte Allescheckerin
Gaukler, Schwurbler, Patienten

I. Akt
Anmutige Gegend
Vormarsch des Unheimlichen. Panik.

II. Akt
Hochgewölbtes Zimmer
Entwicklung des Gegenmittels. Hoffnung.

III. Akt
Vor einem Palast
Verkündung der Maßnahmen. Jubel.

IV. Akt
Hochgebirge
Heilung der Welt. Ekstase.

V. Akt
Offene Gegend
Durchbruch der Wahrheit. Schweigen.

9. Mai 2021

Kino aus der Zwischenzeit (5)

Westdeutsche Filme der 1980er Jahre: Hans-Christoph Blumenberg

Hans-Christoph Blumenberg, Jahrgang 1947, ist einer der (ganz) wenigen deutschen Filmkritiker, die dem Beispiel ihrer französischen Kollegen von den »Cahiers du cinéma« (Truffaut, Godard, Chabrol et al.) folgten und Theorie gegen Praxis, das (Besser-?)Wissen gegen das (Besser-?)Machen tauschten. Blumenberg, der viele Jahren für den »Kölner Stadt-Anzeiger« geschrieben hatte, entwickelte sich nach dem Wechsel zur Wochenzeitung »Die Zeit« zu einem der einflußreichsten Kritiker der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. In seinem unideologischen, anschaulichen, immer leidenschaftlichen, selten verletzenden Texten (gesammelt in den lesenswerten Bänden »Kinozeit« und »Gegenschuß«) verband er die Wertschätzung von Autoren mit der Liebe fürs Genre; Aufgeblasenheit (ob produktionstechnisch oder menschlich) war ihm ein Graus, filmisches Partisanentum fand sein (stets wachsames) Wohlwollen. 1981 schrieb er (unter dem Titel »Im Tal der toten Augen«) über den bundesdeutschen Film: »Das Kino als magischer Ort der Wunsch- und Gegen-Welten, der Geheimnisse, des Staunens der undomestizierten Gefühle gerät allmählich in Vergessenheit.« Zwei Jahre später kündigte er seinen Redaktionsjob und begab sich als Drehbuchautor und Regisseur auf die Suche nach ebendiesem »magischen Ort« – und fand ihn in Hamburg.


1984 | »Tausend Augen«

Ein Film über Sehen und Gesehenwerden. Gabriele (cool: Barbara Rudnik), die tagsüber Meeresbiologie studiert, posiert des Nachts auf der Drehscheibe einer Hamburger Peep-Show, um Geld zu verdienen für das Flugticket nach Australien, wohin sie zurückkehren möchte, zu einem urwüchsigen Lover, in ein möglicherweise besseres Leben. Auch Arnold, der wortkarge Chef des Etablissements (silberblond: Armin Mueller-Stahl), denkt ans Aussteigen, will die anhängliche Geliebte (vom Schicksal gestreift: Karin Baal) ebenso hinter sich lassen, wie die riskanten Nebengeschäfte (Videopiraterie!) im Auftrag einer skrupellosen Hinterfrau (androgyn: Gudrun Landgrebe). Außerdem treten auf: ein liebeskranker Migrant und ein stummer Seidentuchkiller, eine sirenenhafte Videothekarin und ein weltkluger Taxifahrer (Peter Kraus als »Schirmer«), der die Protagonistin allabendlich zum erotischen Einsatz chauffiert. Blumenbergs Debüt – eine ironisch-lakonische Milieustudie mit phantastisch angehauchten Thrillerelementen, ein konsequent antipsychologisches Spiel mit kinematographischen Verweisen (auf Fritz Langs Verschwörungsgeflechte und Jacques Rivettes Großstadtlabyrinthe, aber auch auf die saftige Trivialität der Edgar-Wallace-Filme), eine (stellenweise allzu bemühte) Stilübung in artifiziellem Realismus – läßt sich weniger als packende Erzählung goutieren denn als kunstvolle Versuchsanordnung über die Wechselspiele von Distanz und Nähe, von Gefühl und Härte, vor allem aber als ein Film über Bilder und Blicke: über Bilder, die man sich macht, von sich selbst und von anderen, von der Wirklichkeit und von den Wünschen, über Blicke in die Vergangenheit und in die Zukunft, in eine unerreichbare Nähe und in die greifbare Ferne.

1985 | »Der Sommer des Samurai«

Ein Unbekannter in Schwarz treibt sein Wesen in Hamburg. Aus den Tresoren einflußreicher Männer werden brisante Dokumente entwendet, deren Veröffentlichung die Karrieren der Bestohlenen geradewegs zum Einsturz bringt. An den Tatorten, bald auch an anderen Stellen in der Stadt hinterläßt der geheimnisvolle Einbrecher japanische Schriftzeichen. Die Recherchen der Journalistin Christiane Land (angemüdet: Cornelia Froboess) führen einerseits zur Person des mysophobischen Immobilienhais Krall (durchgeknallt: Wojciech Pszoniak), mabusehafter Mittelpunkt einer Clique von kaltschnäuzigen Unternehmern, andererseits zu dem namhaften Finanzmakler Wilcke (stoisch: Hans Peter Hallwachs), der nicht nur Geld in jeder beliebigen Menge beschaffen kann (wenn er will), sondern auch in der Kunst des japanischen Bogenschießens exzelliert. Blumenberg verknüpft die legendäre Geschichte der 47 Ronin (herrenlose Samurai, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Tod ihres Gebieters rächten) mit den präsurrealistsichen Alltagsalpträumen eines Louis Feuillade (Nadja Tiller spielt eine mondäne Konsultantin gleichen Nachnamens), wirft parodistische Schlaglichter in gesellschaftliche Schattenreiche, genießt sorglos die Freuden der Kolportage, huldigt mit dem Eifer des kundigen Adepten seinen Vorbildern aus der Frühzeit des Kinos. So wird die Hansestadt zum Treffpunkt der Wiedergänger von Fantômas und Fandor, von Judex und Favraux. (Wieder mit von der verstiegenen Partie: Peter Kraus alias »Schirmer« – diesmal in der Rolle eines kenntnisreichen Barkeepers.) Am Ende entpuppt sich der gemeine Diebstahl eines ehrwürdigen Schwertes im Land der aufgehenden Sonne als Auslöser für das zunächst unbegreifliche Geschehen auf der anderen Seite der Erdkugel – künstlerische Imagination läßt Zeiten und Räume ineinanderfließen.

1987 | »Der Madonna-Mann«

Ein Flug wird wegen schlechten Wetters umgeleitet. Statt in Helsinki landet der australische Geologe Martin Graves (Marius Müller-Westernhagen) eines Abends in Hamburg. Wie die Zeit bis zur Weiterreise am nächsten Morgen verbringen? Graves besucht das Hansa-Theater, hat (scheinbar) Glück, als er die nicht abgeholte Karte für den letzten freien Platz erhält – und damit beginnt das Abenteuer. Die Verwechslung des Ankömmlings mit einem Auftragskiller, die zwielichtige Blondine (Renée Soutendijk), der kunstsinnige Schurke (Michael Lonsdale) – Blumenberg gibt sich nicht viel Mühe, sein großes Vorbild, Alfred Hitchcocks Meisterwerk »North by Northwest«, zu kaschieren. Die nächtliche Stationenhatz einer verfolgten Unschuld, die Begegnungen mit skurrilen oder gefährlichen Gestalten (spinnefeinde Zwillingsbrüder, bösartige Rosenverkäufer, ein Phantomzeichner, der im Bordell logiert) erinnern darüber hinaus an die Yuppie-in-distress-Farcen von Martin Scorsese (»After Hours«) und John Landis (»Into the Night«). Nebenbei huldigt der Regisseur, dem das freudvolle Arrangieren von Versatzstücken definitiv wichtiger ist als eine stringente Narration, in seinem dritten hanseatischen Thriller-Pastiche den alten Kämpen des bundesdeutschen Fünfziger-Jahre-Films: Ingrid van Bergen gibt eine taffe Taxifahrerin, Ingmar Zeisberg eine abgehalfterte Leinwandgöttin, Peter Kraus, neuerlich, einen gewissen »Schirmer«, der diesmal als Radiomoderator mit schmeichelnder Stimme das kuriose Geschehen flankiert, das sich nach den filmhistorisch hergeleiteten Widrigkeiten in erwartbares Wohlgefallen auflöst.

Weder beim Publikum noch bei der Kritik fand Hans-Christoph Blumenberg mit seinen drei leicht entrückten Genre-Eskapaden (allesamt produziert von Michael Bittins) größere Resonanz. In der Folge wandte er sich der Arbeit fürs Fernsehen zu, inszenierte Dokumentarspiele sowie zahlreiche Folgen der Sendereihen »Tatort« und »SOKO Wismar«; zwischendurch aber zauberte er immer wieder eigenwillige Low-Budget-Filme auf die Kinoleinwand, so etwa die gallig-amüsante Reinhold-Schünzel-Hommage »Beim nächsten Kuß knall ich ihn nieder«.

9. Januar 2021

In the French Style

Vier Hollywood-Filme von René Clair

Mit dem avantgardistischen »Entr’acte« erregte er 1924 Aufsehen, seine poetisch-stilisierten Pariser Alltagskomödien machten Clair in der Frühzeit des Tonfilms weltberühmt. (»A nous la liberté« gilt als Vorbild für Chaplins »Modern Times«.) Er arbeitete in England, die deutsche Besetzung Frankreichs trieb ihn ins Exil, Hollywood empfing den prominenten Flüchtling mit offenen Armen. In vier Spielfilmen konnte Clair seinen lebensvoll-illusionären Esprit auch dem amerikanischen Studiosystem unterjubeln. 

1941 | »The Flame of New Orleans« (»Die Abenteurerin«)

New Orleans, 1840. Ein luxuriöses Brautkleid treibt auf dem Mississippi. Wie kam es dorthin? Und was ist aus der Trägerin geworden? Hat sie wirklich kurz vor der Hochzeit Selbstmord begangen? Mit froufrouesker Ironie erzählt René Clair die Geschichte der angeblichen Gräfin Claire Ledoux, ihrer männerfängerischen Künste und gelegentlichen Ohnmachten. Dazu setzt er Marlene Dietrich, die hinreißende Darstellerin der Titelrolle, in schmeichelndes Licht, hüllt sie in prachtvolle Roben, garniert sie mit der nostalgischen Atmosphäre des amerikanischen Südens – das lasziv-erotische Image der Diva und liebgewordene Klischeebilder vom mythischen Dixie gleichermaßen in parodistischer Absicht genüßlich überzeichnend. Daß die schöne Glücksritterin, die sich einen fürnehm-gichtigen Bankier angeln will, schließlich die Fänge eines kernig-schmucken Seemanns gerät, erscheint als schlüssige (und in jeder Hinsicht befreiende) Pointe dieser augenzwinkernden Romanze.

1942 | »I Married a Witch« (»Meine Frau, die Hexe«)

»Ever hear of the decline and fall of the Roman Empire? That was our crowd.« Bestrickend (über)sinnliche und angenehm kurz(weilig)e screwball fantasy über eine sexy Hexe (Veronica Lake), die knapp 300 Jahre, nachdem sie und ihr dämonisch-versoffener Vater von dem linientreuen Neu-England-Puritaner Jonathan Wooley (Fredric March) auf den Scheiterhaufen geschickt wurden, aus dem Reich der (Un-)Toten ins irdische Leben zurückkehrt, wo sie Rache am Nachfahren des sittenstrengen Saubermanns, dem aufstrebenden Politiker Wallace Wooley (Fredric March), nehmen will. René Clair entfacht allerhand romantischen Budenzauber und nutzt die poetische Farce, um sich über moralische Scheinheiligkeit sowie die absurden Mechanismen der modernen Mediendemokratie lustig zu machen. (»I Married a Witch« erklärt ganz nebenbei, aber sehr plausibel, auf welch magische Weise in den Vereinigten Staaten (und wohl nicht nur dort) Wahlen gewonnen werden.) Wie es einer Komödie zukommt, finden sich zu guter Letzt Diesseits und Jenseits in kordialer Harmonie – denn: »Love is stronger than witchcraft.«

1944 | »It Happened Tomorrow« (»Es geschah morgen«)

Morgen ist heute gestern, die Gegenwart ist die Zukunft der Vergangenheit, oder, wie es der alte Pop Benson, das Redaktionsfaktotum der ›Evening News‹, philosophisch formuliert: »Time is only an illusion!« ... Einmal die Zeitung vom kommenden Tag in den Händen zu halten – das wünscht sich der (bislang ausschließlich mit Nekrologen befaßte) ambitionierte Nachwuchsjournalist Larry Stevens (Dick Powell). Wäre es nicht toll, einen verbürgt sensationellen Knüller vorab geliefert zu bekommen, oder mit hundertprozentiger Gewinngarantie auf die Sieger sämtlicher Pferderennen wetten zu können? Was aber, wenn einem in fetten Lettern das unmittelbar bevorstehende eigene Ableben annonciert würde? (»Mysterious Death of Promising Reporter!«) Unter tatkräftigem Beistand der hübschen Sylvia (Linda Darnell), die an der Seite ihres Onkels als Hellseherin im Varieté auftritt, unternimmt Larry mancherlei mehr oder weniger verzweifelte Versuche, dem angekündigten Tod von der Schippe zu springen ... Angesiedelt in der guten alten Zeit um die Jahrhundertwende, witzelt René Clairs phantastisch-romantische Komödie über die Fragwürdigkeit sogenannter Nachrichten und vermittelt anschaulich-amüsant, daß, wer seine Zukunft kennt, keine ruhige Minute mehr hat.

1945 | »And Then There Were None« (»Das letzte Wochenende«)

Zehn Personen suchen ihren Mörder: ein greiser General, eine alte Jungfer, ein alkoholischer Arzt, ein exilrussischer Schnorrer, eine schmucke Sekretärin, ein pensionierter Richter, ein undurchsichtiger junger Mann, ein nicht sonderlich heller Detektiv sowie ein zwieträchtiges Dienstbotenehepaar werden von einem gewissen U. N. Owen (der nicht ganz so unbekannt bleiben wird, wie es sein sprechendes Pseudonym vermuten läßt) auf eine abgelegen-sturmumtoste Insel geladen und dortselbst wegen ungesühnter Verbrechen zum Tode verurteilt. Nach dem Prinzip des bekannten Kinderreims (»Ten little Indian boys went out to dine ...«) sieht sich das buntgewürfelte Personal der Handlung peu à peu auf unterschiedliche Art und Weise dezimiert. Zwar paßt René Clairs elegante Formstrenge nicht schlecht zu Agatha Christies artifizieller Whodunit-Arithmetik, doch gibt sich (trotz einer illustren Besetzung) die kriminalistische Spannung bei dieser kühl arrangierten Gruppenarbeit zum Thema Recht und (Selbst-)Gerechtigkeit nur gelegentlich die Ehre – zumal der glimpfliche Schluß der Bühnenfassung das stringentere Ende der Romanvorlage ersetzt.