30. Dezember 2018

2018 2/2

Aktuelle Filme im zweiten Halbjahr

Juli


On Chesil Beach von Dominic Cooke (2017) : Liebe 1962 – Florence und Edward, sie ätherisch-verkrampft, er rustikal-empfindlich, stolpern in die Ehe hinein und nach einer katastrophal verlaufenden Hochzeitsnacht wieder hinaus. Die einigermaßen disparaten (und jeweils auf ihre Art problematischen) Biographien des jungen Paares werden in betulichen Rückblenden beleuchtet, bevor die Erzählung einer tränenzieherischen Pointe entgegenschlingert. Das engagierte Spiel der beiden Hauptdarsteller macht Cookes kieselknirschende Mc-Ewan-Adaption leider auch nicht flott.

Love, Cecil von Lisa Immordino Vreeland (2017) : Eine konventionelle Dokumentation über einen unkonventionellen Mann. Cecil Beaton war Fotograf, Zeichner, Autor, Kostüm- und Bühnenbildner – ein ruheloser Dandy, ein »terrible homosexualist«, ein unverbesserlicher Ästhet, der den Schrecken des 20. Jahrhunderts ein künstliches Paradies der Schönheit entgegenträumte (und -lebte). Vreeland erzählt die Biographie des Mulitalents zwischen Bright Young Things und Swinging London, zwischen Vogue und Blitz, zwischen Buckingham Palace und Hollywood gewissenhaft nach, ohne sich dessen Leitspruch »Be daring, be different, be impractical!« gestalterisch zu Herzen zu nehmen.

August

Thoroughbreds von Cory Finley (2017) : Ein lakonisch-böser, dabei erfreulich formbewußter Thriller über Indolenz und Berechnung, Nutzlosigkeit und Ehrgeiz. Mit seiner klinischen Studie der unheilvollen Beziehung zweier heranwachsender Frauen aus besseren Kreisen gibt Debütant Finley ein Beispiel für verzweifelt-coole Wohlstandsverwahrlosung, das auch gesellschaftskritischen Kapazitäten wie Lang, Chabrol oder Seidl durchaus zur filmischen Ehre gereichen würde.

September

Gundermann von Andreas Dresen (2018) : Wer sind »wir«? Was wollen »sie«? Und wo bleibe »ich«? Dresens Biographie eines singenden Schaufelradbaggerfahrers, eines schaufelradbaggerfahrenden Sängers stellt diese Fragen mit ungetrübtem Blick auf gesellschaftliche Realitäten (in diesem Fall die des real-existierenden Sozialismus) und ohne den Anschein zu erwecken, abschließende Antworten geben zu können. Gundermann: einfühlsamer Dichter und fusselhaariger Sonderling, querulantischer Idealist und larmoyanter Verräter – ein faszinierender Antiheld wie er (nicht nur im roten) Buche steht: »Wir wissen, daß alles was kommt, auch wieder geht. / Warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?«

Asphaltgorillas von Detlev Buck (2018) : Bucks Versuch, neonglänzende Cinéma-du-Look-Synthetik und brutalistisches Referenzkino à la Tarantino zu einem romantisch-burlesken Berliner Gangsta-Buddy-Noir-Märchen zu verschmelzen, scheitert nicht am Abfeiern von Storyklischees, Figurenstereotypen oder Gefühlssimulationen, sondern an grenzdebilen Dialogen, linkischen Drehbuchkonstruktionen und heillos überforderten Darstellern – einzig der grandiose Georg Friedrich läßt etwas von den besseren Möglichkeiten dieses fehlgeschlagenen Vorhabens ahnen.

Kulenkampffs Schuhe von Regina Schilling (2018) : »... und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.« Nachrede auf einen frühverstorbenen Vater (Jahrgang 1925) im Spiegel der bundesdeutschen Fernsehunterhaltung: Schilling setzt die TV-Legenden Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Alexander, Hans Rosenthal ins Verhältnis zu Schuld, Traumatisierung, Sprachlosigkeit unter besonderer Berücksichtigung der eigenen Familiengeschichte in Nationalsozialismus, Nachkrieg, Wirtschaftswunder – persönlich-mediale Erinnerungsarbeit als bewegendes historisches Lehrstück.

The Predator von Shane Black (2018) : Die Frage, ob das titelgebende extraterrestrische Wesen einfach nur seinen Mordspaß sucht (und massenhaft findet), oder ob das Töten in dessen beutegreifenden Natur begründet liegt, bleibt letztlich unbeantwortet. Der stahlharte Profi Black stellt hingegen keinen Zweifelsfall dar: ihm hat die einfältige Action-Metzelei – unter ungebremstem Einsatz von Massakerhumor, Pathosimitat und enthusiastisch stampfender Klingt-fast-wie-aus-den-Eighties-Mucke – erkennbar Vergnügen bereitet.

Searching von Aneesh Chaganty (2018) : Indem er für sein missing-person mystery die Kinoleinwand mit der Oberfläche eines Computermonitors kurzschließt, schützt Chaganty formale Originalität vor, wenngleich er über altbekannte POV-Strategien und Split-screen-Effekte selten hinauskommt. Auch für die (Ver-)Formung unseres Lebens durch digitale Medien interessiert sich der Ex-Google-Laborant nur als Erzählantrieb, wohingegen sein kühler Blick auf (beiderseits) gestörte Eltern-Kind-Verhältnisse einen beklemmenden Thrill auszulösen vermag.

Oktober

The Man Who Killed Don Quixote von Terry Gilliam (2018) : Das Schicksal hat mehrfach und deutlich mit dem Zaunpfahl gewinkt – Gilliam ist unbeirrt gegen die widrigen Umstände geritten, um einen montrösen filmischen Trümmerhaufen aus Spanien-, Russen- und Künstler-Klischees, aus Schmierentheater, Fundusstaub und dramaturgischen Dysfunktionen aufzuschütten: Lost in La Mancha II. Wer will, mag in dieser ungefügen Donquichotterie das surreal-dekonstruktivistische Spiel mit einem Mythos erkennen.

A Star Is Born von Bradley Cooper (2018) : Aufstieg und Fall, Euphorie und Tristesse, Liebe und Tod: »It’s the same story told over and over, forever.« Cooper erzählt die uralte Geschichte vom angezählten Star und vom emporkommenden Talent in seiner ersten Regiearbeit ohne Scheu vor sentimentaler Zuspitzung, mit (auch in visueller Hinsicht) hoher Musikalität und viel Spielraum für Lady Gagas charismatische Präsenz – ein Melodrama im besten Sinne des Wortes.

Todos lo saben von Asghar Farhadi (2018) : Anfangs gleicht der Film einem Werbeclip für Spanienurlaub – Fiestastimmung wie weiland in Villarriba und Villabajo –, doch das Unheil schwebt schon dräuend über den Köpfen: Ein Entführungsfall bringt die unterdrückten Konflikte in einer einstmals bemittelten Sippschaft ans Licht. Leider geht Farhadi nicht wirklich ans familiär Eingemachte, und auch der Grundidee seines rührstückhaften Thrillerplots (Stichwort: Wissen und Nichtwissen) mangelt es ganz erheblich an Plausibilität.

Place publique von Agnès Jaoui (2018) : Seit einem Vierteljahrhundert kultivieren Jaoui und Bacri eine spezifische Form von einfühlsamem Sarkasmus, um Hochgefühle und Weltschmerzen der genießenden Klasse differenziert abzuschildern. Auch die jüngste Zusammenarbeit des (Ex-Ehe-)Paares, eine figurenreiche Studie über Öffentlichkeit und Intimität im allgemeinen Medienzirkus, bietet Kultursoziologie von beneidenswerter Nonchalance.

November

Bohemian Rhapsody von Bryan Singer (2018) : Widersetzlichkeit und Erfolg, Ruhm und Dünkel, Absturz und Reue, Neugeburt und Verklärung – Singer gießt das Leben eines extravaganten Rockstars routiniert in tausendfach bewährte Biopic-Form; hätte er die Tiefen des Dramas abgründiger gestaltet, wären ihm Freddie Mercurys Höhenflüge vielleicht schillernder geraten.

In My Room von Ulrich Köhler (2018) : Ohne erkennbare ironische Brechung schraubt Köhler das große »Letzter-Mann-auf Erden«-Drama zur weitschweifigen Befindlichkeitsstudie (inklusive gelebtem Jungstraum von selbstgebastelter Autarkie) herunter. Sein Protagonist sieht sich nicht mit Zombies oder Aliens konfrontiert sondern mit Pferden, Ziegen, Hunden sowie der letzten Frau auf Erden nebst den dazugehörigen Problemen – wobei es dem Langweiler gelingt, auch in außergewöhnlichen Umständen ein Langweiler zu bleiben.

Loro von Paolo Sorrentino (2018) : Aus der Erkenntnis, daß die von Berlusconi und Konsorten geschaffene Bunga-Bunga-Welt im Grunde unerklärlich ist, zieht Sorrentino die einzig mögliche Konsequenz: er beschränkt sich auf reine Phänomenologie. Die hochgestylte Leere seines Werks entspricht der nihilistischen Vergnügungswut des (von Toni Servillo mit hermetischer Grandezza verkörperten) Cavaliere – die hierzulande gezeigte, um eine knappe Stunde gekürzte, internationale Fassung des Films wirkt allerdings lückenhaft und unausgewogen.

Zimna wojna von Paweł Pawlikowski (2018) : Melodramatisches Epochenbild und komplizierte Liebesgeschichte zwischen Anziehung und Abstoßung, Kunst und Politik, Ost und West: ein Pianist und eine Sängerin bald aufgehoben, bald verloren in den Klängen der europäischen Nachkriegszeit. Pawlikowski komponiert aus Volksliedern und Propagandakantaten, aus Jazz und Chansons, aus Filmmusik und Schlagern eine frostig-bewegende (und bestechend fotografierte) Sinfonie der Emotionen.

Suspiria von Luca Guadagnino (2018) : Guadagnino zelebriert den wohl abge­drehtesten Berlin-Horror seit Zulawskis »Possession«: eine Phantasmagorie von Teilung, Terror und Tanz, eine unheimlich deutsche Mischung aus überschnappen­dem Mutterkult, zuckendem Volkskörper und rituellem Bluterguß, einen frauen­gepowerten Siebzigerjahrealptraum, der spleenige Diven wie Caven, Soutendijk und Winkler zum orgiastischen Hexensabbat versammelt.

Dezember

Widows von Steve McQueen (2018) : Thematisch-atmosphärisch-irgendwie-auch-sozialkritische Verquickung von Thriller und Melodram, Verbrechen und Politik, Trauer und Wut, Ghetto und Luxus – Spannungseffekte eines Heistmovies bleiben dabei weitgehend auf der Strecke. Zudem müssen McQueens taffe Heldinnen die Rollen ihrer toten Kerle fortspielen, womit nolens volens die Ansicht des von Robert Duvall verkörperten Seniorschurken bestätigt wird, daß am bösen Lauf der Welt eh nicht zu rütteln sei.

Under the Silver Lake von David Robert Mitchell (2018) : »Rub Dean’s head and wait under Newton.« Ein Film wie die Verfolgung eines Kojoten kreuz und quer durch Los Angeles: Mitchells bizarres Pop’n’Paranoia-Pasticcio erkundet, in der Tradition labyrinthischer Verschwörungsphantasien wie Pynchons »The Crying of Lot 49«, Roszaks »Flicker« oder Clowes’ »Like a Velvet Glove Cast in Iron«, Unter- Neben- und Überwelten, deren Geheimnisse, wie die der sogenannten Wirklichkeit, letzten Endes unergründlich bleiben. PS: »Keep quiet.«

Plaire, aimer et courir vite von Christophe Honoré (2018) : »One is the loneliest number that you’ll ever do.« Das Jahr 1993: Sie gefallen sich, sie verlieben sich, sie müssen sich beeilen – Jacques, Ende 30, Schriftsteller aus Paris, und Arthur, um die 20, Student aus Rennes, einer, der (an AIDS) sterben wird, und einer, der das Leben vor sich hat. Honoré, ein Meister des kitschfreien Gefühlskinos, erzählt, fröhlich, traurig, taktvoll, offenherzig, von erster und von letzter Liebe, von Aufbruch und Abschied, von Freude und Schmerz, vom Jetzt, das sich – allen Widrigkeiten zum Trotz – zwischen ein verlorenes Gestern und ein ungewisses Morgen schiebt.