31. Dezember 2015

Eine Frage der Identität (2)

Kino | »Carol« von Todd Haynes (2015)

Winter 1952/53: Dwight D. Eisenhower ist gerade zum US-Präsidenten gewählt worden, als die wohlhabende Carol Aird (Cate Blancett), (noch) verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter, in der Spielwarenabteilung eines New Yorker Warenhauses der jungen Verkäuferin (und angehenden Fotografin) Therese Belivet (Rooney Mara) begegnet. Schon der erste Blickwechsel zwischen den beiden Frauen verrät die starke gegenseitige Anziehung … Wie sein offenkundiges Vorbild Douglas Sirk erzählt Todd Haynes (nach einem Roman von Patricia Highsmith) über die Liebe in den Zeiten des gesellschaftlichen Konformismus – doch wo Sirk seine seifenoperigen Melodramen emotional extrem aufputschte und gestalterisch radikal überhöhte (wodurch er ihnen eine paradoxe Wahrhaftigkeit verlieh), taucht Haynes das Geschehen in eine elegische, fast somnambule Stimmung. Blanchetts Spiel ist von frostiger Gesuchtheit, die Kamera (inspiriert möglicherweise von den Straßenfotos des Künstlers Saul Leiter) blickt immer wieder durch beschlagene, nasse, spiegelnde Scheiben, die gezeigte Welt und alle in dieser Welt herrschenden Gefühle wirken wie mit Rauhreif überzogen. Der ebenso schmerzliche wie befreiende Prozeß einer doppelten Identitätsfindung wird mit größter Distanziertheit betrachtet, wobei Haynes den dekorativen Oberflächen des beengenden Konservativismus der Ära fortwährend gefällige Schauwerte abgewinnt. »Entweder man heult, oder man kotzt«, schrieb Frieda Grafe einst über die Filme von Sirk. »Carol« ist weit davon entfernt, so heftige Reaktionen zu provozieren: Entweder man seufzt, oder man gähnt.

Eine Frage der Identität (1)

Kino | »Mr. Holmes« von Bill Condon (2015)

Nach dem Ersten Weltkrieg gibt Sherlock Holmes seinen Beruf sowie die angestammte Wohnung in der Londoner Baker Street auf, um aufs Land zu übersiedeln und sich fürderhin der Bienenzucht zu widmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nun schon jenseits der 90, fragt sich der ehemalige Meisterdetektiv (Ian McKellen), warum er eigentlich Jahre zuvor das alte Leben hinter sich gelassen hat. Im zähen Kampf mit seiner nachlassenden Erinnerungskraft sucht der Greis, sich den letzten Fall seiner Karriere zu vergegenwärtigen, einen Fall, dessen retrospektive Lösung generellen Aufschluß über eine widersprüchliche Existenz in weltumspannendem Ruhm und totaler Einsamkeit zu geben verspricht. Bill Condon überführt die legendäre literarische Kunstfigur in eine Merchant/Ivory-hafte filmische Pseudowirklichkeit, in der (erzählerisch einigermaßen umständlich, aber handwerklich ungemein gediegen) klargelegt wird, daß ein überragender Intellekt so wenig glücklich macht wie ein großes geldliches Vermögen, daß auch im kontrolliertesten Kopfmenschen die Sehnsucht nach wärmender Mitmenschlichkeit schlummert, daß eine gütige Fiktion den ehrlichen Fakten mitunter vorzuziehen ist.

21. Dezember 2015

Entdeckungen im Müllkeller

Es ist eigentlich nicht meine Angewohnheit, im Müll zu wühlen; aber wenn in der Papiertonne etwas Interessantes obenauf liegt, dann grabe ich schon mal tiefer. In den letzten Wochen habe ich auf diese Weise ein paar bemerkenswerte Sachen gefunden, denn eine Nachbarin, Kritikerin und Filmemacherin, mistet offensichtlich ihr Bücherregal aus. Ich bin jetzt zum Beispiel im Besitz eines Kataloges der 29. Filmfestspiele von Venedig. Im Jahr 1968 hat meine Nachbarin (ihr Name prangt in großer zackiger Schrift auf der ersten Seite) zu Filmen, die sie dort gesehen hat, mit buchhalterischer Akribie Pressematerialien und Zeitungskritiken (vornehmlich aus »Die Zeit«, »Die Welt« und »FAZ«) auf die jeweiligen Seiten geklebt. Die vergilbten Ausschnitte sind übersät mit akkuraten Bunt- und Filzstiftanstreichungen in rot, blau, gelb, lila, schwarz. Manche Sätze sind sogar zweifach in verschiedenen Farben unterstrichen. Gelegentlich kommentierte meine Nachbarin die konservativen Kritikerurteile: »sehr unklar«, »doof« oder »die Jeremias hat Mutterkomplex«. Den Aufenthalt am Lido im Jahr der Revolte hat meine Nachbarin sehr ernstgenommen – das merkt, spürt, fühlt man dem Buch an. Warum sie dieses höchstpersönliche Dokument einfach so weggeworfen hat, bleibt ihr Geheimnis ... Ich habe Kataloge der Oberhausener Kurzfilmtage gefunden, Hefte der New Yorker Avantgarde-Zeitschrift »Film Culture« (darunter ein sehr seltenes über das Filmschaffen von Andy Warhol), eine reich bebilderte Veröffentlichung über die tschechoslowakische Filmproduktion der Jahre 1966/67, und ich habe acht Ausgaben der kurzlebigen, mir bisher völlig unbekannten Zeitschrift »Filme – Neues und altes vom Kino« aus der Tonne gezogen. Das Magazin erschien von 1980 bis 1982 in Berlin; herausgegeben wurde es unter anderem von dem Filmhistoriker Norbert Grob (»Fritz Lang«) und dem Drehbuchautor Jochen Brunow (»System ohne Schatten«). Ich bin so begeistert von den Heften – die neben Kritiken zu (damals) aktuellen Filmen und einfühlsamen Nachrufen jeweils ein Schwerpunktthema präsentieren (zum Beispiel amerikanische B-Pictures, die »Bildproduktion im Dritten Reich«, bundesdeutsche Schlagerfilme, »Die Arbeit der Kamera«) –, daß ich mir mittlerweile zwei fehlende Ausgaben bei Booklooker bestellt habe. Neben, über, unter »Filme« lagen auch ganze Jahrgänge von »epd Film« im Müll. Ich habe nur ein Heft von 1989 mitgenommen, das einen Artikel über den Regisseur Ottomar Domnick (»Jonas«) enthält. Am nächsten Tag wollte ich auch den Rest holen. Leider ist mir die Stadtreinigung zuvorgekommen. Die Tonnen waren leer. Platz für Neues. Ich gehe jetzt jeden Tag in den Müllkeller.

19. Dezember 2015

Infinite Quest

Die Indiana-Jones-Filme

1981 | »Raiders of the Lost Ark«

»Don't look at it, no matter what happens!« Dr. Henry ›Indiana/Indy‹ Jones entspricht nicht unbe­dingt dem landläufigen Bild eines Archäologen, auch seine wissenschaftlichen Methoden sind eher unorthodox als traditionell: Wo seine Kollegen mit Kelle und Pinsel hantieren, schwingt Indy lieber die Peitsche. Der ausgesprochen präsent wirkende amerikanische Altertumsforscher erscheint als überlebensgroßes Abziehbild des rastlosen Abenteurers, als Kreuzung aus gelehrtem Haudrauf und unbeugsamer Gentleman, als kinogewordener Jungentraum von Weltenbummel und Nervenkitzel, Sexappeal und Durchschlagskraft. Harrison Ford bringt sowohl die physische Präsenz als auch die notwendige Lässigkeit mit, um der unwiderstehlichen Figur überzeugend (ein ziemlich ereignisreiches) Leinwandleben einzuhauchen. Indiana Jones’ filmischer Wirkungskreis sind die 1930er Jahre, das Jahrzehnt, dem die unmittelbaren Vorbilder der Schöpfung von Produzent George Lucas, Regisseur Steven Spielberg und Drehbuchautor Lawrence Kasdan entstammen: die furchtlos-romantischen Helden der serial movies und der pulp magazines. Es ist eine Welt der idealistischen Entdeckerfreude und des offenherzigen Chauvinismus, eine bei aller historischen Bewegtheit rührend unschuldige Welt, in die allerdings kommendes Unheil seine braunen Schatten vorauswirft: Nach einem Prolog in Südamerika gerät Indy an fiese Nazi-Schurken (umstandslos dem Hollywooder Stereotypen-Panoptikum entliehen), die sich zur Realisierung ihrer arisch-irren Welteroberungspläne (ausgerechnet!) eines eminenten israelitischen Kultgegenstandes bemächtigen wollen. Daß Indiana Jones und sein love interest Marion Ravenwood (burschikos: Karen Allen) die Bundeslade, den Aufbewahrungsort der von Gott an Moses übergebenen Gesetzestafeln, nicht in die Hände der deutschen Erzhalunken und ihres öligen französischen Komplizen fallen lassen, versteht sich von selbst – denn: »An army which carries the Ark before it ... is invincible.« Gekonnt verbindet Spielberg Mythos und Klischee zu einem geradlinig-atemlos erzählten, gestalterisch üppig aufgebauschten B-Film voller Ironie und Dramatik.

1984 | »Indiana Jones and the Temple of Doom«

»Oh my God! Oh my God, is he nuts?« Es beginnt höchst programmatisch mit einer chinesischen Cover-Version des Cole-Porter-Songs »Anything Goes«, wobei sich die Bühne eines zweitklassigen Schanghaier Amüsierschuppens in eine überdimensionale Broadway-Show verwandelt. Von dieser kreativen Prämisse ausgehend, lösen sich Steven Spielberg und seine Autoren Willard Huyck & Gloria Katz elegant von Naturgesetzen und narratorischen Sinnfragen, um einen reißenden Strom ungebremster filmischer Energie zu entfesseln, der die Figur des Indiana Jones mit ein paar heiligen Steinen, den Gefahren eines unterirdischen Tempellabyrinths und den blutrünstigen Mitgliedern einer indischen Todessekte konfrontiert. Der Rettungssprung mit einem Schlauchboot aus einem abschmierenden Flugzeug stellt in diesem Universum kein wirkliches Problem dar, ein Bergwerk wird unversehens zur Achterbahn, und die Kavallerie kommt, wenn man sie braucht. Ein konsequenter Plot? Warum? Ein plausibles Thema? Wozu? Wir haben einen Helden mit Peitsche! Wir haben eine kreischende Blondine! (Kim Cattrall als Tingeltangel-Diseuse Willie Scott) Wir haben ein autofahrendes Kind! (Ke Huy Quan als Waisenknabe Short Round) Wir haben riesige Käfer! Wir haben Menschenopfer! Wir haben Affenhirn auf Eis! Orientierte sich »Raiders« noch einigermaßen brav am linearen Erzählverlauf klassischer Abenteuergeschichten, bricht mit »Indiana Jones and the Temple of Doom« endgültig die Ära der postmodernen kinematographischen Wundertüten an: Zitate-Slalom, Action-Kaskaden, Genre-Flickwerk. Kino nicht mehr als planvolles Spinnen von Ereignisfäden sondern als Böllerwerfen nach dem Lustprinzip. Zing! Boom! Whack! Blam! »Wow! Holy Smoke!«

1989 | »Indiana Jones and the Last Crusade«

»Dad!« – »What?« Der dritte Beitrag zur Reihe greift einerseits auf bewährte Ingredienzen des ersten Teils zurück – ein hochberühmter mythologischer Gegenstand als Jagdobjekt, abgefeimte Nazis und einer ihrer gewissenlosen Büttel als Kontrahenten –, andererseits erzeugt Steven Spielberg durch die Einführung von Professor Henry Jones, Sr. (patriarchal: Sean Connery) in das abenteuerliche Geschehen eine in diesem Zusammenhang neuartige Form zwischenmenschlicher Dynamik und damit eine gewisse psychologische Vertiefung der Hauptfigur. So ist die Suche nach dem Gral, die Indiana Jones im Jahre 1938 unter anderem nach Venedig (»Ah, Venice!«) und in das hakenkreuzgeschmückte Berlin führt, zugleich eine (turbulente) Expedition zum Born des ewigen Lebens und ein (unbeirrter) Kampf gegen das absolut Böse wie auch die (amüsante) Darstellung einer heiklen Vater-Sohn-Beziehung. Indy: »Archaeology is the search for fact ... not truth.« – Dad: »You call THIS archaeology?« Natürlich mündet die intergenerationelle Entfremdung in familiäres Einverständnis, denn bei aller Verschiedenheit der Temperamente teilen Jones, Sr. (»Actually, I was a wonderful father.«) und Jones, Jr. (»Don’t call me Junior!«) nicht nur das folgenreiche Interesse für dieselbe blonde Frau fatal (Alison Doody als Dr. Elsa Schneider) und die inbrünstige Leidenschaft für ihrer beider Metier sondern auch (und vor allem) ein Gespür für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. (»Indiana ... let it go.«)

2008 | »Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull«

»We will change you from the inside. We will turn you into us. And the best part? You won't even know it's happening.« 1957: America the Beautiful sonnt sich im goldenen Dämmerlicht der Eisenhower-Ära; aber hinter beschaulichen Suburbia-Fassaden lebt die Nation in panischer Angst vor (roter) Subversion; Atombomben explodieren testweise in den Wüste und versprechen doch längst keine Sicherheit mehr vor dem scheinbar allgegenwärtigen Feind. Fast zwanzig Jahre nach seinem letzten heroischen Einsatz kehrt ein legendärer Abenteurer – mit Hut, Peitsche und ein paar Falten mehr im wohlbe­kannten Gesicht – zurück in eine grundlegend veränderte, in eine zutiefst verunsicherte Welt. In ihrer unerschrockenen (vielleicht etwas zu digital geratenen) Wiederbelebung des Indiana-Jones-Mythos verdichten Steven Spielberg und Drehbuchautor David Koepp die populären (Film-)Themen der 1950er Jahre – youth culture (»The Wild One«), red scare (»Invasion USA«), nuclear warfare (»Duck and Cover«), mind control (»Toward the Unknown«), extraterrestrial intelligence (»It Came from Outer Space«) – zu einer fantastischen Hatz bis an die Quellen der Erkenntnis, und koppeln dabei einmal mehr auf unterhaltsam-elegante Weise metaphysische Spekulation mit reiner filmischer Dynamik. Dazu bietet »Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull« eine Variante des im vorangegangen Teil entwickelten Vater-Sohn-Konflikts (mit Shia LaBeouf als juvenil-schmalztollem Brando/Dean-Verschnitt Henry III), ein fabelhaftes kommunistisches Scheusal (Cate Blanchett als pagenköpfiges Stalin-Flittchen Irina Stalko) und die Wiederbegegnung mit einer (nur äußerlich) gereiften, guten alten Bekannten (Karen Allen als Marion ›We never seem to get a break, do we?‹ Ravenwood) … »Thinking about the Unthinkable« lautet der Titel eines Bestsellers der Epoche – konsequent wie wenige andere Regisseure macht sich Spielberg diese Devise immer wieder spielerisch zu eigen.

6. Dezember 2015

Last Man Standing

Kino | »Bridge of Spies« von Steven Spielberg (2015)

»Was macht uns zu Amerikanern?« fragt Jim Donovan, der aufrechte Anwalt aus Brooklyn, seinen winkelzügigen Gesprächspartner von der Agency. (Und es klingt, als meinte er: Was macht uns zu Menschen?) Es ist, sagt Donovan, die gemeinsame Verpflichtung auf das »rulebook«, auf die Verfassung. Donovan glaubt an die Verbindlichkeit des Regelwerks, und auch Steven Spielberg glaubt daran, sonst hätte er »Bridge of Spies« wohl nicht gemacht, nicht machen können. Natürlich wirkt diese Gesinnung, über ein halbes Jahrhundert nach den Ereignis­sen, von denen das Drama  handelt, nach etlichen Brüchen der Verfassung durch eben jene, die geschworen hatten, sie zu wahren, zu schützen und zu verteidigen, einigermaßen rührend – aber auch berührend. Donovans Mission, die inoffizielle Verhandlung über den Austausch eines sowjetischen Atomspions (dem er selbst als Pflichtverteidiger ein halbwegs faires Verfahren verschaffte) gegen den bei Swerdlowsk abgeschossenen CIA-Piloten Gary Powers, führt im Winter 1961/62 in das geteilte Berlin, die Haupt- und Frontstadt des Kalten Krieges. Temperatur und politisches Klima sind auf dem Gefrierpunkt, die Zeit wird beherrscht von Feindschaft, Polemik und Angst. Spielberg setzt dagegen Verständnis, Gesprächsbereitschaft und Zuversicht eines Einzelnen, der mit seinen Mitteln zwar nicht den Weltkonflikt löst, aber immerhin eines der vielen brisanten Einzelprobleme, aus denen der große Schlamassel besteht. Bei aller Ernsthaftigkeit der erzählerischen Anlage kommen Spannungselemente nicht zu kurz – da kann (und will) der Moralist Spielberg den Entertainer nicht verleugnen. (Manchmal übertreibt er die Dramatik ein wenig, etwa wenn Donovan aus der S-Bahn die Erschießung von Flüchtlingen an der Berliner Mauer beobachtet, und dieses Erlebnis später im Film sülzig variiert wird.) Tom Hanks (als dauerverschnupfter US-Unterhändler) und Mark Rylance (brillant als stoischer KGB-Kundschafter Rudolf ›Would it help?‹ Abel) bringen darüber hinaus eine gehörige Portion Ironie in den souverän inszenierten Film ein. Nach all den historischen Lehrstunden, die Spielberg seinem Publikum über die Jahre erteilt hat, wäre es freilich einmal interessant zu sehen, wie das ethische Empfinden des Regisseurs auf die prekären Fragen der Gegenwart reagierte.