31. Dezember 2019

Es, wir und die anderen

Die Spielfilme von Ulrich Schamoni

Am 9. November 2019 wäre der Berliner Regisseur und Medienunternehmer Ulrich Schamoni (1939-1998) 80 Jahre alt geworden. Der Berliner Zeughauskino zeigte aus diesem Anlaß in den vergangenen Wochen unter dem Titel »
Biotop der Frechheit« eine umfangreiche Retrospektive seines filmischen Schaffens.

1966 | »Es«


Es: das Kind, das sie (Sabine Sinjen) nicht will, weil sie glaubt, daß er (Bruno Dietrich) es nicht will. Es: das ungestüme Bauwesen, das auch das noch zerstört, was der Bombenkrieg verschonte. Es: das Westberlin kurz nach dem Mauerbau – Stadt der Brachflächen und Brandmauern, der Schnellstraßen und Friedhöfe, der Witwen und Abschreibungsritter, der modischen jungen Paare und der alten Tanten aus dem Osten. Schamonis dynamisches Debüt offeriert weniger tieflotende Analyse denn feuilletonistische Momentaufnahmen, weniger Soziologie einer abgewrackten Metropole denn Kaleidoskop eines weltläufigen Provinzkaffs; als intuitiv-impulsiver Sammler von Augenblicken und Tonfällen, als rasender Reporter der privaten, beruflichen, gesellschaftlichen Beziehungen stellt der Autor die Lockerheit des Entwurfs über die Präzision der Ausführung. So entsteht, stickpunktartig, notizenhaft, elliptisch, das anschauliche Stimmungsbild eines Ortes zwischen Aufbruch und Erstarrung, einer Ära zwischen Ungezwungenheit und Sprachlosigkeit. »Es«: eine Zeitkapsel.

1967 | »Alle Jahre wieder«


»Entweder regnets hier, oder die Glocken läuten, oder es wird mal wieder ne Kneipe eröffnet.« ›Hier‹, das ist Münster, wohin alljährlich zu Weihnachten Hannes Lücke (Hans Dieter Schwarze) zurückkehrt, der schon seit Jahren als erfolgreicher Werbetexter in Frankfurt lebt, um mit Frau Lore (Ulla Jacobsson) und Kindern die Feiertage zu verbringen – und um sich im Kreise alter Saufkumpane einen (oder zwei oder drei) hinter die Binde zu gießen. Erstmals kommt Hannes nicht allein, sondern in Begleitung seiner jungen Freundin Inge (Sabine Sinjen); ihre hellhörig-kritische Außenseiterperspektive auf Sitten und Bräuche der westfälischen Kapitale machen sich auch die Erzähler zu eigen, die gleichwohl über eine intime Kennerschaft des geschilderten Milieus verfügen: Schamoni (Regie) und Michael Lentz (Buch) wuchsen in Münster auf, sind der Stadt und ihren Bewohnern in zärtlich-bissiger Haßliebe verbunden. »Alle Jahre wieder« beschreibt, in scheinbar beiläufigen Beobachtungen, eine Gesellschaft, deren moralische Normen und überkommene Etiketteregeln nur mehr als historische Fassade aufrecht erhalten werden; zugleich zeichnet der Film das süffisant-trostlose Bild einer arrivierten und doch verlorenen (Männer-)Generation.

1968 | »Quartett im Bett«


»Berlin ist immer eine Reise wert. Börlin olwaiß iß wörß ä träwel.« 1968: Während sich in den Straßen Westberlins wildgewordene Studenten (»Radikalinskis«) und tschakobehelmte Polizisten (»Bullenschweine«) rabiate Scharmützel liefern, läßt der spätbourgeoise Kino-Bohèmien Schamoni, eher indifferent gegenüber den semirevolutionären Zeitläuften, einen gänzlich unpolitschen, dafür hochgradig albernen culture clash der vierten Art abrollen: ›Insterburg & Co‹ (»Auf einem Himmelbett der Zeisig / er hat ein Mädchen bei sich.«) gegen ›Jacob Sisters‹ (»Klatsch, Klatsch, Schenkelchen / Opa wünscht sich Enkelchen!«) – gehobener Berliner Brettl-Blödsinn (zumeist vorgetragen auf selbstgebastelten Instrumenten) gegen zappelige sächsische Schlager-Munterkeit (begleitet von wohlfrisierten weißen Pudeln). In der Art einer aufgekratzten musikalischen Nummernrevue, nicht unbeeinflußt von Richard Lesters Running-Jumping-&-Standing-Still-Ästhetik, führt »Quartett im Bett« durch ungeheizte Schafzimmer und elegante Hotelsuiten, über ruinöse Hinterhöfe und klapprige Studiobühnen, durch Kneipen und Fernsehateliers, zum Kurfürstendamm und an die Mauer. Ein hektisch-fröhliches Stimmungsbild ohne Ziel und Plan, aber mit einem gerüttelt Maß an zeitgeschichtlichem Mutter- und Vaterwitz.

1970 | »Wir – zwei«


»Warum denn nicht?« Seit der Schulzeit haben sie sich nicht mehr gesehen, nach zehn Jahren treffen sie sich wieder: Andreas (Christoph Bantzer), nunmehr Doktorand der Mathematik mit Gelegenheitsfreundin, und Hella (Sabine Sinjen), inzwischen Gattin eines wohlhabenden Herrn Meier und Mutter einer dreijährigen Tochter. Damals mochten sie sich sehr, ohne einander ihre Gefühle zu offenbaren, jetzt versuchen sie herauszufinden, wie es (gewesen) wäre, wenn ... Er sieht sie eines Tages zufällig in der Stadt und fährt ihr nach – bis zum Friedhof. Der Ort der Wiederbegegnung hat, wie sich erweisen wird, symbolischen Charakter: eine tote Liebe läßt sich nicht reanimieren. Schamoni folgt dem Paar, das nie eines war und letztendlich keines wird, durch ein – von Michael Ballhaus leckerschmeckerisch fotografiertes – zunächst spätsommerliches, dann septembermildes, schließlich herbstgraues (West-)Berlin: Gartenpartys und Tanzvergnügen, Rummelbesuche und Bootsfahrten. Der verspätete Liebesversuch hinterläßt bei den Beteiligten weder Trauer noch Enttäuschung, allenfalls einen bittersüßen Nachgeschmack von halbherziger Vergeblichkeit.

1971 | »Eins«


Eine zwanglose Gesellschaftskomödie, ein boulevardeskes Roadmovie: Autorenfilmer und Hauptdarsteller Schamoni verkörpert einen wohlgenährten Nachwuchskapitalisten, dessen Betriebsmittel das vom Großvater ererbte todsichere Roulette-System darstellt. Unterwegs in Südfrankreich, läßt der Geldsack drei Herumtreiber (in hinlänglich gutsitzende Smokings gesteckt) gegen überschaubare Entlohnung an den Casinotischen für sich spielen, während er selbst, am Strand oder im Bett, mit seiner (stets leichtbekleideten) Freundin die Früchte des Mehrwerts genießt. Die launige Etüde über Abhängigkeitsverhältnisse und Interessengegensätze gipfelt – nach wiederholten Zwistigkeiten zwischen den Sozialpartnern – in einer unverblümten Selbstdiagnose des Chefs: »Ich bin dreißig Jahre, Mensch, ich fühl mich sauwohl. Ich weiß gar nicht, warum ich mich ändern soll. Mein Leben lebe ich, und ich will mein Leben leben und nichts anderes. Das ist das Problem.« Es bleibt die Frage, ob es sein Problem ist oder das der anderen.

1974 | »Chapeau Claque«


Nichtstun als schöne Kunst betrachtet: Schamoni erzählt (wiederum mit sich selbst in der Hauptrolle) vom (weitgehend ereignislosen) Leben eines Pleitiers, der sich mit dem, was er aus dem Konkurs des traditionsreichen Berliner Familenunternehmens (Produktion von Zylinderhüten) retten konnte, in seine kleine Grunewald-Villa zurückgezogen hat und dem genüßlich-asozialen Müßiggang frönt. Der Privatier vertrödelt die Zeit mit einem (meist unbekleideten) jungen Mädchen, kultiviert seine Sammelleidenschaft (Emailschilder, Reklamebilder, Porzellanhasen aller Provenienz) und schlurft ansonsten – alte Kaufmannsweisheiten zitierend (»Wer gute Nächte sucht, verliert gute Tage.« oder: »Manchmal muß man spielen, wie es die Geige will.« oder, auch schön: »Reiche Leute haben fette Katzen.«) – in abgetragenen Frottee-Bademänteln durch diesen nostalgischer Abgesang auf die kultur- und wohlstandsbürgerliche Welt. In Nebenrollen glänzen die wunderbare Anna Henkel (nackt und verschmollt), Wolfgang Neuss (»Denken heißt machen!«) sowie Karl Dall als gestreßter Jung-Unternehmer (!). Eine gänzlich undeutsche Perle voll verkrachtem Esprit, angeschmuddelter Lässigkeit, schlampiger Eleganz.

1980 | »Das Traumhaus«


Zum dritten (und letzten) Mal nutzt Schamoni das eigene Haus (Furtwänglerstraße 19 in Berlin-Grunewald) als Bühne eines kleinen kinematographischen Welttheaters: vier junge Leute (drei Mädchen, ein Junge) verwirklichen in einem verwunschenen Anwesen den Traum vom alternativen Leben jenseits des allgemeinen Rattenrennens. Doch das Idyll ist bedroht – die eiskalte Baulöwin Sybille Schacht-Blessmann (Judy Winter) plant den Abriß des irdischen Paradieses zugunsten einer modern-beliebigen Eigenheimsiedlung. Beistand erhält die weltferne Wohngemeinschaft in Gestalt des Ingenieurs Conrad Kolberg (Horst Frank), der die Villa Kunterbunt vor der Zerstörung bewahrt, indem er sie mit technokratischer Radikalität zum ökologischen Musterbau umgestaltet. Im Ergebnis bleibt eine zeitgerechte Hülle bestehen, indes der unverwechselbare Geist des Ortes ausgetrieben ist. Mit ironischer Wehmut veranschaulicht Schamoni (nach einem zivilisationskritischen (wiewohl recht umständlichen) Drehbuch von Wolfgang Menge) den unauflöslichen Widerspruch von Utopie und Realität.