Kino | »Oh Boy« von Jan-Ole Gerster (2012)
24 Stunden aus dem Leben eines modernen Taugenichts. Niko Fischer treibt durch Berlin, Begegnungen und Orte reihen sich episodisch aneinander: das Schlafzimmer eines Mädchens, ein weinerlicher Nachbar, der Psychologe beim Idiotentest, ein eitler Schauspieler in Naziuniform auf dem Set, der Vater auf dem Golfplatz, Fahrkartenkontrolleure in der U-Bahn, ein Dealer und seine feenhafte Oma im Plattenbau, eine ehemalige Mitschülerin im Off-Theater, provokative Aggro-Kids, eine nächtliche Kneipenbekanntschaft, ein Krankenhausflur und, immer wieder, Nikos unmöblierte Wohnung mit Blick auf die vorbeiratternde Hochbahn. Durch die lakonisch-intensive Darstellung Tom Schillings erhält der stets höflich-beherrschte junge Tagedieb eine Kontur, die er in Wirklichkeit nicht hat: Niko hat kein Geld, keinen Plan, keine Idee von sich selbst, kein Feuer für die eigene Zigarette, nur ein paar Kartons mit altem Plunder. Das einzige, was er will, ist eine Tasse Kaffee, und die zu bekommen, erweist sich als beinahe unmöglich … Die Erzählung macht sich die Ziellosigkeit des Protagonisten mit Gewinn zu eigen; weil alles wie nebenbei geschieht, weil die Ereignisse des Tages so zufällig, austauschbar, folgenlos erscheinen, atmet »Oh Boy« eine schwebende, melancholische Freiheit. Aus dem Kontrast zwischen der Beliebigkeit des Geschehens und seiner präzisen Inszenierung entwickelt sich der eigentümliche Reiz des Werks: Autor und Regisseur Jan-Ole Gerster fügt spielerischen Situationswitz und satirische Forcierung von Alltagsbeobachtungen zum tragikomisch-feinfühligen Portrait eines desorientierten Menschen, der schmerzlich erkennen muß, daß er selbst, nicht die anderen, die Ursache seines Problems ist – die Welt ist kein romantisches Versprechen, sondern der Platz, wo niemand auf einen wartet. Die zweite Hauptrolle des Films spielt Berlin: Wie Niko stets in unsteter Bewegung, fotografiert in elegantem Schwarzweiß (Kamera: Philipp Kirsamer), wirkt die Stadt gleichermaßen gegenwärtig und zeitlos, unverwüstlich und flüchtig, wie ein ewiges Bild ihrer selbst, das schon im Moment der Ablichtung zerfällt.
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