Buch | »Good Bye, Fassbinder! – Der deutsche Kinofilm seit 1990« von Pierre Gras (2011/2014)
Die erste Geschichte des deutschen Films seit der Wiedervereinigung wurde von einem Franzosen vorgelegt: Pierre Gras, laut Verlagsangabe langjähriger Mitarbeiter der Cinématèque française und Dozent für Filmökonomie an der Sorbonne, hat eine Revision der künstlerischen und ökonomischen Entwicklung des gesamtdeutschen Kinos unternommen. Ausdrücklich verzichtet Gras auf den Anspruch der Totalität, er konzentriert sich (nicht ganz konsequent) auf jene Kreativen, die nach 1990 die Szene betraten – kein Wort also über neuere Filme von Wenders oder Schlöndorff, Dörrie oder Thome. Gras’ Präferenzen sind klar verteilt. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen die »Kräfte der ästhetischen Erneuerung«, also Filmschaffende, die sich aufgrund ihres Strebens nach eigenständigen Ausdrucksformen in die Tradition des Autorenfilms einordnen lassen: allen voran die »Berliner Schule«, in Frankreich als »Nouvelle vague allemande« bezeichnet (zwei Etikettierungen, die Gras kritisch hinterfragt) mit ihren Protagonisten Petzold, Schanelec, Hochhäusler, außerdem Romuald Karmakar, dem als einzigem Regisseur ein eigenes Kapitel gewidmet ist, schließlich mit Harun Farocki und Alexander Kluge zwei Angehörige älterer Generationen, die im Gegenwartskino zwar keine Rolle spielen, aber als künstlerische Einflußgrößen detaillierte Betrachtung finden. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der von ihm herausgestellten Filmemacher faßt Gras unter dem Oberbegriff »denaturalisierter Realismus« zusammen. Die Ambitionen von Individualisten wie Akin, Schmid, Dresen sowie das »Abenteuer X-Filme« (der Versuch von Tykwer, Becker, Levy, persönliche Sichtweisen und Publikumswirksamkeit zu vereinen) erfahren eine eher skeptische Würdigung, das »kommerzielle Kino« (hier finden sich Namen wie Eichinger, Wortmann, Buck, Roehler, Schweiger) wird summarisch und mitunter ausgesprochen naserümpfend abgehandelt. Gras’ Fokussierung auf den Kinofilm (der gleichwohl ohne Fernsehbeteiligung nicht denkbar wäre) sorgt dafür, daß Dominik Graf, zweifellos einer der wichtigsten deutschen Regisseure der letzen Jahrzehnte, zur unmaßgeblichen Randfigur schrumpft. Dafür räumt Gras dem Dokumentarfilm breiten Raum ein – auch Veteranen wie Volker Koepp oder Peter Nestler, deren Karrieren lange vor 1990 begannen, dürfen sich eingehender Erörterungen erfreuen. Auffallend ist Gras’ Fähigkeit, die Arbeit der von ihm vorgestellten Regisseure, ihre ästhetischen und intellektuellen Konzepte sowie ihre spezifischen Qualitäten oder Defizite, plastisch zu veranschaulichen. Immer wieder richtet sich das Augenmerk erfreulicherweise auch auf die Gewerke Kamera, Schnitt und Ton, deren Bedeutung für das künstlerische Endergebnis hervorgehoben wird. »Good Bye, Fassbinder!« ist ein gut lesbarer, wohlinformierter, faktenreicher, aktueller (aber leider unbebilderter) Überblick über die deutsche Filmlandschaft der letzten 25 Jahre; angesichts der Konzentration des Textes auf die Vorreiter des zeitgenössischen Autorenfilms wäre der Untertitel »Tendenzen des deutschen Kinofilms seit 1990« allerdings treffender.
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