26. August 2022

Standbild (21)

Loft

Innen. Fabriketage. Tag. Von links, durch ein hohes, aus dünnen Metallprofilen gefertigtes Sprossenfenster, fällt kaltes Tageslicht in einen weiten, fast unmöblierten Raum mit glatt verputzter Decke, Wänden aus weiß gestrichenem Mauerwerk und unbehandeltem Dielenboden. An der mittleren Wand, auf die jemand mit schwarzer Farbe den Slogan »Fuck art!! Let’s dance« gesprüht hat, lehnen ein zusammengeklappter Biergartenstuhl und ein Besen, daneben stehen ein weißer Pappkarton, eine prall gefüllte Tüte sowie ein weiterer Klappstuhl, auf den ein zusammengeknülltes Kleidungsstück geworfen wurde. Auf der rechten Seite des Raumes, dem Fenster gegenüber, liegt, auf einem drei mal drei Meter großen Stück hellgrauen Teppichbodens, eine mit einem weißen Laken bezogene Matratze. Linksseits dieser improvisierten Schlafstelle befinden sich ein silbernes Kofferradio und, in die Zimmerecke gelehnt, ein Paar hölzerne Krücken, rechts davon eine Vase mit gelben Tulpen, eine leere Sektflasche, eine Thermoskanne, ein Zeitschriftenstapel, außerdem ein weißes Spülbecken, auf dessen Rand eine Dose mit Rasierschaum steht. Neben dem Ausguß hängt ein rosafarbenes Handtuch, darunter stehen ein Blecheimer und eine leere Waschschüssel. Auf der Matratze lagert, an zwei Kissen gegen die Wand gelehnt, teilweise von einer grauen Wolldecke umhüllt, ein ungefähr zwanzigjähriger blonder Mann. Er ist unbekleidet, wobei sein Oberkörper und sein rechtes Bein von dicken Verbänden umwickelt sind. Ein blaues Auge, aufgeschlagene Lippen sowie Heftpflaster an Hals und Stirn zeugen zudem von den schweren Gesichtsverletzungen, die er letzthin erlitten hat. Ein rotes, in seinem Schoß plaziertes Plastiktablett ist mit den Resten eines Frühstücks beladen: einem leeren Wasserglas, einem Eierbecher mit ausgelöffelter Schale, einem Marmeladenglas und zwei unbedruckten Papiertüten, die vermutlich Gebäck enthielten. Mit der rechten Hand führt der junge Mann eine weiße Tasse zum Mund, aus der er vorsichtig trinkt. Neben ihm kniet eine etwa gleichaltrige Frau in einem locker geschnittenen, taubenblauen Overall mit hochgekrempelten Ärmeln. Sie trägt schwarze Pumps, ihr glänzendes, dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, seitlich gescheitelt und über den Ohren mit zwei Spangen locker gebündelt, fällt offen bis auf ihre Hüften herab. An der Wand hinter dem Paar prangt eine Reihe von, mit Kreide oder Filzstift aufgebrachten, Schriften: »Freiheit für Grönland – nieder mit dem Packeis«, »Aber subito!«, »Corinna was here«, »Voburka for ever«, »Heute letzter Tag«, sowie »Baby, Baby meine Nerven sind heiß – und du so kalt wie Eis«, letztere eingefaßt von einem roten Herz, das ein Pfeil durchbohrt. Die Frau küßt den Mann, ihren langjährigen Freund, einen Kleinkriminellen, der kürzlich aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und sich nun nicht nur vor der Polizei verstecken muß, sondern auch vor seinen früheren Komplizen, die bereits einen Versuch unternommen haben ihn umzubringen, zärtlich auf die Wange, während sein Blick auf die Mattscheibe des Fernsehapparates gerichtet ist, der, vis-à-vis der Bettstatt, auf der Sitzfläche eines dritten Klappstuhls steht. Er verfolgt einen Bericht über den geheimen Drahtzieher seiner gesetzeswidrigen Aktivitäten, einen gut betuchten Geschäftmann, der im übrigen auch der Liebhaber der neben ihm knienden jungen Frau ist. In Kürze wird der junge Mann, zutiefst gedemütigt und um jede Zukunftshoffnung gebracht, an seinen Widersachern selbstmörderische Vergeltung üben.

4 Kommentare:

  1. Schön, dass diese Serie fortgesetzt wird! Den Film mit der Reichswasserleiche habe ich erkannt, aber den hier nicht. Gibst Du einen Tipp?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Nach einiger Zeit überkam mich mal wieder die Lust; die nächsten drei »Standbilder« sind auch schon in Arbeit ... :) Und hier der gewünschte Tip: Der Titel des Films ist in einem der Wandsprüche versteckt; den Oberschurken spielt ein kürzlich verstorbener Berliner Playboy.

      Löschen
    2. Aha, KALT WIE EIS. Den hab ich nie gesehen, aber als Frühwerk von Carl Schenkel schon davon gehört. Scheint ein typisches Produkt seiner Entstehungszeit zu sein, vielleicht ein bisschen wie NEONSTADT?

      Und "Deutschlands letzter Playboy" ist jetzt also auch gestorben, einen Tag vor Petersen. Falls es Dich interessiert, hier kann man dessen interessantes Frühwerk ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ansehen (auf "7 Bilder, 1 Video" klicken). Hab ich zufällig neulich entdeckt.

      Löschen
    3. »Neonstadt« habe ich noch nicht gesehen. »Kalt wie Eis« ist tatsächlich ein echtes Kind seiner Zeit und ein sehr schöner Berlin-Film (in der Rubrik »Kino aus der Zwischenzeit« habe ich mal etwas über das Werk geschrieben ...)

      Vielen Dank für den Hinweis auf Petersens Erstling! Im DFFB-Archiv habe ich hin und wieder schon gestöbert, aber darauf bin ich noch nicht gestoßen ...

      Löschen