TV | »Lawinen der Erinnerung« von Dominik Graf (2012)
Rein »filmisch« gesehen, scheint das alles zunächst einmal nicht so toll: Interviews mit einem alten Mann, diverse Fernsehausschnitte, ein paar Reenactments, erklärende Inserts, ein Off-Kommentar. Andererseits ist der konsequente Verzicht auf eine vordergründig originelle Umsetzung des Themas bestechend, ja geradezu sexy. Es geht um einen großen Erzähler, der sich mit Lust und Qual erinnert, immer wieder erinnert, der eintaucht in seine Jugend im »Dritten Reich«, der besessen zurückschaut auf das Ende des Krieges, auf die Zeit des Neubeginns, auf einen Aufbruch, der ins Altbekannte münden wird, der immer wieder jene prägenden Jahre Revue passieren läßt, die den Generalbaß der (bundes-)deutschen Nachkriegsgeschichte bilden. Ab und zu zeichnet der Erzähler, skizziert Topographien, um seine Erinnerungen zu veranschaulichen, um sie konkret zu verorten: Wo die Fahrräder vor dem Schwimmbad abgestellt wurden; wo die Umkleidekabinen der Frauen waren; wo die Luftwaffenhelferin im roten Badeanzug entlangging; wo die Jungs aus der Clique ihre Arme auf den Beckenrand stützten, um jede Bewegung des begehrten Mädchens zu verfolgen. Oliver Storz, der alte Mann, der erzählt, der sich erinnert, hat Fernsehen gemacht in Deutschland. Er hat zu einer Zeit damit begonnen, als es noch keine Quote gab, keine Marktforschung, keine »Events«. Es war eine Zeit, als noch nicht clevere Zyniker einen angeblichen Bedarf abdeckten, sondern kluge Menschen versuchten, neue Formen für ein neues Medium zu finden, etwa indem sie Theater und Film zu etwas Drittem verschmolzen. (Kurze Passagen aus frühen Fernsehspielen wie »Jeanne oder die Lerche« (nach Jean Anouilh) oder »Unsere kleine Stadt« (nach Thornton Wilder) lassen Lars von Triers szenische Ideen für »Dogville« ganz plötzlich aussehen wie einen ziemlich alten Hut.) Dominik Graf verbindet die Erinnerungen des Erzählers mit dessen Schaffen (das eine beeindruckende Spannweite von Sci-Fi-»Kult« à la »Raumpatrouille« bis hin zu psychologischen Historienbildern wie »Im Schatten der Macht« umfaßt), sucht und findet Parallelen zwischen Erlebtem und Erdachtem, interpretiert, kommentiert. Man könnte kritisieren, daß Graf sich aufdrängt mit seinen schweifenden Reflexionen, daß er das Vater-Sohn-Thema der eigenen Biographie einer anderen überstülpt, man kann aber auch fasziniert bemerken, erkennen, erspüren, wie er sich eingroovt in den Sound einer vergangenen Ära, wie er sich einläßt auf die Gedanken- und Erfahrungswelt des alten Erzählers, der aus seiner Lebensgeschichte, die ein Unterkapitel von Weltgeschichte war (nein: ist), ein originäres Werk schöpfte. »Lawinen der Erinnerung«, Dominik Grafs (eben doch sehr filmische) Annährung an Oliver Storz, ist bestes Fernsehen: persönlich und intensiv, unzeitgemäß und vielleicht gerade darum richtungsweisend.
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